Absurdes aus der  Wirtschaftswissenschaft

von Wolf von Fabeck


Liebe Umweltfreunde,

eine der erstaunlichsten Erfahrungen der letzten Jahre ist für mich die Erkenntnis, dass die sogenannten Wirtschaftswissenschaften keine Antwort auf die drängendste Frage der Wirtschaftspolitik haben, auf die Frage nämlich, wie Arbeitslosigkeit beseitigt werden kann.
Diese Frage hat, wie wir alle wissen, immense Bedeutung. Die Wirtschaftswissenschaften hätten also jeden Grund, rasch eine Lösung zu finden. Doch da hapert es völlig. Nun gibt es bekanntlich Probleme, für die es aus sachlichen Gründen keine Lösung geben kann, doch eine solche Situation liegt hier offenbar nicht vor, denn ...

  - Die Wirtschaftswissenschaftler - die es   wissen müssen - behaupten ja, dass die Aufgabe   lösbar sei.

  - Die Umstände zeigen, dass es sich hier   „lediglich“ um ein Verteilungsproblem handelt.   Es muss also eine Lösung geben.

Die Umstände sind uns allen sattsam bekannt. Diejenigen die eine Stelle haben, arbeiten sich halb tot, und andere mit der gleichen Qualifikation sind arbeitslos. Es gibt arbeitslose Feinmechaniker und es gäbe mehr als genug für sie zu tun - ungezählte Geräte
mit kleinen Defekten müssten dringend repariert werden - aber es fehlen Reparaturwerkstätten, in denen diese Feinmechaniker die Reparaturen durchführen. Oder es gibt arbeitslose Krankenschwestern und in den Krankenhäusern gibt es überreichlich unerledigte
Arbeit für sie, aber es fehlen die Personal-Stellen.
Oder es gibt arbeitslose Kassiererinnen und trotzdem sind in den meisten Supermärkten einige Kassen unbesetzt, und vor der letzten - völlig überforderten - Kassiererin bilden sich lange Schlangen.

Doch betrachten wir nun die Lösungsvorschläge, die von den Wirtschaftswissenschaftlern kommen, so kann man nur noch mit Verwunderung reagieren.

  SEIT JAHRZEHNTEN fordern die Wirtschaftswissenschaftler, man müsse eben das Wachstum der  Wirtschaft ankurbeln, um die Arbeitslosigkeit zu  beseitigen.

Wie das funktionieren soll, versuche ich mir anhand eines Beispiels vorzustellen: Wenn also eine Supermarktkette Dutzende von Kassiererinnen entlässt, dann sollen durch Wachstum der Supermarktkette - durch Einrichtung neuer Filialen oder auch durch eine
Konkurrenzfirma - an anderer Stelle zusätzliche weitere Kassiererinnen-Stellen geschaffen werden. Doch keiner, der diesen Spruch vom Wirtschaftswachstum nachbetet, stellt sich die Frage, welche Hausfrauen denn dann in den ständig hinzukommenden neuen Filialen einkaufen sollen, und was sie eigentlich kaufen sollen? Wo soll dieses ständige Wachstum denn enden?
Schließlich können wir die immer schneller und immer zahlreicher produzierten Gegenstände gar nicht mehr schnell genug wegwerfen. Sollen die Arbeitslosen vielleicht bei der Sperrmüllabfuhr eingestellt werden?

Man wird mir vorwerfen, dass mein Beispiel zu simpel sei... Bitte, ich kann auch ein komplizierteres Beispiel nennen: Man könnte ja z.B. die entlassenen Kassiererinnen durch Umschulung zu Krankenschwestern ausbilden und sie in den - ebenfalls zu ewigem
Wachstum verdammten - Krankenhäusern einsetzen...
Sollen wir alle vielleicht öfter krank werden?
Bedenklich, bedenklich! Wirtschaftswissenschaftler bezweifeln inzwischen selber, ob es sich hier noch um eine exakte „Wissenschaft“ handelt.

Als Umweltverein interessiert uns besonders folgender Aspekt:

   Ständiges Wachstum bedeutet ständig zunehmende Produktion von Gütern, d.h. ständig steigende Verschwendung von Rohstoffen und Energie. Ich denke, es sind weitere Überlegungen zur Sinnhaftigkeit wirtschaftswissenschaftlicher
   Theorien erforderlich; Sie finden sie in dem folgenden Artikel von Dr. Jürgen Grahl.

