|
Der Geier:
Schlüsselbegriff: Reinigung - Tod und Wiedergeburt - neue
Vision
Kraftphase: Das ganze Jahr - Sommer und Winter
In ganz frühen Zeiten lebte die Sonne in nächster Nähe
zur Erde, so nahe, daß das irdische Leben fast unerträglich
wurde. Die Tierwelt schloß sich zusammen und kam zu der Entscheidung,
daß die Sonne weiter weggeschoben werden sollte. Als erster erklärte
sich der Fuchs dazu bereit: Er packte die Sonne mit seinem Maul und begann
zum Himmel zu laufen. Aber nach kurzer Zeit wurde sie zu heiß und
fügte ihm Verbrennungen zu. So mußte er stehenbleiben, und bis
heute ist die Innenseite des Fuchsrachens schwarz.
Dann meldete sich das Opossum, wickelte seinen Schwanz um die Sonne
und begann zum Himmel zu laufen. Aber schon sehr bald wurde die Sonne zu
heiß, verbrannte seinen Schwanz, und es mußte stehenbleiben.
Bis zum heutigen Tag hat das Opossum kein Haar mehr auf dem Schwanz.
Und dann trat der Geier nach vorne, er war der schönste und mächtigste
aller Vögel. Auf seinem Kopf erhob sich ein wunderschöner reicher
Federbusch, um den ihn alle anderen Vögel beneideten. Er wußte,
daß die Erde verbrennen würde, wenn nicht irgend jemand die
Sonne wegschieben würde, und so drückte er seinen Kopf gegen
sie und begann zum Himmel zu fliegen. Mit kräftigen Flügelschlägen
schob und schob er die Sonne weiter in den Himmel hinauf. Zwar konnte er
schon spüren, wie seine Federkrone zu brennen begann, aber er ließ
nicht nach, bis die Sonne in einem sicheren Abstand zur Erde am Himmel
stand. Nun hatte unser Geier leider auf ewig seine wunderbare Federkrone
verloren.
Wahrscheinlich ist er der am meisten mißverstandene und abgelehnte
Vogel. Er gilt als häßlich und wird mit dem Tod assoziiert,
aber es gibt viele Mythen und Legenden, die genau das Gegenteil besagen.
Schon ein kurzer Überblick über die Vielfalt der Geier-Mythen
und ein schneller Blick auf seine Verhaltensweisen läßt ein
wirklich wunderbares Geschöpf zum Vorschein kommen.
In der griechischen Tradition galt er als Abkömmling des Greifen,
eines mythischen Geschöpfes, das meist mit einer Kombination von Merkmalen
verschiedener Tiere dargestellt wird. Der Greif symbolisierte Himmel und
Erde, Geist und Materie, Gutes und Böses, er war Wächter und
Rächer. Bei den Assyrern kam der Todesengel in Gestalt eines Greifen,
der die Einheit zwischen den solaren Aspekten des Falken und den nächtlichen
der Katzentiere verkörperte und damit das Sinnbild unablässiger
Wachsamkeit war. Der Geier ist also der Erbe des Greifen, und zwar als
Wächter der Geheimnisse von Leben und Tod sowie als Weg der Erlösung.
In Ägypten wurde Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit,
meist mit einer Geierfeder dargestellt. In einigen Teilen von Ägypten
galt der Geier auch als mütterliches Symbol, wahrscheinlich weil er
wie die Erde Leichname verzehrt. Der Archetypus der Mutter beinhaltete
sowohl das Hervorbringen von neuem Leben wie auch die Wiederaufnahme von
Körpern nach dem Tod.
Bei den Pueblo-Indianern war der Geier ein Symbol der Reinigung. Seine
Medizin sollte gestörte Harmonien wiederherstellen. Seine Federn wurden
in Erdungsritualen verwendet, um nach Verwandlungs-Trancen die Rückkehr
zum Selbst zu erleichtern. Bei solchen Übergängen wirkte der
Geier unterstützend. Man traute ihm auch zu, Böses zu zerstreuen,
den Kontakt mit den Toten herzustellen, Gegenstände zu entzaubern
und sogar erschlagene Krieger wiederzubeleben.
Der Volksmeinung nach zeigt die Rückkehr der Geier nach dem Winter
das Ende des Frostes an. Man glaubte auch, daß man Rheumatismus abwenden
könne, wenn man die Feder eines schwarzen Bussards trug.
