MorrieMorrie Ausschnitte =>aus dem Buch „Dienstags bei Morrie“ von Mitch Albom MitchMitch Albom

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Professor Morrie Schwartz hatte ALS (amyotrophische Lateralsklerose), eine brutale, unbarmherzige Krankheit des Nervensystems.
1994 dignostiziert, gestorben vermutlich 1996, da dieses Buch 1997 in den USA erschien.

Das Klassenzimmer

Die Sonne schien durchs Eßzimmerfenster herein und ließ den Hartholzfußboden hell aufleuchten. Wir hatten dort fast zwei Stunden lang miteinander geredet. Das Telefon klingelte schon wieder  und Morrie bat seine Hilfskraft, Connie, es abzunehmen. Sie hatte die Namen der Anrufer in Morries kleinen schwarzen Terminkalender eingetragen. Freunde. Meditationslehrer. Eine Diskussionsgruppe. Jemand, der ihn für eine Zeitschrift fotografieren wollte. Es war klar, daß ich nicht der einzige war, der Interesse daran hatte, meinen alten Professor zu besuchen.  Sein Auftreten in der »Nightline«-Show hatte ihn zu so etwas wie einer Berühmtheit gemacht. Aber ich war beeindruckt, vielleicht auch ein bißchen neidisch auf all die Freunde, die Morrie zu haben schien. Ich dachte an die »Kumpels«, mit denen ich damals am College herumgezogen war. Wo waren sie geblieben?

»Weißt du, Mitch, jetzt, da ich sterbe, bin ich für die Leute sehr viel interessanter geworden.«

»Du warst immer interessant.«
(S.44)
»Tatsächlich?« Morrie lächelte. »Du bist nett.«

Nein, bin ich nicht, dachte ich.

»Die Sache ist die«, sagte er. »Die Leute betrachten mich als eine Brücke. Ich bin nicht mehr so lebendig, wie ich früher immer war, aber ich bin noch nicht tot. Ich bin irgendwie... dazwischen.«

Er hustete, gewann dann aber wieder sein Lächeln zurück. »Ich bin hier auf der letzten großen Reise  und die Leute möchten, daß ich ihnen sage, was man dafür einpacken soll.«

Das Telefon klingelte wieder.

»Morrie, kannst du reden?« fragte Connie.

»Ich habe gerade Besuch von meinem alten Freund«, erklärte er. »Sie sollen später noch mal anrufen.«

Ich kann Ihnen nicht sagen, warum er mich mit so viel Herzlichkeit aufnahm. Ich hatte nur noch sehr wenig von dem vielversprechenden Studenten, der sich vor sechzehn Jahren von ihm verabschiedet hatte. Hätte ich nicht zufällig die »Nightline«-Sendung gesehen, wäre Morrie möglicherweise gestorben, ohne mich jemals wiedergesehen zu haben. Ich hatte dafür keine gute Ausrede, außer derjenigen, die jeder in diesen Tagen zu haben schien. Ich hatte mich von dem Sirenengesang meines eigenen Lebens allzusehr betören lassen. Ich war ständig beschäftigt.

Was war mit mir passiert? fragte ich mich. Morries hohe, rauchige Stimme holte mich zurück in meine Jahre an der Universität, als ich dachte, daß reiche Leute böse wären, daß ein Hemd und ein Schlips Gefängniskleidung seien. Als ich der Meinung war, daß ein Leben ohne die Freiheit, aufzustehen und fortzugehen  unter dir das Motorrad, im Gesicht die kühle Brise, vor dir die Straßen von Paris oder die Berge von Tibet  in keiner Hinsicht ein gutes Leben sei. Was war mit mir passiert?

Die achtziger Jahre waren passiert. Und die Neunziger, Tod und Krankheit, dick werden und kahl werden,  all das war passiert. Ich hatte viele Träume für einen höheren Gehaltsscheck eingetauscht, und ich war mir dessen nicht einmal bewußt gewesen.

Und plötzlich saß Morrie vor mir und redete mit der Begeisterung unserer Collegejahre, als hätte ich bloß ein paar Jahre Urlaub gemacht.

»Hast du denn jemanden fürs Herz gefunden?« fragte er »Tust du was für deine Gemeinde?«

»Bist du mit dir selbst im Frieden?«

»Versuchst du, so menschlich zu sein, wie es dir möglich ist?«

Ich wand mich hin und her, wollte ihm beweisen, daß ich mich mit solchen Fragen intensiv befaßt hatte. Was war mit mir passiert? Ich hatte mir einst geschworen, daß ich niemals für Geld arbeiten würde, daß ich mich dem Peace Corps anschließen und an schönen, inspirierenden Orten leben würde.

Statt dessen war ich jetzt seit zehn Jahren in Detroit, immer am selben Arbeitsplatz, immer bei derselben Bank, beim selben Friseur. Ich war siebenunddreißig, tüchtiger als damals im College, gefesselt an Computer; Modems und Handys. Ich schrieb Artikel über reiche Sportler; denen Menschen wie ich gleichgültig waren. Ich war in den Augen meiner Umgebung nicht länger ein junger Mann, und ich lief auch nicht mehr in grauen Sweatshirts und mit einer angezündeten Zigarette im Mund herum. Ich diskutierte nicht mehr über den Sinn des Lebens, während ich Eiersalatsandwich mampfte.

Meine Tage waren ausgefüllt, und dennoch fühlte ich mich die meiste Zeit unzufrieden.

Was war mit mir passiert?

»Coach«, sagte ich plötzlich, mich an die alte Anrede erinnernd.

Morrie strahlte. »Ja, genau. Das bin ich. Ich bin immer noch dein Coach.«

Er lachte und begann wieder zu essen, eine Mahlzeit, mit der er vor vierzig Minuten begonnen hatte. Ich sah ihm jetzt aufmerksam zu; seine Hände bewegten sich vorsichtig, als sei er dabei zu lernen, wie man sie benutzte. Er schaffte es nicht, ein Messer fest herunterzudrücken. Seine Finger zitterten. Jeder Bissen war ein Kampf; er kaute das Essen sehr sorgfältig, bevor er es schluckte, und manchmal rutschte es ihm an den Mundwinkeln wieder heraus, sodaß er das, was er in der Hand hielt, wieder zurücklegen mußte, um sein Gesicht mit der Serviette abzutupfen. Die Haut von seinen Handgelenken bis zu seinen Fingerknöcheln war mit Altersflecken besprenkelt, und sie war schlaff, wie Haut, die von einem Hühnerknochen in der Suppe herunterhängt.

Eine Weile lang saßen wir nur da und aßen, ein kranker alter Mann, ein gesunder junger Mann, die beide die Stille des Raumes in sich aufnahmen. Ich würde sagen, es war ein verlegenes Schweigen, aber ich schien der einzige zu sein, der verlegen war.

»Sterben«, sagte Morrie plötzlich, »ist nur eine Sache, die Anlaß gibt, traurig zu sein, Mitch. Unglücklich zu leben ist eine andere. So viele Menschen, die mich besuchen kommen sind unglücklich.«

»Warum?«

»Nun, zum einen ist die Kultur, in der wir leben, nicht dafür geeignet, daß sich die Menschen mit sich selbst wohl fühlen. Wir lehren die falschen Dinge. Und man muß stark genug sein, um zu sagen: Wenn die Kultur nicht funktioniert, dann paß dich ihr nicht an. Schaff dir deine eigene. Die meisten Menschen können das nicht. Sie sind unglücklicher als ich  selbst in meiner augenblicklichen Verfassung. Mag sein, daß ich sterbe, aber ich bin umgeben von liebevollen, fürsorglichen Menschen. Wie viele Leute können das von sich behaupten?«

Ich war erstaunt, daß er keinerlei Selbstmitleid empfand. Morrie, der nicht mehr tanzen, schwimmen, baden oder laufen konnte, Morrie, der niemandem mehr einladend die Tür öffnen konnte, der sich nach einer Dusche nicht mehr selbst abtrocknen und sich noch nicht einmal in seinem Bett umdrehen konnte Wie war es möglich, daß er die Dinge so gelassen hinnahm? Ich beobachtete ihn, wie er mit seiner Gabel kämpfte, sie in einen Tomatenschnitz zu stechen versuchte, wobei er ihn die ersten beiden Male verfehlte,  eine mitleiderregende Szene, und dennoch konnte ich nicht leugnen, daß eine fast magische Heiterkeit und Gelassenheit von ihm ausging, dieselbe beruhigende Ausstrahlung, die mir schon damals im College so wohl getan hatte.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr,  die Macht der Gewohnheit; es wurde allmählich spät, und ich dachte daran, die Flugreservierung zu ändern. Dann tat Morrie etwas, das ich bis heute nicht vergessen habe.

»Du weißt, wie ich sterben werde?« sagte er

Ich hob die Augenbrauen.

»Ich werde ersticken. Ja. Meine Lunge kann wegen meines Asthmas nicht mit der Krankheit fertig werden. Die Krankheit kriecht langsam meinen Körper hinauf. Sehr bald wird sie sich auch meiner Arme und meiner Hände bemächtigen. Und wenn sie meine Lunge erreicht...«

Er zuckte die Schultern.

»...dann gehe ich unter.«

Ich hatte keine Vorstellung, was ich sagen sollte. Ich stotterte: »Tja, du weißt, ich meine... man kann nie wissen.«

Morrie schloß die Augen. »Ich weiß, Mitch. Du brauchst keine Angst vor meinem Sterben zu haben. Ich hatte ein gutes Leben, und wir alle wissen, daß es passieren wird. Ich habe vielleicht noch vier oder fünf Monate.«
»Ach was«, entgegnete ich nervös. »Niemand kann sagen...«

»Ich kann«, sagte er leise. »Es gibt sogar einen kleinen Test. Ein Arzt hat ihn mir gezeigt.«

»Ein Test?«

»Atme ein paarmal ein.«

Ich tat, was er gesagt hatte.

»Und jetzt noch einmal, aber diesmal zählst du, wenn du ausatmest, so weit du kannst, bevor du wieder einatmest.«

Ich atmete rasch aus und zählte dabei. »Eins, zwei, drei, vier fünf, sechs, sieben, acht... « Ich kam bis siebzig, bevor ich völlig außer Atem war.