Mit freundlichen Grüßen
Wolf von Fabeck
 

Die ökologischen Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems

Fehlerhafte Ansätze der Wirtschaftstheorien als Ursache verfehlter Wirtschaftspolitik

von Jürgen Grahl
Der Erfolg der Umweltbewegung wird letztlich wohl entscheidend davon abhängen, ob es ihr gelingt, Politik und Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Ökologie und Ökonomie keine Gegensätze bilden, dass der angebliche Zielkonflikt zwischen Wohlstand und
Umweltschutz vielmehr das Resultat einer kurzsichtigen und einseitigen Betrachtungsweise ist. Daher ist es unerlässlich, sich mit den Aporien der konventionellen Wirtschaftstheorie zu beschäftigen, mit jenen Unehrlichkeiten und Irrationalitäten, die es möglich
machen, Umweltzerstörung als wirtschaftlich sinnvoll zu verbrämen. Der vorliegende Artikel versucht, die wichtigsten Argumente in Kürze zusammenzustellen

1. Missachtung des Naturkapitals

Noch immer gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) (früher das Bruttosozialprodukt, BSP) als hauptsächlicher Indikator des Wohlstands einer Volkswirtschaft. Dessen Aussagekraft ist jedoch höchst fragwürdig: So tragen Verkehrsunfälle ebenso wie Umweltzerstörungen zur Steigerung des BIP bei. Ein Land, das seine Regenwälder abholzt, erhöht dadurch sein BIP, ohne
dass der Verlust an Wald in irgendeiner Wirtschaftsbilanz auftauchen würde. Das Naturkapital wird (soweit es kostenfrei zur Verfügung steht) im BIP schlicht ignoriert. Die Folge ist, dass unser Wirtschaftssystem permanent vom Kapital, von der
Substanz zehrt, statt sich mit den "Zinsen" der Natur zu begnügen; unser Wirtschaften ist oft ein bloßes Umschichten von monetär unbewerteten zu monetär bewerteten Gütern.

Kurzfristig führt solcher Raubbau zu höheren, aber einmaligen Einnahmen, langfristig jedoch zu entgangenen Erträgen. Besonders drastisch zeigt sich dies im verschwenderischen Umgang mit den fossilen Ressourcen, trotz aller Mahnungen vor dem baldigen
Ende von Öl und Gas. Selbst die elementaren, schon in den Schulen verwendeten Modelle des Wirtschaftskreislaufes kranken daran, dass sie die Natur, die Quellen und Senken der Stoffströme in unserer Wirtschaft praktisch nicht berücksichtigen.
Die Güter werden auf magische Weise quasi aus dem Nichts geschaffen und die Entsorgung der nicht mehr nutzbaren Reste wird - losgelöst von der Frage der technischen Durchführbarkeit - allenfalls als eine Aufgabe betrachtet, die zukünftigen Generationen
überlassen bleibt und möglicherweise ihr BIP weiter steigert; Al Gore bezeichnet dies spöttisch als „moderne Alchimie“.

Wir müssten also das Bruttosozialprodukt durch ein Ökosozialprodukt ersetzen, in welchem die volkswirtschaftliche Wertschöpfung und die damit einhergehenden Verluste an Naturkapital gegeneinander aufgerechnet werden; dieses könnte dann zwar angesichts seiner ungleich höheren Komplexität nicht mehr so exakt und objektiv bestimmt werden wie das heutige BIP bzw. BSP, würde aber - und das ist erheblich wichtiger als scheinbare Genauigkeit - jedenfalls der Realität wesentlich näher kommen.

2. Die Ausblendung der externen Kosten

Ein weiteres schwerwiegendes Manko unseres Wirtschaftens besteht darin, dass wir all die volkswirtschaftlichen Schäden, die wir durch unsere umweltzerstörerische Wirtschaftsweise anrichten, aus unseren ökonomischen Betrachtungen verbannen indem wir
sie in den Papierkorb der „externen Kosten“ werfen.