Eigentlich gehört der Geier zu den Raubvögeln, ist aber aufgrund
seiner schwachen Füße und kurzen Krallen unfähig, eine
Beute zu ergreifen und zu zerreißen. Das Töten überläßt
er anderen. Daß er Aas frißt, wird als abstoßend betrachtet,
obwohl er damit eine äußerst wertvolle und notwendige Funktion
erfüllt. Er hält Infektionen und Bakterien aus Leichen in Schach,
die sich sonst auf andere Tiere ausbreiten würden, welche dagegen
keine Immunität aufgebaut haben. Insofern halten Geier die Umwelt
rein und balanciert und verhindern die Ausbreitung von Krankheiten.
Es gibt mehrere Unterarten von Geiern, von denen jede ihre eigenen
Merkmale aufweist. Alle gehen, stehen und sitzen sie mit Festigkeit und
Würde und drücken unausgesprochenes Selbstvertrauen aus.
Der Kondor hat die größte Flügelspannweite und
ist der größte Flugvogel auf der ganzen Welt. Seine Spannweite
kann vier Meter erreichen, die des kalifornischen Kondors etwa drei Meter.
Der Königsgeier, der von Mexiko bis Argentinien vorkommt, fliegt
alleine oder paarweise, und meist hoch und fern von anderen.
Der Truthahngeier besitzt einen langen Schwanz und zweifarbige
Schwingen. Wenn er fliegt, ist er ein Geschöpf der Anmut. Sein wissenschaftlicher
Name cathartes aurea bedeutet »Goldener Reiniger«. Er sammelt
sich nachts mit anderen Geiern auf gemeinsamen Sitzplätzen, und kurz
nach der Dämmerung in der frühen Morgensonne breiten sie ihre
Flügel aus, um den Tau zu trocknen und sehen dabei aus, als würden
sie die aufsteigende Sonne begrüßen. Der Schwarze Geier
weist im allgemeinen eine tiefschwarze Färbung mit je einem weißen
Flecken am Ende der Flügel auf. Er hat einen kürzeren Schwanz,
kann nicht so gut aufsteigen wie der Truthahngeier, verbringt mehr Zeit
auf seinen Sitzplätzen und nistet oft in hohlen Baumstämmen.
Wenn Geier stehen, wirken sie etwas unbeholfen, aber im Flug erweisen
sie sich als prachtvolle Wesen. Sie steigen mit einer Leichtigkeit und
Anmut auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Für
Menschen, die mit dem Geier als Totemtier arbeiten, symbolisiert dies das
Herannahen einer Zeit, in der sie mehr wegen ihrer wirklichen Leistungen
und nicht wegen ihres Aussehens geschätzt werden.
Geier spüren und benutzen heiße Aufwinde. An Sommertagen
können wir manchmal wahrnehmen, wie die Hitze vom Asphalt aufsteigt,
aber wir sehen sie nur wenige Meter über dem Erdboden. Geier dagegen
können sie noch wahrnehmen, wenn sie zum Himmel aufsteigen. Wenn ein
Geier in Ihr Leben getreten ist, so werden Sie wahrscheinlich bald schon
Aurafarben rings um Menschen und Dinge sehen. Wenn nicht, so wird der Geier
Ihnen eben dabei helfen.
Geier sind geduldige Jäger, die stundenlang kreisen können,
ohne mit den Schwingen zu schlagen. Sie symbolisieren das Fliegen ohne
Kraft. Sie schweben auf heißen Aufwinden und nutzen Luftströmungen,
um dem Zug der Schwerkraft entgegenzuwirken. Sie verwenden nur das, was
ihnen zur Verfügung steht.
Früher hielt man den Geier für den Hüter eines besonderen
Geheimnisses, nämlich der Levitation. Er besiegt die materielle Ebene
samt ihrer physischen Schwerkraft. Seine Fähigkeit zu schweben und
aufzusteigen symbolisiert eine Bewegung, die sich von der Ebene des Weltlichen
entfernte. Die Ketten der physischen Welten zerbrechen, die Energie wird
so verteilt, daß die Schwerkraft ihre Macht verliert und uns nicht
mehr niederhält. Geier sind auch bekannt für ihre scharfe Sehkraft.
Manche Forscher sind der Meinung, daß sie einander durch Blickkontakt
subtile Botschaften zusenden, etwa wenn sie einen Kadaver finden. Getötete
Tiere können sie aus einer Entfernung von vielen Kilometern lokalisieren.
Ihre Sehkraft ist achtmal stärker als die der Menschen.
Auch ihr Geruchsinn ist überaus stark entwickelt, sie können
Nahrung durch den Geruch finden. Der Geruchsinn galt in esoterischen Traditionen
immer als höhere Form der Unterscheidung. Der Geier kann Ihnen helfen,
diesen Sinn zu entwickeln. Er wird Ihnen helfen zu entscheiden, ob irgend
etwas in Ihrem Leben richtig oder falsch riecht. Auch Aromatherapie hat
damit zu tun, und Menschen mit dem Geier als Krafttier sollten sie für
sich nutzen.