»Gut«, sagte Morrie. »Du hast eine gesunde Lunge. Jetzt beobachte mal, was ich mache.«

Er atmete ein und begann dann, mit leiser; schwankender Stimme zu zählen. »Eins, zwei, drei, vier; fünf; sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn... «

Er hielt inne, schnappte nach Luft.

»Als der Arzt mich das erstemal bat das zu tun, konnte ich bis dreiundzwanzig zählen. Jetzt nur noch bis achtzehn.«

Er schloß die Augen, schüttelte den Kopf. »Mein Tank ist fast leer.«

Ich trommelte nervös auf meine Oberschenkel. Das reichte für einen Nachmittag.

»Komm mal wieder vorbei, um deinen alten Professor zu besuchen«, sagte Morrie, als ich ihn zum Abschied umarmte.

Ich versprach ihm, daß ich es tun würde, und versuchte nicht an das letzte mal zu denken, als ich ihm dies versprochen hatte.

...

Ich erinnerte mich an das, was Morrie sagte, als ich ihn besuchte: »Die Kultur, in der wir leben, ist nicht dafür geeignet, daß die Menschen sich mit sich selbst wohlfühlen. Und man muß standhaft genug sein, um zu sagen: Wenn die Kultur nicht funktioniert, dann paß dich ihr nicht an. Schaff dir deine eigene.«

...

Mir fiel etwas ein, das Morrie mir gesagt hatte: »So viele Menschen laufen herum, die ein sinnloses Leben führen. Sie scheinen ständig im Halbschlaf zu sein, selbst dann, wenn sie damit beschäftigt sind, Dinge zu tun, die sie für wichtig halten. Das liegt daran, daß sie den falschen Dingen hinterherjagen. Der Weg, dein Leben sinnvoll zu gestalten, besteht darin, dich liebevollen Mitmenschen zu widmen und der Gemeinschaft um dich herum, und dich darauf zu konzentrieren, etwas zu schaffen, was dir eine Richtung und eine Bedeutung gibt.«

...

»Entsinnst du dich wie ich Ted Koppel erzählte, daß mir sehr bald irgend jemand den Hintern abwischen müßte?« sagte er.

Ich lachte. Einen solchen Augenblick vergißt man nicht.

»Tja, ich glaube, der Tag steht nahe bevor. Das macht mir ganz schön zu schaffen.«

»Warum?«

»Weil es das endgültige Anzeichen für Abhängigkeit ist. (S.63) Jemand, der dir den Hintern abwischt. Aber ich arbeite daran. Ich versuche, es zu genießen.«

»Zu genießen?«

»Ja. Schließlich werde ich noch einmal ein Baby.«

»Das ist eine außergewöhnliche Art, die Sache zu betrachten. «

»Tja, ich muß jetzt das Leben auf außergewöhnliche Art betrachten. Machen wir uns da nichts vor ich kann nicht ein kaufen gehen. Ich kann mich nicht um meine Bankgeschäfte kümmern, ich kann den Müll nicht raustragen. Aber ich kann hier sitzen, während meine Zeit immer mehr zur Neige gebt, und mir das anschauen, von dem ich denke, daß es in einem Leben wichtig ist. Ich habe viele Stunden  und einen guten Grund , das zu tun.«

»Also«, sagte ich mit einem Zynismus, der zu einer Art Reflex geworden war; »findet man den Schlüssel zum Sinn des Lebens vermutlich dann, wenn man aufhört, den Müll rauszutragen?«

Er lachte, und ich war erleichtert darüber.

Als Connie die Teller abräumte, bemerkte ich einen Stapel Zeitungen, die offensichtlich vor meiner Ankunft gelesen worden waren.

»Du verfolgst noch die Nachrichten?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Morrie. »Findest du das seltsam? Glaubst du, da ich sterbe, sollte ich mich nicht darum kümmern, was auf dieser Welt passiert?«
»Vielleicht.«

Er seufzte. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich mich tatsächlich nicht darum kümmern. Schließlich werde ich nicht mehr dasein, um zu sehen, wie sich alles entwickelt. Aber es ist schwer zu erklären, Mitch. Jetzt, da ich leide, fühle ich mich den Menschen, die leiden, näher als je zuvor. Neulich sah ich im Fernsehen Menschen in Bosnien, die über die Straße rannten, auf die geschossen wurde, die getötet wurden, unschuldige Opfer. Und ich begann einfach zu weinen. Ich fühle ihren Schmerz, als wäre es mein eigener. Ich kenne keinen dieser Menschen. Aber  wie soll ich das ausdrücken?  Ich fühle mich fast  zu ihnen hingezogen.«

Seine Augen wurden feucht, und ich versuchte, das Thema zu wechseln, aber er tupfte sich das Gesicht ab und winkte ab.

»Ich weine jetzt ständig«, sagte er »Mach dir nichts draus. «

Erstaunlich, dachte ich. Ich arbeitete in der Nachrichtenbranche. Ich schrieb Stories, in denen Menschen starben. Ich interviewte trauernde Familienmitglieder. Ich besuchte sogar die Beerdigungen. Ich weinte niemals. Morrie weinte, weil Menschen litten, die eine halbe Erdkugel entfernt waren. Ist es das, was am Ende kommt? fragte ich mich. Vielleicht ist der Tod der große Gleichmacher; die eine große Sache, die schließlich sogar Fremde dazu bringen kann, eine Träne füreinander zu vergießen.
Morrie schneuzte sich laut. »Ist das okay für dich? Männer, die weinen?«

»Sicher«, sagte ich.

Er grinste. »Ah, Mitch, ich werd' dich schon noch weich kriegen. Eines Tages werde ich dir beweisen, daß es okay ist zu weinen.«

»Ja, ja«, sagte ich.

Wir lachten, weil er fast zwanzig Jahre früher bereits dasselbe gesagt hatte. Meistens an den Dienstagen. Tatsächlich waren die Dienstage immer unser gemeinsamer Tag gewesen. Die meisten meiner Kurse bei Morrie fanden am Dienstag statt, er hatte seine Sprechstunden am Dienstag, und als ich meine Abschlußarbeit schrieb,  die von Anfang an weitgehend auf Morries Anregungen basierte , waren es die Dienstage, an denen wir zusammensaßen, an seinem Schreibtisch oder in der Cafeteria, um darüber zu diskutieren.

Also erschien es nur passend, daß wir uns auch jetzt wieder an einem Dienstag trafen, hier; in dem Haus mit dem japanischen Ahorn im Vorgarten. Bevor ich mich verabschiedete, erwähnte ich dies gegenüber Morrie.

»Wir sind Dienstagsleute«, sagte er.

»Dienstagsleute«, wiederholte ich.

Morrie lächelte.

»Mitch, du hast mich gefragt, wieso mir Menschen am Herzen liegen, die ich noch nicht einmal kenne. Aber soll ich dir mal sagen, was das Wichtigste ist, das ich aus dieser Krankheit lerne?«
»Und das wäre?«

»Das Wichtigste im Leben ist zu lernen, wie man Liebe gibt und wie man sie in sich selbst hereinläßt.«

Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Laß sie rein. Wir denken, wir verdienten keine Liebe, wir denken, wenn wir sie reinließen, würden wir allzu weich und rührselig. Aber ein weiser Mann namens Levine hat mal genau das Richtige dazu gesagt. Er sagte: >Liebe ist der einzige rationale Akt!<«

Ich nickte wie ein gehorsamer Schüler, und er atmete schwach aus. Ich beugte mich zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen. Und dann küßte ich ihn, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist, auf die Wange. Ich fühlte seine geschwächten Hände auf meinen Armen, fühlte, wie die dünnen Stoppeln seines Schnauzbartes mein Gesicht streiften.

»Also  kommst du nächsten Dienstag wieder?« flüsterte er.

...

»Jeder weiß, daß er sterben muß«, sagte er noch einmal, »aber niemand glaubt es. Wenn wir es täten, dann würden wir  die Dinge anders machen.«
»Also machen wir uns, was den Tod angeht, etwas vor«, sagte ich.

»Ja. Aber es gibt eine bessere Herangehensweise. Zu wissen, daß du sterben mußt, und jederzeit darauf vorbereitet zu sein. Das ist besser.  Auf die Weise kannst du tatsächlich intensiver leben, während du lebst.«

»Wie kann man jemals darauf vorbereitet sein zu sterben?« (S.98)

»Tu das, was die Buddhisten tun. Stell dir vor, daß jeden Tag ein kleiner Vogel auf deiner Schulter sitzt, der dich fragt:
>Ist heute der Tag? Bin ich bereit? Tue ich alles, was ich tun sollte? Bin ich der Mensch, der ich sein möchte?<«

Er drehte seinen Kopf zu seiner Schulter; als säße der kleine Vogel tatsächlich dort.

»Ist heute der Tag, an dem ich sterbe?« sagte er.

Morrie verwendete die Weisheiten aller Religionen. Er wurde als Jude geboren, wurde aber als Teenager zum Agnostiker; zum Teil wegen all des Unglücks, das ihm als Kind widerfahren war. Er übernahm einige der philosophischen Lehren des Buddhismus und des Christentums, aber er fühlte sich kulturell noch immer im Judentum zu Hause. Er war sozusagen ein religiöser Straßenköter; was ihn gegenüber den Studenten, die er im Laufe der Jahre unterrichtete, noch offener und toleranter machte. Und die Dinge, die er in seinen letzten Monaten auf der Erde sagte, schienen alle religiösen Unterschiede zu überschreiten. Offenbar ist das eine Einstellung, die der bevorstehende Tod mit sich bringt.

»Die Wahrheit ist«, erklärte er, »wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.«

Ich nickte.

»Ich wiederhol' es noch einmal«, sagte er »Wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.« Er lächelte, und mir wurde klar, was er tat. Er sorgte dafür, daß ich diesen Punkt wirklich verstand, ohne mich in Verlegenheit zu bringen, indem er nachfragte. Dies war einer der Aspekte, die ihn zu einem guten Lehrer machten.
»Hast du viel über den Tod nachgedacht, bevor du krank wurdest?« fragte ich.