Obwohl der Begriff der Externen Kosten fast in aller Munde ist, werden keine ernsthaften Konsequenzen gezogen. Unsere heutige Ökonomie ignoriert immer noch weitgehend die Tatsache, dass eine Diskrepanz zwischen dem privaten und dem sozialen Nutzen einer wirtschaftlichen Handlung bestehen kann, so dass ihre Folgeschäden die Allgemeinheit (und/oder künftige Generationen) und nicht speziell den Verursacher (und Nutznießer!) belasten. Als Beispiele für externe Kosten zu nennen sind vor allem:

All diese externen (oder „sozialisierten“) Kosten bedeuten eine schleichende Enteignung der Allgemeinheit und eine zunehmende Einschränkung der finanziellen Spielräume des Staates. Hier liegt - neben mangelnder Ausgabendisziplin der Politiker - ein wesentlicher Grund für die Erosion der Staatsfinanzen.
Kennzeichnend für die Entwicklung gerade der letzten Jahre sind dabei zwei widersprüchliche Tendenzen:
Einerseits werden dem Staat zunehmend lukrative Aufgaben durch Privatisierungen (z.B. Telekom, Post, Lufthansa) entzogen; anderseits werden jedoch immer mehr externe Kosten auf den Staat abgewälzt. Im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik müsste ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben hergestellt werden; dies würde eine Privatisierung nicht nur der lukrativen Aufgaben, sondern auch der Kosten und Risiken erfordern, doch die wird von den neoliberalen Vordenkern kategorisch abgelehnt. Durch diese Inkonsequenz entlarvt sich das den Zeitgeist dominierende neoliberalistische Denken als
interessengeleiteter Versuch, den Staat und damit die Mehrheit seiner Bürger zugunsten der "Privatwirtschaft" - genauer gesagt zugunsten ihrer Kapitalgeber - gnadenlos auszuplündern.

Die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips auf die ökologischen Folgeschäden des Wirtschaftens gebietet die Internalisierung der externen Kosten.
Dies ist die vermutlich bekannteste Begründung für die Notwendigkeit einer ökologischen Steuerreform.

Leider ist jedoch eine auch nur annähernde Bestimmung der externen Kosten, wie sie für eine Internalisierung wesentlich wäre, mit großen methodischen Problemen verbunden: Zum einen besteht eine prinzipielle Schwierigkeit darin, den Wert immaterieller Güter bzw. Belastungen monetär zu quantifizieren: Wie teuer sind uns Leben, Gesundheit, Frieden, Glück, Schönheit, Lebensqualität, wie teuer andererseits Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, „Restrisiko“? Dass diese Werte in der Rechnung kurzerhand vernachlässigt werden, und nicht einmal der Versuch unternommen wird, sie in die Gesamtwertung einzubeziehen, wirkt wie Zynismus im Sinne von Oscar Wilde: „Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.“

Zum anderen kann man zu stark variierenden Ergebnissen für die externen Kosten kommen, je nachdem welche Annahmen über die Wahrscheinlichkeit gewisser zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse (z.B. Klimaveränderungen oder Kernschmelzunfälle) man
zugrunde legt; insbesondere sind die zukünftigen Kosten des anthropogenen Treibhauseffekts geradezu unkalkulierbar.
So ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Versuche, die externen Kosten der Energienutzung abzuschätzen, zu stark differierenden Ergebnissen geführt haben. Hohmeyer (1994) gibt z. B. folgende Werte an:

  Fossile Brennstoffe: 41,40 bis 60,85 Pf/kWh
  Kernenergie: 4,32 bis 26,06 Pf/kWh
  Windenergie: 0,01 Pf/kWh
  Photovoltaik: 0,44 Pf/kWh

Natürlich gibt es auch Studien, die wesentlich niedrigere Werte nennen, welche geradezu einer Ignorierung der externen Kosten gleichkommen. Ob es nur Zufall ist, dass sie zumeist von der Energiewirtschaft nahestehenden Wissenschaftlern stammen ... ?

3. Die Schieflage zwischen der Besteuerung von Energie und Arbeit

Noch heute gehen die bekannten Wirtschaftstheorien von Kapital und Arbeit (und Boden) als alleinigen Produktionsfaktoren aus. Die Nennung des Produktionsfaktors Boden berücksichtigte den Anteil, den Grundbesitz an der landwirtschaftlichen Produktion hatte. Das vielleicht schwerste Versäumnis der Wirtschaftstheorie ist die Nicht-Wahrnehmung - oder sollte man sagen, die Ausblendung - des Produktionsfaktors Energie und ihrem Anteil an der industriellen Produktion.

Dieses theoretische Versäumnis führt in seiner praktischen Folge dahin, dass Energie trotz ihrer Produktionsmächtigkeit nicht - oder zumindest völlig unzureichend - besteuert wird, während der über Jahrhunderte hinweg anerkannte Produktionsfaktor Arbeit völlig über Gebühr mit Steuern belastet wird.
Energie trägt im Vergleich zur Arbeit fünf mal so viel zur Wertschöpfung in der deutschen Volkswirtschaft bei, wird aber im Vergleich zur Arbeit nur zu einem winzigen Bruchteil mit Steuern und Abgaben belastet.

