Aus dem Buch =>Die Botschaft der Krafttiere von Ted Andrews

Der Geier:

    Schlüsselbegriff: Reinigung - Tod und Wiedergeburt - neue Vision
    Kraftphase: Das ganze Jahr - Sommer und Winter

    In ganz frühen Zeiten lebte die Sonne in nächster Nähe zur Erde, so nahe, daß das irdische Leben fast unerträglich wurde. Die Tierwelt schloß sich zusammen und kam zu der Entscheidung, daß die Sonne weiter weggeschoben werden sollte. Als erster erklärte sich der Fuchs dazu bereit: Er packte die Sonne mit seinem Maul und begann zum Himmel zu laufen. Aber nach kurzer Zeit wurde sie zu heiß und fügte ihm Verbrennungen zu. So mußte er stehenbleiben, und bis heute ist die Innenseite des Fuchsrachens schwarz.
    Dann meldete sich das Opossum, wickelte seinen Schwanz um die Sonne und begann zum Himmel zu laufen. Aber schon sehr bald wurde die Sonne zu heiß, verbrannte seinen Schwanz, und es mußte stehenbleiben. Bis zum heutigen Tag hat das Opossum kein Haar mehr auf dem Schwanz.
    Und dann trat der Geier nach vorne, er war der schönste und mächtigste aller Vögel. Auf seinem Kopf erhob sich ein wunderschöner reicher Federbusch, um den ihn alle anderen Vögel beneideten. Er wußte, daß die Erde verbrennen würde, wenn nicht irgend jemand die Sonne wegschieben würde, und so drückte er seinen Kopf gegen sie und begann zum Himmel zu fliegen. Mit kräftigen Flügelschlägen schob und schob er die Sonne weiter in den Himmel hinauf. Zwar konnte er schon spüren, wie seine Federkrone zu brennen begann, aber er ließ nicht nach, bis die Sonne in einem sicheren Abstand zur Erde am Himmel stand. Nun hatte unser Geier leider auf ewig seine wunderbare Federkrone verloren.
    Wahrscheinlich ist er der am meisten mißverstandene und abgelehnte Vogel. Er gilt als häßlich und wird mit dem Tod assoziiert, aber es gibt viele Mythen und Legenden, die genau das Gegenteil besagen. Schon ein kurzer Überblick über die Vielfalt der Geier-Mythen und ein schneller Blick auf seine Verhaltensweisen läßt ein wirklich wunderbares Geschöpf zum Vorschein kommen.
    In der griechischen Tradition galt er als Abkömmling des Greifen, eines mythischen Geschöpfes, das meist mit einer Kombination von Merkmalen verschiedener Tiere dargestellt wird. Der Greif symbolisierte Himmel und Erde, Geist und Materie, Gutes und Böses, er war Wächter und Rächer. Bei den Assyrern kam der Todesengel in Gestalt eines Greifen, der die Einheit zwischen den solaren Aspekten des Falken und den nächtlichen der Katzentiere verkörperte und damit das Sinnbild unablässiger Wachsamkeit war. Der Geier ist also der Erbe des Greifen, und zwar als Wächter der Geheimnisse von Leben und Tod sowie als Weg der Erlösung.
    In Ägypten wurde Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, meist mit einer Geierfeder dargestellt. In einigen Teilen von Ägypten galt der Geier auch als mütterliches Symbol, wahrscheinlich weil er wie die Erde Leichname verzehrt. Der Archetypus der Mutter beinhaltete sowohl das Hervorbringen von neuem Leben wie auch die Wiederaufnahme von Körpern nach dem Tod.
    Bei den Pueblo-Indianern war der Geier ein Symbol der Reinigung. Seine Medizin sollte gestörte Harmonien wiederherstellen. Seine Federn wurden in Erdungsritualen verwendet, um nach Verwandlungs-Trancen die Rückkehr zum Selbst zu erleichtern. Bei solchen Übergängen wirkte der Geier unterstützend. Man traute ihm auch zu, Böses zu zerstreuen, den Kontakt mit den Toten herzustellen, Gegenstände zu entzaubern und sogar erschlagene Krieger wiederzubeleben.
    Der Volksmeinung nach zeigt die Rückkehr der Geier nach dem Winter das Ende des Frostes an. Man glaubte auch, daß man Rheumatismus abwenden könne, wenn man die Feder eines schwarzen Bussards trug.