»Nein«, sagte Morrie lächelnd. »Ich war wie alle anderen. Einmal sagte ich in einem Moment der überschwenglichen Freude zu einem Freund: >Ich werde der gesündeste alte Mann sein, dem du je begegnet bist!<«
»Wie alt warst du?«
»Über sechzig.«
»Also warst du optimistisch.«

»Warum nicht? Wie ich schon sagte: Niemand glaubt wirklich, daß er sterben wird.«

»Aber jeder kennt jemanden, der gestorben ist«, sagte ich. »Warum ist es so schwer, über das Sterben nachzudenken?«

»Weil«, fuhr Morrie fort, »die meisten von uns wie Schlafwandler durch die Gegend laufen. Wir kosten das Leben nicht voll aus, weil wir ständig im Halbschlaf sind und Dinge tun, von denen wir glauben, wir müßten sie tun.«

»Und all das verändert sich durch die Konfrontation mit dem Tod?«

»Oh ja. Du streifst all das unnütze Zeug ab und konzentrierst dich auf das Wesentliche. Wenn du erkennst, daß du sterben wirst, dann siehst du alles mit ganz anderen Augen.«

Er seufzte. »Lerne, wie man stirbt, und du wirst lernen, wie man lebt.«

Ich bemerkte, daß er jetzt zitterte, wenn er seine Hände bewegte. Seine Brille hing ihm am Hals, und als er sie sich an die Augen hob, rutschten die Bügel an seinen Schläfen herum, als versuchte er, sie in der Dunkelheit  aufzusetzen. Ich langte hinüber, um ihm zu helfen, die Bügel über seine Ohren zu schieben.

»Danke«, flüsterte Morrie. Er lächelte, als meine Hand seinen Kopf streifte. Der geringste menschliche Kontakt machte ihn glücklich.

»Mitch. Kann ich dir etwas sagen?« »Natürlich«, sagte ich. »Möglicherweise gefällt es dir nicht.« »Warum nicht?«

»Tja, die Wahrheit ist, wenn du wirklich auf jenen Vogel auf deiner Schulter hören würdest, wenn du akzeptieren würdest, daß du jederzeit sterben kannst,  dann wärst du vielleicht nicht so ehrgeizig, wie du jetzt bist.«

Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln.

»Die Dinge, auf die du so viel Zeit verwendest  all diese Arbeit, die du machst,  erscheinen dann vielleicht nicht so wichtig. Es könnte sein, daß du dann Platz für spirituelle Dinge schaffen mußt.«

»Spirituelle Dinge?«

»Du haßt das Wort, nicht wahr? >Spirituell< Du glaubst, es ginge dabei um rührseliges Zeug.«

»Na ja«, sagte ich.

Er versuchte, mir zuzuzwinkern. Was ihm jedoch nicht gelang, und ich konnte mich nicht mehr beherrschen und begann, laut zu lachen.
»Mitch«, sagte er und lachte ebenfalls, »selbst ich weiß nicht, was >spirituelle Entwicklung< wirklich bedeutet. Aber ich weiß, daß es uns in irgendeiner Hinsicht an etwas mangelt. Wir sind allzusehr mit materialistischen Dingen beschäftigt, und sie befriedigen uns nicht. Die liebevollen Beziehungen, die wir haben, das Universum um uns herum,  wir nehmen diese Dinge als selbstverständlich hin.«

Er nickte in Richtung des Fensters. »Siehst du das? Du kannst da rausgehen, nach draußen, jederzeit. Du kannst die Straße rauf und runter rennen und verrückt spielen. Ich kann das nicht. Ich kann nicht rausgehen. Ich kann nicht rennen. Ich kann nicht da draußen sein, ohne befürchten zu müssen, krank zu werden. Aber weißt du was? Ich weiß jenes Fenster mehr zu schätzen als du.«

»Zu schätzen?«

»Ja. Ich schaue jeden Tag aus diesem Fenster hinaus. Ich bemerke die Veränderung in den Bäumen, sehe, wie stark der Wind weht. Es ist, als könnte ich durch jene Fensterscheibe sehen, wie die Zeit vergeht. Weil ich weiß, daß meine Zeit fast abgelaufen ist, fasziniert mich die Natur, als sähe ich sie zum ersten Mal.«

Er stockte, und einen Moment lang saßen wir beide nur da und schauten aus dem Fenster. Ich versuchte zu sehen, was er sah. Ich versuchte, die Zeit und die Jahreszeiten zu sehen und wie mein Leben im Zeitlupentempo verging. Morrie ließ seinen Kopf ein wenig zur Seite sinken. Vielleicht fragte er einen imaginären kleinen Vogel, ob heute sein letzter Tag sei.

...

»Tja, mein Freund«, sagte er; »worüber reden wir heute?«

»Wie wär‘s mit >Familie<?«

»Familie.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Tja, meine siehst du ja, überall um mich herum.«

Er nickte in Richtung der Fotos auf seinen Bücherborden, von Morrie als Kind mit seiner Großmutter, Morrie als junger Mann mit seinem Bruder David, Morrie mit seiner Frau Charlotte, Morrie mit seinen beiden Söhnen, Rob, einem Journalisten in Tokio, und John, einem Computerexperten in Boston.

»Ich denke, im Lichte dessen, worüber wir in all diesen Wochen geredet haben, wird die Familie sogar noch wichtiger«, sagte er. (S.107)
»Tatsache ist, es gibt keine Basis, keinen sicheren Grund, auf dem die Menschen heute stehen können, wenn nicht die Familie. Das ist mir sehr deutlich geworden, während ich krank war. Wenn du die Unterstützung und Liebe und Fürsorge, die du von deiner Familie bekommst, nicht hast, dann hast du nur wenig. Liebe ist so unendlich wichtig. Wie unser großer Dichter Auden sagte: >Liebt einander oder geht zugrunde. <«

»Liebt einander oder geht zugrunde.« Ich schrieb den Satz nieder »Auden hat das gesagt?«

»Liebt einander oder geht zugrunde«, wiederholte Morrie. »Das ist gut, nicht? Und es ist so wahr. Ohne Liebe sind wir Vögel mit gebrochenen Flügeln.

Sagen wir mal, ich wäre geschieden oder lebte allein oder hätte keine Kinder. Diese Krankheit,  die ich jetzt durchmache,  wäre so viel schwerer zu ertragen. Ich bin nicht sicher, daß ich es schaffen könnte. Gewiß, Leute würden kommen und mich besuchen, Freunde, Kollegen, aber es ist nicht dasselbe wie jemanden zu haben, der nicht fortgeht. Es ist nicht dasselbe, wie jemanden zu haben, den du kennst und der ein Auge auf dich hat, der dich die ganze Zeit beobachtet.

Das ist eines der Dinge, um die es bei einer Familie geht, nicht nur um Liebe, sondern darum zu wissen, daß jemand da ist, der auf dich aufpaßt. Das ist es,was mir so sehr fehlte, als meine Mutter starb.  Ich nenne es die >spirituelle Sicherheit< eines Menschen : zu wissen,  daß deine Familie da sein wird und auf dich aufpaßt. Es gibt nichts anderes auf der Welt, das dir jenes Gefühl vermitteln kann. Kein Geld. Keine Berühmtheit.«

Er warf mir einen Blick zu.

»Keine Arbeit«, fügte er hinzu.
Eine Familie zu gründen und für eine Familie zu sorgen war einer der Punkte auf meiner kleinen Liste von Dingen, die ich in Ordnung bringen wollte, bevor es zu spät ist. Ich erzählte Morrie von dem Dilemma meiner Generation, was eigene Kinder angeht. Wie wir sie häufig als Geschöpfe ansehen, die uns fesseln, uns zu diesen Mutter- und Vaterfiguren machen, die wir nicht sein wollten. Ich gab zu, daß ich einige dieser Gefühle selbst hatte.

Doch als ich mir Morrie anschaute, fragte ich mich, ob die Leere im Angesicht des Todes, wenn ich keine Familie, keine Kinder hätte, nicht unerträglich sein würde?=> Bemerkung von Horst Weyrich
Er hatte seine beiden Söhne zu liebevollen und fürsorglichen Menschen erzogen, und so wie Morrie geizten sie nicht mit ihren zärtlichen Gefühlen. Wäre es sein Wunsch gewesen, dann hätten sie das, was sie gerade taten, stehen und liegengelassen, um jede Minute seiner letzten Monate mit ihrem Vater zu verbringen. Aber das war es nicht, was er wollte.

»Ihr dürft euer Leben nicht unterbrechen«, sagte er ihnen. »Sonst wird diese Krankheit am Ende drei anstatt nur einen ruiniert haben.«=> Bemerkung von Horst Weyrich

Auf diese Art bewies er; selbst als er starb, Respekt für die Welt seiner Kinder. Es war daher kaum verwunderlich, daß sie ihm ihre ganze Zuneigung entgegenbrachten, daß sie ihn küßten und mit ihm scherzten, wenn sie an seinem Bett saßen und seine Hand hielten.

»Wenn Menschen mich danach fragen, ob es besser für sie wäre, Kinder zu haben oder nicht, dann sage ich ihnen niemals, was sie tun sollen«, bemerkte Morrie jetzt und betrachtete das Foto seines ältesten Sohnes. »Ich sage ihnen nur: >Es gibt keine Erfahrung, die der, Kinder zu haben, gleichkommt.< Das ist alles. Es gibt keinen Ersatz dafür. Einen Freund zu haben, ist nicht dasselbe. Und auch nicht einen Geliebten oder eine Geliebte. Wenn du die Erfahrung suchst, die völlige Verantwortung für ein anderes menschliches Wesen zu übernehmen und zu lernen, wie du einen anderen Menschen auf die tiefste Art liebst, dann solltest du Kinder haben.«

»Also würdest du es wieder genauso machen?« fragte ich.

Ich warf einen Blick auf das Foto. Rob küßte Morrie auf die Stirn, und Morrie lachte mit geschlossenen Augen.

»Würde ich es wieder so machen?« sagte er zu mir und schaute überrascht drein. »Mitch, ich hätte jene Erfahrung um keinen Preis missen wollen. Obwohl... «

Er schluckte und legte das Bild in seinen Schoß.

»Obwohl ich einen schmerzlichen Preis dafür zahlen muß«, sagte er.