Der Geier hat ein einzigartiges Verdauungssystem, was angesichts seiner
Nahrung nicht verwundert. Seine Resistenz gegen Botulismus liegt tausendmal
höher als bei Menschen. [Botulismus ist eine lebensbedrohliche, meist
durch verdorbenes Fleisch hervorgerufene Vergiftung (hier auch "Fleischvergiftung"),
die von Botulinumtoxin, einem vom Bakterium Clostridium botulinum ("botulus"
ist das lateinische Wort für Wurst) produzierten Giftstoff, verursacht
wird. {http://de.wikipedia.org/wiki/Botulismus}]
Der Verdauungstrakt enthält Chemikalien, die imstande sind, Viren
und Bakterien aus den Kadavern zu töten.
Für Menschen mit dem Geier als Krafttier ist es nicht ungewöhnlich,
daß es zu Veränderungen im Verdauungssystem kommt. Nahrungsmittel,
die man früher gerne und ohne Nebenwirkungen zu sich nahm, werden
nun vielleicht weniger verdaulich, und umgekehrt verträgt man auf
einmal Speisen, die man zuvor nicht mochte. Man spürt deutlicher die
Wirkung der Nahrung auf den eigenen Körper. Achten Sie genau darauf,
wie Sie sich nach dem Verzehr von verschiedenen Speisen fühlen - physisch,
emotional, mental und spirituell. Sie werden bald entdecken, was Sie vermeiden
und was Sie verstärkt zu sich nehmen sollten.
Auch Ihre Ausscheidungsprozesse könnten sich verändern, denn
der Geier ist eines der wenigen Tiere, die ihre Exkremente auf die eigenen
Beine und Füße entleeren. Dies geschieht teilweise zu dem Zweck,
um sie von Bakterien zu reinigen, die sie während des Fressens am
Gerippe aufgenommen haben. Der antibakterielle Stoff des Verdauungstraktes
kommt auch in den Exkrementen vor. Das heißt natürlich nicht,
daß Menschen mit dem Geier als Krafttier Probleme mit Inkontinenz
haben werden; sie sollten jedoch darauf achten, daß ihr Ausscheidungssystem
regelmäßig und richtig funktioniert.
Aber der Geier tut dies auch, um seine Beine und Füße abzukühlen.
Für Menschen mit dem Geier als Krafttier ist dies heilsam und wohltuend,
vor allem, wenn sie Hitze nicht ertragen. Stellen Sie die Füße
in kaltes Wasser und schon bald werden Sie sich wieder gut fühlen.
Der Geier hält sich sehr rein und badet häufig, wenn er sich
in der freien Natur befindet. Der federlose Hals und Kopf ermöglicht
es ihm, relativ sauber zu bleiben, wenn er den Kopf in die Eingeweide und
Gerippe toter Tiere steckt. Auf Federn würden sich Bakterien ansammeln,
insofern verhindert die Federlosigkeit Infektionen. Auch die Sonnenstrahlen
desinfizieren den Kopf. Jeden Morgen wendet sich der Geier mit ausgestreckten
Schwingen der Sonne zu, um seine Federn aufzuwärmen und sich von Bakterien
zu reinigen. In diesem Sinne dienen die Schwingen als winzige Sonnenkollektoren.
Der Geier besitzt keine richtige Stimme, sondern drückt Luft aus
seinem Schnabel und zischt. Darin steckt die Lektion, daß man lieber
handeln als reden sollte.
Geier legen ihre Eier meist auf den nackten Boden. Die Jungen reagieren
äußerst empfindlich auf Störungen. Die Brutzeit und die
Aufzucht der Jungen dauert sehr lange, und während dieser Zeit entfernen
sich die Eltern bei der Nahrungssuche nicht weit. Die Jungen sind erst
nach drei Monaten bereit, das Nest zu verlassen und zu fliegen. Daher kommt
wahrscheinlich auch die Vorstellung, daß Menschen erst drei Monate
nach ihrem Tod wiedergeboren werden können.
In der Alchemie war der Geier ein Symbol der Sublimation, wahrscheinlich
wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Adler. Man betrachtete ihn als sichtbare
Bestätigung einer neuen Beziehung zwischen den flüchtigen und
festen Aspekten des Lebens. Es war eine Verheißung, daß das
unmittelbare Leiden nur zeitweilig sein würde und außerdem einem
höheren Zweck diente, auch wenn man ihn noch nicht verstand. Anders
gesagt: So schwierig die Lebensbedingungen auch sind, die Rettung ist ebenso
nah wie die Rettung des Prometheus durch Herakles.
|