    Eigentlich gehört der Geier zu den Raubvögeln, ist aber aufgrund seiner schwachen Füße und kurzen Krallen unfähig, eine Beute zu ergreifen und zu zerreißen. Das Töten überläßt er anderen. Daß er Aas frißt, wird als abstoßend betrachtet, obwohl er damit eine äußerst wertvolle und notwendige Funktion erfüllt. Er hält Infektionen und Bakterien aus Leichen in Schach, die sich sonst auf andere Tiere ausbreiten würden, welche dagegen keine Immunität aufgebaut haben. Insofern halten Geier die Umwelt rein und balanciert und verhindern die Ausbreitung von Krankheiten.
    Es gibt mehrere Unterarten von Geiern, von denen jede ihre eigenen Merkmale aufweist. Alle gehen, stehen und sitzen sie mit Festigkeit und Würde und drücken unausgesprochenes Selbstvertrauen aus.
    Der Kondor hat die größte Flügelspannweite und ist der größte Flugvogel auf der ganzen Welt. Seine Spannweite kann vier Meter erreichen, die des kalifornischen Kondors etwa drei Meter. Der Königsgeier, der von Mexiko bis Argentinien vorkommt, fliegt alleine oder paarweise, und meist hoch und fern von anderen.
    Der Truthahngeier besitzt einen langen Schwanz und zweifarbige Schwingen. Wenn er fliegt, ist er ein Geschöpf der Anmut. Sein wissenschaftlicher Name cathartes aurea bedeutet »Goldener Reiniger«. Er sammelt sich nachts mit anderen Geiern auf gemeinsamen Sitzplätzen, und kurz nach der Dämmerung in der frühen Morgensonne breiten sie ihre Flügel aus, um den Tau zu trocknen und sehen dabei aus, als würden sie die aufsteigende Sonne begrüßen. Der Schwarze Geier weist im allgemeinen eine tiefschwarze Färbung mit je einem weißen Flecken am Ende der Flügel auf. Er hat einen kürzeren Schwanz, kann nicht so gut aufsteigen wie der Truthahngeier, verbringt mehr Zeit auf seinen Sitzplätzen und nistet oft in hohlen Baumstämmen.
    Wenn Geier stehen, wirken sie etwas unbeholfen, aber im Flug erweisen sie sich als prachtvolle Wesen. Sie steigen mit einer Leichtigkeit und Anmut auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Für Menschen, die mit dem Geier als Totemtier arbeiten, symbolisiert dies das Herannahen einer Zeit, in der sie mehr wegen ihrer wirklichen Leistungen und nicht wegen ihres Aussehens geschätzt werden.
    Geier spüren und benutzen heiße Aufwinde. An Sommertagen können wir manchmal wahrnehmen, wie die Hitze vom Asphalt aufsteigt, aber wir sehen sie nur wenige Meter über dem Erdboden. Geier dagegen können sie noch wahrnehmen, wenn sie zum Himmel aufsteigen. Wenn ein Geier in Ihr Leben getreten ist, so werden Sie wahrscheinlich bald schon Aurafarben rings um Menschen und Dinge sehen. Wenn nicht, so wird der Geier Ihnen eben dabei helfen.
    Geier sind geduldige Jäger, die stundenlang kreisen können, ohne mit den Schwingen zu schlagen. Sie symbolisieren das Fliegen ohne Kraft. Sie schweben auf heißen Aufwinden und nutzen Luftströmungen, um dem Zug der Schwerkraft entgegenzuwirken. Sie verwenden nur das, was ihnen zur Verfügung steht.
    Früher hielt man den Geier für den Hüter eines besonderen Geheimnisses, nämlich der Levitation. Er besiegt die materielle Ebene samt ihrer physischen Schwerkraft. Seine Fähigkeit zu schweben und aufzusteigen symbolisiert eine Bewegung, die sich von der Ebene des Weltlichen entfernte. Die Ketten der physischen Welten zerbrechen, die Energie wird so verteilt, daß die Schwerkraft ihre Macht verliert und uns nicht mehr niederhält. Geier sind auch bekannt für ihre scharfe Sehkraft. Manche Forscher sind der Meinung, daß sie einander durch Blickkontakt subtile Botschaften zusenden, etwa wenn sie einen Kadaver finden. Getötete Tiere können sie aus einer Entfernung von vielen Kilometern lokalisieren. Ihre Sehkraft ist achtmal stärker als die der Menschen.
    Auch ihr Geruchsinn ist überaus stark entwickelt, sie können Nahrung durch den Geruch finden. Der Geruchsinn galt in esoterischen Traditionen immer als höhere Form der Unterscheidung. Der Geier kann Ihnen helfen, diesen Sinn zu entwickeln. Er wird Ihnen helfen zu entscheiden, ob irgend etwas in Ihrem Leben richtig oder falsch riecht. Auch Aromatherapie hat damit zu tun, und Menschen mit dem Geier als Krafttier sollten sie für sich nutzen.