»Weil du sie verlassen wirst.«

»Weil ich sie bald verlassen werde.«

Er preßte die Lippen zusammen, schloß die Augen, und ich sah die erste Träne neben seiner Schläfe herunterrinnen.

...

»Ist das Tonband an?« fragte er plötzlich mit noch immer geschlossenen Augen.

»Ja, ja«, antwortete ich rasch und drückte die Tasten herunter.

»Was ich jetzt mache«, fuhr er fort, die Augen noch immer geschlossen, »ist, mich von der Erfahrung zu distanzieren.«

»Dich distanzieren?«

»Ja. Mich distanzieren. Und dies ist wichtig  nicht nur für jemanden wie mich, der stirbt, sondern für jemanden wie dich, der völlig gesund ist. Lerne es, dich zu distanzieren.«

Er öffnete die Augen. Er atmete aus. »Weißt du, was die Buddhisten sagen? Halte an nichts fest, weil alles vergänglich ist.«

»Aber hör mal«, sagte ich. »Redest du nicht ständig davon, das Leben voll auszukosten? All die guten Gefühle, all die schlechten?«

»Ja.«

»Tja, und wie soll das gehen, wenn du distanziert bist?« »Ah. Du denkst noch, Mitch. Aber sich distanzieren bedeutet nicht, daß du die Erfahrung nicht durchleben sollst. Im Gegenteil, du erlaubst es dir, die Erfahrung voll und ganz auszuleben. Auf diese Weise bist du fähig, sie loszulassen.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Nimm irgendein Gefühl,  Liebe zu einer Frau oder Trauer um einen Menschen, den du liebst, oder das, was ich gerade durchmache: Furcht und Schmerz durch eine tödliche Krankheit. Wenn du die Gefühle verdrängst  wenn du es dir nicht gestattest, sie wirklich zu fühlen, dann kannst du nie an den Punkt kommen, dich von ihnen zu distanzieren, denn du bist zu sehr damit beschäftigt, dich zu fürchten. Du fürchtest dich vor dem Schmerz, du fürchtest dich vor dem Kummer. Du fürchtest dich vor der Verletzlichkeit, die es mit sich bringt, jemanden zu lieben.

Indem du dich in diese Gefühle hineinbegibst, indem du dir gestattest, wirklich in sie einzutauchen, ganz tief, und sie über deinen Kopf hinwegspülen zu lassen, spürst du sie voll und ganz. Du weißt, was Schmerz ist. Du weißt, was Liebe ist. Du weißt, was Kummer ist. Und nur dann kannst du sagen: >Gut. Ich habe dieses Gefühl voll durchlebt. Ich erkenne es wieder. Jetzt muß ich mich einen Moment lang von ihm distanzieren.<«
Morrie stockte und sah mich prüfend an, vielleicht nur, um sicherzugehen, daß ich ihn richtig verstand.

»Ich weiß, du denkst jetzt, das sei nur dann sinnvoll, wenn man stirbt«, sagte er, »aber es ist genau so, wie ich es dir immer wieder sage. Wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.«

Morrie redete über die Augenblicke, in denen er sich am meisten ängstigte: Wenn er fühlte, daß sich sein Brustkorb bei einem heftigen Hustenanfall verkrampfte, oder wenn er nicht wußte, woher er die Kraft für den nächsten Atemzug nehmen würde. Dies seien schreckliche Momente, sagte er und seine ersten Gefühle seien Entsetzen, Furcht und Angst. Aber sobald er diese Emotionen wiedererkannte,  der Schauder; der ihm den Rücken runterlief, der heiße Blitz, der sein Gehirn durchzuckte, da war er fähig zu sagen: »Okay. Dies ist Furcht. Jetzt tritt ein paar Schritte zurück. Geh ein wenig auf Abstand.«

Ich dachte darüber nach, wie hilfreich ein solches Verhalten im Alltagsleben sein kann. Wie wir uns manchmal einsam fühlen bis zu dem Punkt, wo wir weinen möchten, doch wir halten die Tränen zurück, weil das von uns erwartet wird. Oder wie wir plötzlich die Liebe zu unserem Partner ganz deutlich spüren, aber nichts sagen, weil wir gelähmt sind vor Angst, was diese Worte in der Beziehung bewirken könnten.

Morries Herangehensweise war das genaue Gegenteil. Dreh den Hahn auf. Laß es zu, daß das Gefühl dich überflutet. Es wird dir nicht weh tun. Es wird dir nur helfen. Wenn du die Furcht zuläßt, wenn du sie überstreifst wie ein vertrautes Hemd, dann kannst du zu dir selbst sagen: »Okay, es ist bloß Furcht. Ich werde nicht zulassen, daß sie mich kontrolliert. Ich sehe sie als das an, was sie ist.«

Dasselbe gilt für die Einsamkeit: Du läßt los, läßt die Tränen fließen, fühlst sie voll und ganz  bist aber am Ende fähig zu sagen: »Gut, das war meine Begegnung mit der Einsamkeit. Ich fürchte mich nicht davor, mich einsam zu fühlen, aber jetzt werde ich die Einsamkeit beiseite schieben. Es gibt noch andere Gefühle auf der Welt, und ich werde diese Gefühle ebenfalls spüren.«

»Distanzier dich davon«, sagte Morrie noch einmal.

Er schloß die Augen und hustete.

Dann hustete er noch einmal.

Dann hustete er noch einmal, lauter.

Plötzlich war er fast am Ersticken. In seinen Lungen hing etwas fest. Es schien ihn zu foppen, sprang den halben Weg nach oben, fiel dann wieder herunter, raubte ihm den Atem. Er würgte, hustete dann stoßweise, schüttelte krampfhaft die Hände  mit geschlossenen Augen, wild gestikulierend, wirkte er fast besessen, und ich fühlte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Instinktiv zog ich ihn halbwegs hoch und klopfte ihm auf den Rücken, und er hielt sich ein Papiertuch vor den Mund und spuckte einen Klumpen Schleim aus.

Das Husten hörte auf, und Morrie fiel in die Schaumkissen zurück und saugte gierig Luft in seine Lungen.

»Alles wieder okay?« fragte ich, bemüht, meine Angst zu verbergen.
»Alles wieder... okay«, flüsterte Morrie und hob einen zittrigen Finger. »Warte... eine Minute.«

Wir saßen still beieinander, bis sein Atmen wieder normal wurde. Ich fühlte den Schweiß auf meiner Kopfhaut. Er bat mich, das Fenster zu schließen, der leichte Windhauch machte ihn frösteln. Ich erwähnte nicht, daß es draußen siebenundzwanzig Grad im Schatten waren.

Schließlich sagte er flüsternd: »Ich weiß, wie ich sterben möchte.«

Ich wartete schweigend.

»Ich möchte heiter sterben. Friedlich. Nicht in der Art wie das, was eben passierte.

Und genau da kommt das Sich-Distanzieren ins Spiel. Wenn ich mitten in einem Hustenanfall, so wie ich ihn eben hatte, sterbe, dann muß ich fähig sein, mich von dem Entsetzen zu distanzieren, ich muß sagen können: >Dies ist der Moment.<

Ich möchte die Welt nicht in einem Zustand von Furcht und Entsetzen verlassen. Ich möchte wissen, was geschieht, es akzeptieren, zu einer Insel des Friedens gelangen und loslassen. Verstehst du?«
=> Bemerkung von Horst Weyrich

Ich nickte.

»Laß noch nicht los«, fügte ich rasch hinzu.

Morrie zwang sich zu einem Lächeln. »Nein. Noch nicht. Wir haben noch Arbeit vor uns.«

...

» Glaubst du an Reinkarnation?«frage ich. » Vielleicht. «

»Als was würdest du gerne wiederkommen?« » Wenn ich die Wahl hätte: eine Gazelle. « »Eine Gazelle?«

»Ja. So graziös. So flink.« »Eine Gazelle?«

Morrie lächelt mich an. »Findest du das seltsam?«

Ich betrachte seinen eingeschrumpften Körper, die lose Kleidung, die in Socken eingehüllten Füße, die steif auf Schaumstoffkissen ruhen, unfähig, sich zu bewegen, wie ein Gefangener in Fußeisen. Ich stelle mir eine Gazelle vor. die durch die Wüste läuft.

»Nein«, sage ich, »ich glaube, das ist überhaupt nicht seltsam.«

...

Ein Grund dafür war, daß die soziologische Fakultät sich engagierte, anstatt einfach nur zu unterrichten. Sämtliche Mitglieder waren beispielsweise erbitterte Kriegsgegner. Als die Professoren erfuhren, daß Studenten, die nicht einen bestimmten Punktedurchschnitt zu halten vermochten, ihre Zurückstellung vom Wehrdienst verlieren und eingezogen werden konnten, beschlossen sie, überhaupt keine Noten mehr zu geben. Als die Verwaltung sagte: »Wenn Sie diesen Studenten keine Noten geben, dann fallen sie eben durch«, hatte Morrie eine Lösung parat: »Geben wir ihnen doch allen ein A.« Und das machten sie dann auch.

Die sechziger Jahre machten nicht nur den Campus liberaler; auch das Personal in Morries Abteilung wurde offener; angefangen mit den Jeans und Sandalen, die man jetzt bei der Arbeit trug, bis zu der Einstellung, daß das Klassenzimmer ein lebender, atmender Ort sei. Man bewertete Diskussionen höher als Vorträge, Erfahrung höher als Theorie. Man schickte Studenten in den tiefen Süden, damit sie sich für Bürgerrechtsprojekte engagierten, und in die Armenviertel der Stadt, um Feldarbeit zu leisten. Sie fuhren nach Washington, um an Protestmärschen teilzunehmen, und Morrie spielte häufig den Busfahrer für seine Studenten. (S.129) Bei einem dieser Ausflüge beobachtete er leicht amüsiert, wie Frauen in fließenden Röcken und mit langen Glasketten Blumen in die Gewehre von Soldaten steckten, sich an den Händen faßten, auf den Rasen setzten und versuchten, das Pentagon durch geistige Kraft schweben zu lassen.