Mit derartigen Rahmenbedingungen treibt der Staat die Unternehmen zur weiteren "Freisetzung" von Personal - eine Verhaltensweise, die er gerade vermeiden möchte.
Nur wenige Politiker haben verstanden, dass nur ein Steuersystem Abhilfe schaffen kann, das eine allmähliche, aber konsequente Verschiebung der Hauptsteuerlast von der Arbeit hin zur Energie bewirkt, wie es die ökologische Steuerreform beabsichtigt. Dass diese Begründung für die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform so unbekannt ist, mag mit daran liegen, dass die Wirtschaftstheorie die oben genannte Begründung erst liefern kann, wenn sie die Energie als selbständigen Produktionsfaktor
anerkennt und sich seiner wahren Produktionsmächtigkeit bewusst wird.

4. Das Wachstumsdogma

Fast wie unter einem kollektiven Zwang wird von Politik, Gesellschaft und leider auch Wissenschaft noch immer ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum als Garant, ja beinahe als Synonym für mehr Wohlstand und Beschäftigung angesehen. Die Sensibilität für die Fragwürdigkeit eines fortwährenden Wachstums ist nach wie vor erschreckend unterentwickelt.

Unter Wachstum versteht man dabei einen Zuwachs von einigen Prozent jährlich. Die Mathematik bezeichnet ein solches Wachstum als "exponentielles Wachstum".
Die Dynamik und Dramatik exponentiellen Wachstums wird von Nichtmathematikern leider völlig unterschätzt. So bedeutet selbst eine - heute als moderat bzw. ungenügend geltende - jährliche Wachstumsrate von lediglich 2% eine Verdoppelung innerhalb von 35
Jahren, eine Verachtfachung nach 105 Jahren und nach 350 Jahren schließlich ein Anwachsen auf das Tausendfache des Ausgangsniveaus. Es ist daher eine unbestreitbare Tatsache, dass exponentielles Wachstum früher oder später zum Zusammenbruch führen muss - ob früher oder später, hängt im Wesentlichen von der Wachstumsrate ab.

Daher ist es dringend erforderlich, die Mechanismen aufzudecken, die unsere Wirtschaft zum permanenten Wachstum verdammen, die dazu führen, dass ein bloßes Absinken der Wachstumsrate auf z. B. 1 % - von einem Verharren auf konstantem Niveau ganz zu schweigen - bereits als Rezession bzw. Wirtschaftskrise empfunden wird.

Einer der Hauptmechanismen hängt aufs Engste mit der oben besprochenen Schieflage in der Besteuerung von Energie und Arbeit und der daraus folgenden fortlaufenden "Freisetzung" von Arbeitskräften zusammen. Damit diese an anderer Stelle unterkommen
können und nicht das Heer der Arbeitslosen vergrößern, ist es notwendig, dass die Volkswirtschaft insgesamt ständig weiter expandiert.

Umgekehrt bedeutet dies: Die Beseitigung der Schieflage durch eine ökologische Steuerreform würde diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck und Wachstumszwang entschärfen und unserer Zivilisation die Freiheit zurückgeben, ihre eigene Zukunft zu gestalten, statt sich nur noch von - in der heutigen Situation teilweise durchaus realen! - Sachzwängen regieren zu lassen.

Eine weitere Erklärung für unsere Wachstumsbesessenheit ist die folgende: Materielles Wachstum dient uns als eine Art Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Bedürfnisse. Unsere Zivilisation durchleidet eine schwere Sinnkrise und flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben, vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen Lebens in einen unkontrollierten Konsumrausch: Konsum von materiellen Gütern und Konsum von Natur. Und wenn alle natürlichen Bedürfnisse gestillt sind, schaffen wir uns künstlich neue, immer maßlosere, denn, wie Seneca sagte: „die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn entstandenen finden kein Ende.“

Diese Betrachtungen machen deutlich, welch überragende Rolle bei der Beseitigung der besprochenen ökologischen Strukturfehler der ökologischen Steuerreform zukommen wird. Sie ist eine zwar sicherlich nicht hinreichende, aber doch unbedingt notwendige Bedingung für die Überwindung des Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie (oder genauer: für die Erkenntnis seiner Nichtexistenz) und damit für die Lösung der großen globalen Probleme sowohl der ökologischen als auch der sozialen Frage.