    Der Geier hat ein einzigartiges Verdauungssystem, was angesichts seiner Nahrung nicht verwundert. Seine Resistenz gegen Botulismus liegt tausendmal höher als bei Menschen. [Botulismus ist eine lebensbedrohliche, meist durch verdorbenes Fleisch hervorgerufene Vergiftung (hier auch "Fleischvergiftung"), die von Botulinumtoxin, einem vom Bakterium Clostridium botulinum ("botulus" ist das lateinische Wort für Wurst) produzierten Giftstoff, verursacht wird. {http://de.wikipedia.org/wiki/Botulismus}]
    Der Verdauungstrakt enthält Chemikalien, die imstande sind, Viren und Bakterien aus den Kadavern zu töten.
    Für Menschen mit dem Geier als Krafttier ist es nicht ungewöhnlich, daß es zu Veränderungen im Verdauungssystem kommt. Nahrungsmittel, die man früher gerne und ohne Nebenwirkungen zu sich nahm, werden nun vielleicht weniger verdaulich, und umgekehrt verträgt man auf einmal Speisen, die man zuvor nicht mochte. Man spürt deutlicher die Wirkung der Nahrung auf den eigenen Körper. Achten Sie genau darauf, wie Sie sich nach dem Verzehr von verschiedenen Speisen fühlen - physisch, emotional, mental und spirituell. Sie werden bald entdecken, was Sie vermeiden und was Sie verstärkt zu sich nehmen sollten.
    Auch Ihre Ausscheidungsprozesse könnten sich verändern, denn der Geier ist eines der wenigen Tiere, die ihre Exkremente auf die eigenen Beine und Füße entleeren. Dies geschieht teilweise zu dem Zweck, um sie von Bakterien zu reinigen, die sie während des Fressens am Gerippe aufgenommen haben. Der antibakterielle Stoff des Verdauungstraktes kommt auch in den Exkrementen vor. Das heißt natürlich nicht, daß Menschen mit dem Geier als Krafttier Probleme mit Inkontinenz haben werden; sie sollten jedoch darauf achten, daß ihr Ausscheidungssystem regelmäßig und richtig funktioniert.
    Aber der Geier tut dies auch, um seine Beine und Füße abzukühlen. Für Menschen mit dem Geier als Krafttier ist dies heilsam und wohltuend, vor allem, wenn sie Hitze nicht ertragen. Stellen Sie die Füße in kaltes Wasser und schon bald werden Sie sich wieder gut fühlen.
    Der Geier hält sich sehr rein und badet häufig, wenn er sich in der freien Natur befindet. Der federlose Hals und Kopf ermöglicht es ihm, relativ sauber zu bleiben, wenn er den Kopf in die Eingeweide und Gerippe toter Tiere steckt. Auf Federn würden sich Bakterien ansammeln, insofern verhindert die Federlosigkeit Infektionen. Auch die Sonnenstrahlen desinfizieren den Kopf. Jeden Morgen wendet sich der Geier mit ausgestreckten Schwingen der Sonne zu, um seine Federn aufzuwärmen und sich von Bakterien zu reinigen. In diesem Sinne dienen die Schwingen als winzige Sonnenkollektoren.
    Der Geier besitzt keine richtige Stimme, sondern drückt Luft aus seinem Schnabel und zischt. Darin steckt die Lektion, daß man lieber handeln als reden sollte.
    Geier legen ihre Eier meist auf den nackten Boden. Die Jungen reagieren äußerst empfindlich auf Störungen. Die Brutzeit und die Aufzucht der Jungen dauert sehr lange, und während dieser Zeit entfernen sich die Eltern bei der Nahrungssuche nicht weit. Die Jungen sind erst nach drei Monaten bereit, das Nest zu verlassen und zu fliegen. Daher kommt wahrscheinlich auch die Vorstellung, daß Menschen erst drei Monate nach ihrem Tod wiedergeboren werden können.
    In der Alchemie war der Geier ein Symbol der Sublimation, wahrscheinlich wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Adler. Man betrachtete ihn als sichtbare Bestätigung einer neuen Beziehung zwischen den flüchtigen und festen Aspekten des Lebens. Es war eine Verheißung, daß das unmittelbare Leiden nur zeitweilig sein würde und außerdem einem höheren Zweck diente, auch wenn man ihn noch nicht verstand. Anders gesagt: So schwierig die Lebensbedingungen auch sind, die Rettung ist ebenso nah wie die Rettung des Prometheus durch Herakles.