»Sie haben es keinen Millimeter anheben können«, erinnerte er sich später; »aber es war ein gutgemeinter Versuch.«

Einmal besetzte eine Gruppe schwarzer Studenten die Ford Hall auf dem Campus des Brandeis College, und dann hissten sie eine Flagge, auf der stand MALCOM X UNIVERSITY. In der Ford Hall befanden sich Chemielabors, und einige Verwaltungsbeamte machten sich Sorgen, daß diese Radikalen in den Kellern Bomben bastelten. Morrie wußte es besser. Er erkannte sehr klar den Kern des Problems: daß Menschen das Gefühl haben wollten, wichtig zu sein.

Mehrere Wochen lang herrschte ein Patt, und dieser Zustand hätte sogar noch länger andauern können. Doch als Morrie einmal an dem Gebäude vorbeiging, erkannte ihn einer der Studenten und rief ihm zu, er solle durchs Fenster reinkommen.

Eine Stunde später kletterte Morrie mit einer Liste der Dinge, die die Protestierenden erreichen wollten, wieder durch das Fenster hinaus. Er legte dem Präsidenten der Universität die Liste vor und die Situation entspannte sich.

Morrie schaffte es immer wieder, Frieden zu schließen.

Am Brandeis College hielt er Kurse über Sozialpsychologie, Geisteskrankheit und Gesundheit und über Gruppenprozesse ab. Sie spielten kaum eine Rolle für das, was man heute »Karrierefähigkeiten« nennt, waren aber sehr wichtig für die »persönliche Entwicklung« der Studenten.

Und deshalb würden Jurastudenten oder Studenten der Betriebswirtschaft Morrie heute als unglaublich naiv betrachten. Wieviel Geld würden seine Studenten verdienen? Wie viele sensationelle Fälle würden sie gewinnen?

Aber andererseits  wie viele Jurastudenten oder Studenten der Betriebswirtschaft besuchen, nachdem sie ihren Abschluß gemacht haben, jemals ihre alten Professoren? Morries Studenten taten das ständig. Und in seinen letzten Monaten kehrten sie zu ihm zurück, Hunderte von ihnen, aus Boston, New York, Kalifornien, London und der Schweiz, aus den Büros großer Unternehmen und Schulprogrammen für die armen Stadtviertel. Sie riefen an. Sie schrieben. Sie reisten Hunderte von Meilen, um ihn besuchen zu können, um ein paar Worte, ein Lächeln von ihm geschenkt zu bekommen.

»Ich habe niemals wieder einen solchen Lehrer wie Sie gehabt«, sagten alle.

...

Morrie sah das Älterwerden unter einem positiveren Aspekt.

»All diese Verherrlichung der Jugend,  da mach' ich nicht mit«, sagte er. »Hör mal, ich weiß, was für ein Elend es sein kann, jung zu sein, deshalb erzähl mir nicht, daß es so großartig sei. All diese jungen Leute, die zu mir kamen mit ihren Kämpfen, ihrem Streit, ihren Gefühlen der Unzulänglichkeit, dem Empfinden, daß das Leben elend sei, so schlimm, daß sie sich umbringen wollten...

Und zusätzlich zu all dem Jammer sind die Jungen nicht weise. Sie verstehen sehr wenig vom Leben. Wer möchte Tag für Tag leben, wenn er nicht weiß, was wirklich läuft? Wenn die Leute dich manipulieren, dir sagen, du brauchst nur dieses Parfüm zu kaufen, und du wirst schön sein, oder dieses Paar Jeans, und du wirst sexy sein  und du ihnen glaubst! Es ist ein solcher Schwachsinn.«

»Hattest du nie Angst davor alt zu werden?« fragte ich. »Mitch, ich nehme das Älterwerden an.« (S.136)

»Annehmen?«

Es ist sehr einfach. Während du älter wirst, lernst du immer mehr dazu. Wenn du ewig zweiundzwanzig bliebest, würdest du ewig so unwissend sein, wie du mit zweiundzwanzig warst. Älterwerden bedeutet nicht bloß Verfall. Es bedeutet Wachstum. Es beinhaltet mehr als die negative Perspektive, daß du sterben wirst, es beinhaltet auch das Positive, daß du verstehst, daß du sterben wirst und daß du deshalb ein besseres Leben lebst.«=> Bemerkung von Horst Weyrich

»Ja«, sagte ich, »aber wenn das Sterben so wertvoll ist, warum sagen die Leute dann immer: >Ach, wenn ich doch noch mal jung wäre.< Du hörst die Leute nie sagen: >Ich wünschte, ich wäre fünfundsechzig. <«

Er lächelte. »Weißt du, worauf das hinweist? Auf ein Leben ohne Zufriedenheit. Ein Leben ohne Erfüllung. Ein Leben, in dem kein Sinn gefunden wurde. Denn wenn du einen Sinn in deinem Leben gefunden hast, dann möchtest du nicht zurückgehen. Du möchtest nach vorn gehen. Du möchtest mehr sehen, mehr tun. Du kannst es nicht erwarten, fünfundsechzig zu werden.

Es gibt da etwas, was du wissen solltest. Alle jüngeren Leute sollten das wissen. Wenn du ständig dagegen ankämpfst, älter zu werden, dann wirst du immer unglücklich sein, denn es wird sowieso geschehen. Und... Mitch?«

Er senkte die Stimme.

»Tatsache ist, daß auch du irgendwann sterben wirst.«

Ich nickte.
»Es spielt keine Rolle, was du dir selbst einredest.« »Ich weiß.«

»Aber hoffentlich«, sagte er; »erst nach einer langen, langen Zeit.«=> Bemerkung von Horst Weyrich

Morrie schloß die Augen mit einem friedlichen Gesichtsausdruck und bat mich dann, ihm die Kissen hinter seinen Kopf zurechtlegen. Sein Körper mußte immer wieder ein wenig umgebettet werden, damit er sich wohl fühlte. Mit Hilfe von weißen Kissen, gelbem Schaumstoff und blauen Handtüchern saß er einigermaßen aufrecht im Sessel. Wenn man nur flüchtig hinschaute, hatte man den Eindruck, daß Morrie per Post verschickt werden sollte.

»Danke«, flüsterte er, als ich ihm die Kissen zurechtrückte.

»Kein Problem«, sagte ich. »Mitch. Was denkst du?«

Ich schwieg einen Moment, bevor ich antwortete. »Okay«, sagte ich. »Ich frage mich, wieso du jüngere Leute nicht beneidest.«

»Oh, vermutlich tue ich das.« Er schloß die Augen. »Ich beneide sie darum, daß sie ins Fitneßstudio oder schwimmen können. Oder tanzen. Vor allem wegen des Tanzens. Der Neid überkommt mich, ich spüre ihn, und dann lasse ich ihn los. Entsinnst du dich, was ich über das Sich-Distanzieren sagte? Laß es los. Sag dir: >Das ist Neid. Ich werde mich jetzt davon trennen.< Und dann entferne dich davon.« Er hustete  ein langes, kratziges Husten, hielt ein Papiertuch an seinen Mund und spuckte schwach hinein. Während ich dort bei ihm saß, fühlte ich mich soviel stärker als er, auf lächerliche Weise stärker; als könnte ich ihn hochheben und wi e einen Sack Mehl über meine Schulter werfen. Dieses körperliche Überlegenheitsgefühl beschämte mich, weil ich mich ihm in keiner anderen Hinsicht überlegen fühlte.

»Wie schaffst du es, dich daran zu hindern...«

»Was?«

»Mich zu beneiden?«

Er lächelte.

»Mitch, es ist unmöglich für die Alten, die Jungen nicht zu beneiden. Aber es geht darum, das zu akzeptieren, was du bist, und es anzunehmen. Du bist jetzt in den Dreißigern. Das ist deine Zeit. Für mich ist meine Zeit, in den Dreißigern zu sein, verstrichen, und jetzt ist es für mich an der Reihe, achtundsiebzig zu sein.
 (=>Gegendarstellung vom 108 Jahre alten Walt Jones)
Du mußt herausfinden, was in deinem Leben, so wie es jetzt ist, gut und wahr und schön ist. Zurückzuschauen bewirkt, daß du mit anderen konkurrierst. Und was das Altern angeht, so gibt es keinen Grund, mit anderen zu konkurrieren . «

Er atmete aus und senkte die Augen, als wollte er zuschauen, wie sich sein Atem in der Luft verteilte.

»Die Wahrheit ist: Ein Teil von mir ist in jedem Alter. Ich bin ein Dreijähriger, ich bin ein Fünfjähriger, ich bin ein Siebenunddreißigjähriger, ich bin ein Fünfzigjähriger. Ich habe alle diese Altersstufen durchlebt, und ich weiß, wie das ist. Ich genieße es, ein Kind zu sein, wenn es angemessen ist, ein Kind zu sein. Ich genieße es, ein weiser alter Mann zu sein, wenn es angemessen ist, ein weiser alter Mann zu sein. Stell dir vor, was ich alles sein kann! Ich bin in jedem Alter zugleich, einschließlich meines eigenen. Verstehst du?«

Ich nickte.

»Wie kann ich neidisch auf das Alter sein, in dem du bist, wenn ich selbst in dem Alter gewesen bin?«

...

»Du hättest diese Gruppe gestern abend hören sollen, Mitch. Was für ein Klang!«

Morrie hatte einfache Freuden immer genossen: Singen, Lachen, Tanzen. Inzwischen hatten materielle Dinge weniger Bedeutung denn je für ihn  oder gar keine mehr. Wenn Menschen sterben, dann hört man immer: »Du kannst es nicht mitnehmen « Morrie schien das schon seit langer Zeit zu wissen. (S.143)

»In unserem Land findet eine Art Gehirnwäsche statt«, sagte Morrie seufzend. »Weißt du, wie man Menschen einer Gehirnwäsche unterzieht? Man wiederholt etwas immer und immer wieder. Und genau das tun wir in diesem Land. Dinge zu besitzen ist gut. Mehr Geld ist gut. Mehr Eigentum ist gut. Eine stärkere kommerzielle Ausrichtung ist gut. Mehr ist gut.

Mehr ist gut. Wir wiederholen es  und man wiederholt es uns gegenüber  immer wieder, bis niemand sich mehr die Mühe macht, etwas anderes auch nur zu denken. Der Durchschnittsmensch wird durch diese Parolen ständig eingenebelt, so daß er nicht mehr sieht, was wirklich wichtig ist.

Wo immer ich in meinem Leben hinging, traf ich Menschen, die sich etwas Neues kaufen wollten. Ein neues Auto. Ein neues Haus. Das neueste Spielzeug. Und dann wollten sie dir alle davon erzählen. >Rat mal, was ich gekauft habe?<

Weißt du, wie ich das immer interpretiert habe? Dies waren Menschen, die so sehr nach Liebe hungerten, daß sie einen billigen Ersatz akzeptierten. Sie klammerten sich an materielle Dinge und erwarteten von ihnen sozusagen eine liebevolle Umarmung. Aber es funktioniert nie. Du kannst Liebe oder Sanftheit oder Zärtlichkeit oder ein Gefühl der Kameradschaft nicht durch materielle Dinge ersetzen.

Geld ist kein Ersatz für Zärtlichkeit, und Macht ist kein Ersatz für Zärtlichkeit. Ich kann dir, während ich hier sitze und sterbe, versichern, daß weder Geld noch Macht dir in dem Moment, wenn du es am meisten brauchst, das Gefühl geben werden, nach dem du dich sehnst. Egal, wieviel du davon besitzt.«

Ich schaute mich in Morries Arbeitszimmer um. Es sah heute noch genauso aus wie am Tag meines ersten Besuches. Die Bücher standen an denselben Plätzen auf den Bücherborden. Die Papiere lagen auf denselben alten Schreibtischen.
Die anderen Zimmer waren auch nicht verbessert oder verschönert worden. Tatsächlich hatte Morrie seit langer Zeit, vielleicht seit Jahren, nichts Neues gekauft, außer medizinischen Geräten. An dem Tag, an dem er erfuhr, daß er an einer tödlichen Krankheit litt, verlor er das Interesse am Konsum.

Deshalb war der Fernsehapparat immer noch der alte, das Auto, das Charlotte fuhr, war immer noch dasselbe, das Geschirr und das Besteck und die Handtücher,  alle diese Dinge waren dieselben. Und dennoch hatte das Haus sich so drastisch verändert. Es hatte sich mit Liebe, Unterricht und Kommunikation gefüllt. Es hatte sich mit Familie, Freundschaft, Ehrlichkeit und Tränen gefüllt. Es hatte sich mit Kollegen, Studenten, Meditationslehrern,Therapeuten und Krankenschwestern gefüllt. Es war, auf eine sehr reale Weise, reich geworden, obwohl Morries Bankkonto sich rasch leerte.

»In diesem Land herrscht eine große Verwirrung darüber, was wir wollen, im Gegensatz zu dem, was wir brauchen«, sagte Morrie. »Du brauchst Nahrungsmittel, um zu essen, du möchtest einen Schokoladeneisbecher mit Früchten. Du mußt dir selbst gegenüber ehrlich sein. Du brauchst den neuesten Sportwagen nicht, du brauchst das größte Haus nicht.

Die Wahrheit ist: Du ziehst aus jenen Dingen keine Befriedigung. Weißt du, was dich wirklich befriedigt?«

»Was?«

»Anderen das anzubieten, was du zu geben hast.«

»Du klingst wie ein Pfadfinder.«

»Ich meine nicht Geld, Mitch. Ich meine deine Zeit. Deine Fürsorge. Dein Geschichtenerzählen. Es ist nicht so schwierig. Hier in der Nähe wurde ein Seniorenzentrum eröffnet. Dutzende älterer Menschen gehen jeden Tag dort hin. Wenn du ein junger Mann oder eine junge Frau bist und ein besonderes Talent hast, dann bist du herzlich eingeladen, ebenfalls dorthin zu gehen und die alten Leute zu unterrichten. Sagen wir mal, du verstehst was von Computern. Du gehst hin und bringst ihnen bei, wie man mit Computern umgeht. Du bist dort sehr willkommen. Und sie sind sehr dankbar. So findest du allmählich zu einer immer größeren Selbstachtung: indem du etwas anbietest, was du hast.

Es gibt viele Orte, wo du das tun kannst. Du brauchst kein großes Talent zu haben. Es gibt einsame Menschen in Krankenhäusern und in Obdachlosenheimen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein wenig Gesellschaft. Du spielst mit einem einsamen alten Mann Karten, und du findest zu einer neuen Selbstachtung, weil du gebraucht wirst.

Erinnerst du dich daran, was ich darüber sagte, einen Sinn im Leben zu finden? Ich hab's aufgeschrieben, aber mittlerweile kann ich es auswendig: Widme dich liebevoll anderen Menschen, widme dich der Gemeinschaft, die dich umgibt, und bemühe dich, etwas zu schaffen, das deinem Leben Sinn und Bedeutung verleiht.

Wie du siehst«, fügte er grinsend hinzu, »ist an keiner Stelle von einem Gehalt die Rede.«

Ich notierte mir ein paar der Dinge, die Morrie sagte, auf einem Notizblock. Ich tat das vor allem deshalb, weil ich nicht wollte, daß er meine Augen sah und sofort wußte, was ich dachte: daß ich seit meinem Collegeabschluß die meiste Zeit meines Lebens nach genau jenen Dingen gestrebt hatte, gegen die er wetterte;  größere Spielzeuge, ein schöneres Haus. Weil ich mit reichen und berühmten Sportlern zusammen war, redete ich mir ein, daß meine Bedürfnisse realistisch wären, daß meine Gier, im Vergleich zu ihrer, belanglos sei.

Dies war Selbstbetrug. Morrie machte das unmißverständlich deutlich.

»Mitch, wenn du versuchst anzugeben, um die Leute an der Spitze zu beeindrucken, dann vergiß es. Sie werden sowieso auf dich herabschauen. Und wenn du versuchst, die Leute, die unter dir stehen, zu beeindrucken, dann vergiß es. Sie werden dich nur beneiden. Gesellschaftlicher Status wird dich nicht weiterbringen. Nur ein offenes Herz wird es dir ermöglichen, wirklich Kontakt zu anderen Menschen zu finden.«

Er schwieg einen Moment und schaute mich dann an. »Ich sterbe, ja?«

»Ja.«

»Warum, glaubst du, ist es so wichtig für mich, mir die Probleme von anderen Leuten anzuhören? Habe ich nicht selbst genug Schmerz und Kummer?

Natürlich habe ich das. Aber anderen Menschen etwas zu geben vermittelt mir ein Gefühl von Lebendigkeit. Nicht mein Auto oder mein Haus. Nicht, wie ich im Spiegel aussehe. Wenn ich jemandem meine Zeit schenke, wenn ich jemanden zum Lächeln bringen kann, nachdem er traurig war, dann fühle ich mich fast so gesund wie früher.

Tu die Dinge, die aus dem Herzen kommen. Wenn du das beherzigst, dann wirst du nicht unzufrieden, dann wirst du nicht neidisch sein, dann wirst du dich nicht nach Dingen sehnen, die jemand anders besitzt. Im Gegenteil, dann wirst du überwältigt sein von dem, was zurückkommt.«

...

»Menschen sind nur böse, wenn sie bedroht werden.«, sagte er später an jenem Tag, »Und genau das ist es, was in unserer Kultur passiert. Das ist es, was unsere Wirtschaft bewirkt. Selbst die, die in unserem Wirtschaftssystem einen Job haben, fühlen sich bedroht, weil sie sich Sorgen machen, ihn zu verlieren. Und wenn du bedroht wirst, dann beginnst du, dich nur noch um dich selbst zu kümmern. Das Geldverdienen wird für dich zu einem Götzen. Es ist alles Teil dieser Kultur.«

Er atmete aus. »Und das ist der Grund dafür, warum ich mich ihr nicht unterwerfe.«

Ich nickte ihm zu und drückte seine Hand. Wir hielten uns jetzt regelmäßig an den Händen. Dies war wieder etwas Neues für mich. Dinge, die mich zuvor verlegen gemacht oder peinlich berührt hätten, waren jetzt etwas Alltägliches. Der Katheterbeutel, der mit dem Schlauch in Morrie verbunden und mit einer grünlichen Ausscheidungsflüssigkeit gefüllt war, lag unten am Sessel neben meinem Fuß. Ein paar Monate zuvor hätte ich mich vielleicht geekelt; jetzt war es bedeutungslos. Genauso bedeutungslos war der Geruch des Zimmers, nachdem Morrie den Nachtstuhl benutzt hatte. Der Luxus, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, die Badezimmertür hinter sich zu schließen, Raumspray hinter sich zu versprühen, wenn er wieder hinausging, war ihm mittlerweile versagt. Da war sein Bett, da war sein Sessel, und das war sein Leben. Ich möchte bezweifeln, daß es bei mir, wenn man mein Leben in einen solchen Fingerhut hineingezwängt hätte, besser gerochen hätte. (S.176)
»Genau das meine ich, wenn ich davon rede, daß du deine eigene kleine Subkultur aufbauen mußt«, sagte Morrie. »Ich meine nicht, daß du jede Regel deiner Gemeinschaft mißachten sollst. Ich laufe beispielsweise nicht nackt herum. Ich fahre nicht über rote Ampeln. Die kleinen Dinge,  da kann ich mich anpassen. Aber die großen,  was wir denken, was wir wertschätzen , bei denen mußt du selbst die Entscheidung treffen. Du darfst es nicht zulassen, daß irgend jemand  oder irgendeine Gesellschaft  das für dich festlegt.

Nimm beispielsweise meinen Zustand. Die Dinge, die mir jetzt peinlich sein sollten  daß ich nicht laufen kann, daß ich mir nicht den Hintern abwischen kann, daß ich am Morgen manchmal aufwache und weinen möchte , an denen ist im Grunde nichts Peinliches oder Beschämendes.

Dasselbe gilt für Frauen, die nicht dünn genug, oder Männer, die nicht reich genug sind. Das sind bloß die Dinge, die unsere Kultur dir einreden will. Glaub sie nicht.«

Ich fragte Morrie, warum er nicht in ein anderes Land gezogen sei, als er jünger war.

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht. Südamerika. Neuguinea. Irgendwohin, wo die Leute nicht so egoistisch sind wie in Amerika.«

»Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Probleme«, erwiderte Morrie und hob die Augenbrauen, was bei ihm ein Achselzucken bedeutete. »Es geht, glaube ich, nicht darum wegzulaufen. Du mußt daran arbeiten, deine eigene Kultur zu erschaffen.
Schau mal, unabhängig davon, wo du lebst, ist der größte Defekt, an dem wir Menschen leiden, unsere Kurzsichtigkeit. Wir sehen nicht, was wir sein könnten. Eigentlich sollten wir unser Potential erkennen und es ausschöpfen können. Aber wenn du umgeben bist von Menschen, die sagen: >Ich will jetzt haben, was mir zusteht, und zwar sofort<, dann endest du mit ein paar Leuten, die alles haben, und einer Armee, die die Armen daran hindert, etwas davon zu stehlen.«

Morrie sah über meine Schulter hinweg zum Fenster hinter mir. Manchmal konnte man einen vorbeifahrenden Lastwagen oder einen Windstoß hören. Er starrte einen Moment auf die Häuser seiner Nachbarn und fuhr dann fort.

»Das Problem, Mitch, besteht darin, daß wir uns nicht klar darüber sind, daß alle Menschen einander sehr ähneln. Weiße und Schwarze, Katholiken und Protestanten, Männer und Frauen. Wenn wir mehr diese Ähnlichkeiten sehen würden, dann würden wir vielleicht in dieser Welt zu einer großen menschlichen Familie zusammenwachsen wollen und uns um jene Familie genauso wie um unsere eigene kümmern.

Wenn du stirbst, darin wird dir diese Ähnlichkeit ganz deutlich. Wir haben alle denselben Anfang - die Geburt - und wir haben alle dasselbe Ende - denTod. Wie verschieden können wir also sein?

Investiere deine Kraft in die menschliche Familie. Investiere in Menschen. Bilde eine kleine Gemeinschaft jener Menschen, die du liebst und die dich lieben.«
Er drückte sanft meine Hand. Ich drückte fester zurück. Und wie beim »Haut den Lukas« auf dem Jahrmarkt, wo man einen Hammer schlägt und zuschaut, wie die Scheibe die Stange hochsteigt, konnte ich fast sehen, wie meine Körperwärme in Morries Brustkorb und seinen Hals und in seine Wangen und Augen stieg. Er lächelte.

»Am Anfang des Lebens, wenn wir kleine Kinder sind, brauchen wir andere zum Überleben, nicht wahr? Und am Ende des Lebens, wenn du so wirst wie ich, dann brauchst du andere zum Überleben, nicht wahr?«

Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Aber das Geheimnis ist: Dazwischen brauchen wir die anderen ebenfalls.«

...

Wir haben 1979, in der Turnhalle des Brandeis College findet ein Basketballspiel statt. Das Team spielt gut, und die Fans der Studenten stimmen einen Singsang an: » Wir sind Nummer eins! Wir sind Nummer eins!« Morrie sitzt in der Nähe. Die Anfeuerungsrufe machen ihn nervös. Plötzlich, als wieder: » Wir sind Nummer eins!« ertönt, springt er auf und ruft: » Was ist verkehrt daran, Nummer zwei zu sein?«

Die Studenten sehen ihn an. Sie verstummen. Er setzt sich, lächelnd und triumphierend.

...

Gegen Ende des Interviews holte die Kamera Morrie ganz nahe heran.  Koppel war nicht mehr im Bild, nur seine Stimme war zu hören. Er fragte, ob mein alter Professor irgend etwas hätte, was er den Millionen von Menschen, deren Herzen er berührt hatte, sagen wollte. Obwohl Koppel dies nicht beabsichtigt hatte, mußte ich unwillkürlich an einen Verurteilten denken, den man bittet, seine letzten Worte zu sprechen.

»Habt Mitgefühl«, flüsterte Morrie, »und übernehmt Verantwortung füreinander. Wenn wir nur diese Lektionen lernten, dann wäre diese Welt ein so viel besserer Ort.«

Er atmete ein und fügte dann sein Mantra hinzu: »Liebt einander oder geht zugrunde.«

...

»Mitch«, sagte er, das Thema »Vergebung« wieder aufgreifend. »Es ist sinnlos, Rachegefühle zu hegen oder mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Diese Dinge«  er seufzte  »diese Dinge sind etwas, was ich wirklich bereue. Stolz. Eitelkeit. Warum tun wir die Dinge, die wir tun?«

Meine Frage war, ob es wichtig sei, anderen zu vergeben. Ich hatte diese Filme gesehen, wo das Familienoberhaupt auf dem Totenbett liegt und nach seinem Sohn ruft, mit dem er lange im Streit lag, damit er Frieden mit ihm schließen kann, bevor er geht. Ich fragte mich, ob das bei Morrie auch so war, ob er auch diesen Impuls hatte, bevor er starb zu sagen: »Es tut mir leid.«

Morrie nickte: »Siehst du diese Skulptur da?« Er neigte den Kopf in Richtung einer Büste, die an der Wand seines Büros hoch oben auf einem Regal stand. Ich hatte sie nie zuvor bemerkt. Es war die Bronzebüste eines Mannes von Anfang Vierzig, der ein Halstuch trug und dem eine Haarsträhne in die Stirn fiel.

»Das bin ich«, sagte Morrie. »Ein Freund von mir hat das vor vielleicht dreißig Jahren geschaffen. Sein Name war Norman. Wir haben damals sehr viel Zeit miteinander verbracht. Wir gingen schwimmen. Wir fuhren nach New York. Er lud mich in sein Haus in Cambridge ein, und dort gestaltete er diese Büste von mir. Es dauerte mehrere Wochen, bis sie fertig war, aber er wollte es unbedingt perfekt machen.«
(S.188)
Ich betrachtete das Gesicht. Wie seltsam, einen dreidimensionalen Morrie zu sehen, so gesund, so jung, der von oben auf uns herabschaute, während wir redeten. Sogar in Bronze gegossen hatte er einen verschmitzten Ausdruck, und ich dachte, sein Freund habe wohl auch etwas von seinem Temperament eingefangen.

»Tja, und dann kommt der traurige Teil der Geschichte«, sagte Morrie. »Norman und seine Frau zogen fort, nach Chicago. Ein wenig später hatte meine Frau, Charlotte, eine ziemlich schwere Operation. Norman und seine Frau haben nie mit uns Kontakt aufgenommen, obwohl sie davon gewußt haben. Charlotte und ich waren sehr verletzt, weil sie nie anriefen, um zu erfahren, wie es ihr ging. Deshalb ließen wir die Beziehung fallen.

Im Laufe der Jahre begegnete ich Norman gelegentlich, und er versuchte immer wieder, sich mit mir zu versöhnen, aber ich akzeptierte es nicht. Ich war mit seiner Erklärung nicht zufrieden. Ich war stolz. Ich schüttelte ihn ab.«

Es schnürte ihm die Kehle zusammen.

»Mitch... vor ein paar Jahren... starb er an Krebs. Ich bin so traurig darüber. Ich hab' es nie geschafft, ihn zu besuchen. Ich bin nie dazu gekommen, ihm zu vergeben. Es schmerzt mich jetzt so sehr...«

Er weinte wieder, ein sanftes und stilles Weinen, und da sein Kopf schräg nach hinten lag, rollten die Tränen seitlich an seinen Wangen herunter, bevor sie seine Lippen erreichten.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Braucht es nicht«, flüsterte er. »Tränen sind okay.«

Ich fuhr fort, Lotion in seine leblosen Zehen zu massieren. Er weinte ein paar Minuten, allein mit seinen Erinnerungen.

»Es sind nicht nur die anderen, denen wir vergeben müssen«, flüsterte er. »Wir müssen auch uns selbst vergeben.«

»Uns selbst?«

»Ja. Für all das, was wir nicht getan haben. All die Dinge, die wir hätten tun sollen. Du kannst nicht in der Reue darüber, was hätte geschehen sollen, steckenbleiben. Das hilft dir nicht, wenn du dorthin kommst, wo ich bin.

Ich habe mir immer gewünscht, daß ich mehr aus meinen Talenten gemacht hätte; ich wünschte, ich hätte mehr Bücher geschrieben. Ich hab' mich deswegen immer schrecklich kritisiert. Jetzt sehe ich, daß das überhaupt keinen Sinn hatte und keinem nützte. Schließ Frieden. Du mußt mit dir selbst und mit den Menschen in deiner Umgebung Frieden schließen.«

Ich beugte mich zu ihm hinüber und tupfte ihm die Tränen mit einem Taschentuch ab. Morrie öffnete und schloß seine Augen. Sein Atem war deutlich hörbar, wie ein leichtes Schnarchen.

»Vergib dir selbst. Vergib anderen. Warte nicht, Mitch. Nicht jedem wird soviel Zeit gewährt wie mir. Nicht jeder hat so viel Glück.«

...

Der dreizehnte Dienstag.

Wir reden über den perfekten Tag

Morrie wollte verbrannt werden. Er hatte das mit Charlotte besprochen, und sie hatten entschieden, daß es das beste sei. Sie hatten Al Axelrad, ein Rabbi vom Brandeis College und langjähriger Freund, ausgewählt, den Begräbnisgottesdienst zu leiten. Al war gekommen, um Morrie zu besuchen, und dieser erzählte ihm von seinen Plänen, sich verbrennen zu lassen.

»Und... Al?« »Ja?«

»Paß bitte auf, daß sie mich ordentlich schmoren.«

Der Rabbi war wie vom Donner gerührt. Aber Morrie war mittlerweile fähig, über seinen Körper Witze zu machen. Je mehr er sich dem Ende näherte, desto mehr betrachtete er ihn als eine bloße Hülle, einen Behälter der Seele. Er schrumpelte ohnehin zu einem Haufen nutzloser Haut und Knochen zusammen und das machte es leicht, ihn loszulassen. (S.195)

»Wir fürchten uns schrecklich vor dem Anblick des Todes«, sagte Morrie, als ich mich hinsetzte. Ich befestigte das Mikrofon an seinem Kragen, aber es kippte immer wider herunter. Morrie hustete. Er hustete jetzt ständig.

»Neulich las ich ein Buch. Sobald jemand im Krankenhaus stirbt, hieß es dort, zieht das Personal die Bettücher über den Kopf des Toten, rollt die Leiche zu irgendeiner Rutsche und schubst sie hinunter. Man kann es nicht erwarten, sie aus den Augen zu haben. Die Leute verhalten sich, als wäre der Tod ansteckend.«

Ich fummelte mit dem Mikrofon herum. Morrie schaute auf meine Hände.

»Er ist nicht ansteckend, weißt du. Der Tod ist so natürlich wie das Leben. Er ist einTeil des Handels, den wir abgeschlossen haben.«

Er hustete noch einmal, und ich trat einen Schritt zurück und wartete, ständig darauf gefaßt, daß etwas Schlimmes geschah. Morrie hatte in letzter Zeit schlimme Nächte gehabt. Erschreckende Nächte. Er konnte nur wenige Stunden hintereinander schlafen, bevor heftige Hustenanfälle ihn aufweckten. Dann kamen die Krankenschwestern ins Zimmer gerannt, klopften ihm auf den Rücken, versuchten, das Gift zu lösen. Selbst wenn er dann wieder normal atmen könnte,  »normal« bedeutete, mit Hilfe des Sauerstoffgeräts , bewirkte der Kampf, daß er den ganzen nächsten Tag erschöpft war.

Der Sauerstoffschlauch befand sich jetzt in seiner Nase. Ich haßte den Anblick. Für mich symbolisierte er Hilflosigkeit. Ich hätte ihn am liebsten herausgezogen.

»Gestern nacht...«, sagte Morrie leise.
»Ja? Gestern nacht...?«

»... hatte ich einen schrecklichen Anfall. Er dauerte Stunden. Und ich war wirklich nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Kein Atem. Endlose Erstickungsanfälle. Irgendwann begann ich, mich schwindlig zu fühlen... und darin spürte ich einen gewissen Frieden, ich spürte, daß ich bereit war zu gehen.«

Seine Augen weiteten sich. »Mitch, es war ein unglaubliches Gefühl. Ich akzeptierte, was geschah, und hatte ein Gefühl von tiefem Frieden. Ich dachte über einen Traum nach, den ich in der letzten Woche hatte. In dem Traum überquerte ich eine Brücke und ging in etwas Unbekanntes hinein. Ich war bereit, weiterzugehen und das anzunehmen, was als nächstes kommt. «

»Aber du hast es nicht getan.«

Morrie wartete einen Augenblick. Er schüttelte matt den Kopf. »Nein. Aber ich hatte das Gefühl, ich könnte es. Verstehst du? Das ist etwas, wonach wir alle suchen. Ein Gefühl des Friedens bei der Vorstellung zu sterben. Wenn wir am Ende wissen, daß wir jenen Frieden finden können, wenn wir sterben, dann werden wir das tun können, was das wirklich Schwierige ist.«

»Und das wäre?«

»Frieden mit dem Leben zu schließen.«

Er sagte, er wolle den Hibiskus anschauen, der hinter ihm auf dem Fensterbrett stand. Ich nahm den Topf herunter und hielt ihn vor seinen Augen in die Höhe. Er lächelte.
»Es ist natürlich zu sterben«, sagte er noch einmal. »Wir machen nur deshalb ein solches Theater darum, weil wir uns nicht als einen Teil der Natur betrachten. Wir denken, weil wir Menschen sind, stünden wir über der Natur.«

Er lächelte in Richtung der Pflanze.

»Aber so ist es nicht. Alles, was geboren wird, stirbt.« Er sah mich an.

»Akzeptierst du das?«

»Ja.«

»Gut«, flüsterte er, »also, jetzt erzähl' ich dir was über den Vorteil, den wir haben. Über den Punkt, in dem wir uns tatsächlich von all den wunderbaren Pflanzen und Tieren unterscheiden.

Solange wir einander lieben können und uns an dieses Gefühl der Liebe erinnern können, können wir sterben, ohne jemals wirklich fortzugehen. All die Liebe, die du geschaffen hast, ist noch immer da. Alle Erinnerungen sind noch immer da. Du lebst weiter  in den Herzen aller Menschen, die du berührt hast und denen du Gutes getan hast, während du hier warst. «

Seine Stimme war rauh, was gewöhnlich bedeutete, daß er eine Weile mit dem Reden aufhören mußte. Ich stellte die Pflanze auf das Fensterbrett zurück und schickte mich an, das Tonbandgerät auszuschalten. Morrie sagte noch einen Satz, bevor ich den Schalter drückte:

»Der Tod beendet dein Leben, nicht eine Beziehung.«

Es war ein neues Medikament zur Behandlung von ALS gefunden worden, das gerade zugelassen wurde. Es war kein Heilmittel, aber es zögerte den Tod hinaus, konnte möglicherweise den Verfall ein paar Monate hinauszögern. Morrie hatte davon gehört, aber er war schon zu krank. Im übrigen würde die Medizin erst in einigen Monaten erhältlich sein.

»Nicht für mich«, sagte Morrie.

Während der ganzen Zeit, in der er krank war, hegte Morrie niemals die Hoffnung, daß er geheilt werden würde. Er war absolut realistisch. Wenn es jemanden gäbe, so fragte ich ihn einmal, der ihn durch einWunder gesund machen könnte, würde er dann wieder der Mann werden, der er zuvor gewesen war?

Er schüttelte den Kopf. »Ich könnte keinesfalls zurückkehren. Ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch. Ich bin ein anderer, was meine Einstellung betrifft. Ich habe es gelernt, meinen Körper zu schätzen, was ich zuvor nicht in solchem Maße getan habe. Ich befasse mich jetzt intensiv mit den großen Fragen des Lebens, den letzten Fragen, die uns niemals loslassen.

Das ist das Entscheidende, weißt du. Wenn du erst einmal mit diesen wichtigen Fragen in Berührung gekommen bist, dann kannst du dich nicht mehr von ihnen abwenden.«

»Und welches sind die wichtigen Fragen?«

»So wie ich es sehe, haben sie mit Liebe, Verantwortung, Spiritualität und Bewußtheit zu tun. Und wenn ich heute gesund wäre, dann wären sie noch immer meine Themen. Sie hätten es schon sehr viel früher sein sollen.«

Ich versuchte, mir Morrie gesund vorzustellen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er die Decken von seinem Körper zog und aus dem Sessel aufstand, wie wir beiden dann in der Nachbarschaft einen Spaziergang machten, so wie wir damals auf dem Campus spazierengingen. Plötzlich wurde ich mir bewußt, daß es sechzehn Jahre her war, daß ich ihn zum letzten Mal stehen gesehen hatte. Sechzehn Jahre?

»Was wäre, wenn du einen Tag hättest, an dem du völlig gesund wärest?« fragte ich. »Was würdest du tun?«

»Vierundzwanzig Stunden?«

»Vierundzwanzig Stunden.«

»Warte mal... ich würde morgens aufstehen, meine Gymnastik machen, mit Tee und süßen Brötchen gemütlich frühstücken. Dann würde ich schwimmen gehen und meine Freunde bitten, mich zu besuchen, Ich würde nur einen oder zwei gleichzeitig kommen lassen, damit wir über ihre Familien, ihre Probleme reden können und darüber, wieviel wir einander bedeuten.

Danach würde ich in einem Garten spazierengehen, in dem ein paar Bäume wachsen, ich würde die Farben in mich aufnehmen, die Vögel betrachten, die Natur, die ich jetzt so lange nicht gesehen habe.

Am Abend würden wir alle zusammen in ein Restaurant gehen und dort ein tolles Nudelgericht essen, oder vielleicht ein bißchen Ente. Ich liebe Ente , und dann würden wir die ganze Nacht durchtanzen. Ich würde mit all den wunderbaren Tanzpartnerinnen da draußen tanzen, bis ich erschöpft bin. Und dann würde ich nach Haus gehen und in einen tiefen, erholsamen Schlaf fallen.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

Es war so einfach. So durchschnittlich. Ich war im Grunde ein wenig enttäuscht. Ich hatte vermutet, daß er nach Italien fliegen oder mit dem Präsidenten zu Mittag essen oder am Strand herumtollen oder alles Exotische, das ihm in den Sinn kam, ausprobieren würde. Nach all diesen Monaten, in denen er dort im Sessel oder im Bett lag, unfähig, ein Bein oder einen Fuß zu bewegen,  wie konnte er da in einem so durchschnittlichen Tag vollkommene Zufriedenheit finden?

Dann erkannte ich, daß das genau der Punkt war.

...

»Ich habe mir einen Platz ausgesucht, wo ich begraben werden möchte. «

»Und wo?«

»Nicht weit von hier. Auf einem Hügel, unter einem Baum, von wo aus man auf einen Teich hinabschauen kann. Sehr friedlich. Ein guter Platz, um zu denken.«

»Hast du vor, dort nachzudenken?«

»Ich hab' vor, dort tot zu sein.« Er kichert. Ich kichere. »Wirst du mich besuchen?« »Besuchen?«

»Einfach kommen und reden. Am besten an einem Dienstag. Du kommst immer an Dienstagen.«

»Wir sind Dienstagsleute.«

»Richtig. Dienstagsleute. Also, du kommst, um zu reden?« Er ist so rasch so schwach geworden.

»Schau mich an«, sagt er.

Ich schaue ihn an.

» Wirst du zu meinem Grab kommen? Um mir deine Probleme zu erzählen?«

»Meine Probleme?« »Ja.«

»Und du wirst mir Antworten geben?«

»Ich werde dir geben, was ich kann. Habe ich das nicht immer?« Ich stelle mir sein Grab vor, auf dem Hügel, mit Aussicht auf den

Teich, ein kleines Stück Land, wo sie ihn hineinlegen werden, ihn mit Erde bedecken und einen Stein daraufsetzen werden. Vielleicht in ein paar Wochen? Vielleicht in ein paar Tagen? Ich sehe mich dort allein sitzen, die Arme auf den Knien gekreuzt, ins Weite schauend.

»Es wird nicht dasselbe sein«, sage ich, »wenn ich nicht in der Lage bin, dich reden zu hören.«

»Ah, reden...«

Er schloss die Augen und lächelte.

»Ich will dir was sagen. Wenn ich tot bin, redest du. Und ich werde zuhören. «
 

=> Hier gibts eine Videosequenz