(gekürzt und überarbeitet aus Solarbrief 1/01)

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[sfv-rundmail] 13.12.2002 Zur Wirtschaftspolitik

*** Wachstumsfetischismus

Von Jürgen Grahl

Kollektive Depression (nicht nur) in Deutschland: Wir wachsen nicht schnell genug! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft werden nervös wie ein Pilot, dessen Flugzeug zu langsam geworden ist und kurz vor dem Strömungsabriss steht. Die Experten überbieten sich in guten Ratschlägen, was zu tun sei, um den festgefahrenen Wirtschaftstanker wieder flott zu bekommen - und auch 30 Jahre nach der Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts "Grenzen des Wachstums" erkennt kaum jemand, wie schief und irreführend die soeben benutzten Bilder in Wirklichkeit sind. Anlass genug, uns einmal mehr mit dem Wachstumsdogma kritisch zu beschäftigen. Dabei möchte ich mit der zentralen Frage beginnen, was uns derzeit dazu verdammt, weiter und weiter zu wachsen, und wie wir daran etwas ändern können, um dann im zweiten Teil noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie unnatürlich und absurd die Vorstellung permanenten exponentiellen Wachstums ist.

Zum Wachstum verdammt?

Bei fast jeder politischen Diskussionsrunde im Fernsehen bekommen wir es gebetsmühlenartig zu hören:
"Wir brauchen mehr Wachstum, mehr Wachstum, mehr Wachstum..." Industrie und Gewerkschaften, Marktradikale wie Anhänger eines starken, aktiven Staates, in einem sind sie sich alle einig: darin, dass sie Wirtschaftswachstum nach wie vor unverdrossen
als Voraussetzung, Garant und geradezu Synonym für mehr Wohlstand und Beschäftigung ansehen. Besonders augenfällig wird dies im Stabilitätsgesetz von 1967, welches ein "stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum" gar als Ziel (nicht etwa nur als
Mittel) der Wirtschaftspolitik nennt. Vor der  Bundestagswahl 2002 konnte der Unions-Kanzlerkandidat unwidersprochen einen erheblichen Teil seines Wahlkampfarsenals daraus speisen, dass wir beim Wachstum "Tabellenletzter in Europa" sind, und dem -
gleichermaßen im Wachstumsdogma verfangenen - alten und neuen Bundeskanzler fiel dazu nichts Besseres ein, als uns darauf zu vertrösten, dass die Zeiten wieder besser, sprich die Wachstumsraten wieder höher würden, anstatt wenigstens damit zu kontern, wie unsinnig eine solche Sortierung anhand der Wachstumsraten ist.

George W. Bush verstieg sich (bei der Vorstellung seines "Alternativplans" zum Kyoto-Protokoll) gar zu der Aussage: "Dieses Vorgehen beruht auf der Idee des gesunden [!] Menschenverstandes, dass dauerhaftes Wirtschaftswachstum der Schlüssel zum Fortschritt in Umweltfragen ist [...]." (Frankfurter Rundschau, 5.2.02)
Manche dieser Beschwörungen baldigen Wachstums erwecken den Eindruck, ein Verdurstender spreche vom heiß ersehnten Regen. Mitunter mutet dies geradezu wie eine Art Wachstumsfetischismus an. Zurecht fühlt sich Franz Alt dabei "an das ideologische Palaver der DDR-Ökonomen, etwa ab Mitte der 70er Jahre" erinnert ([1], S. 26). Dass es jedoch seit Jahrzehnten nicht
gelingt, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, obwohl die Wirtschaft doch ständig gewachsen ist, in der Bundesrepublik in den letzten dreißig Jahren um real ca. 70%, erklären uns die Experten damit, die Wachstumsraten seien eben immer noch nicht hoch genug.
Es fehlt nicht nur an Einsicht in die Fragwürdigkeit immerwährenden Wachstums, sondern vor allem an Fantasie, sich vorzustellen, wie man auch ohne Wachstum Probleme wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung oder Krise der sozialen Sicherungssysteme in den Griff bekommen könnte - und zwar ohne sozialen Kahlschlag.

Mit solcher Kritik alleine würden wir es uns freilich zu einfach machen; wie ich im Folgenden näher erläutern will, ist unser Wirtschaftssystem in seiner derzeitigen Form in der Tat auf permanentes Wachstum angewiesen.
Die Konsequenz daraus darf allerdings nicht sein, die Anstrengungen darauf zu richten, wie die benötigten Wachstumsraten noch ein Weilchen aufrechterhalten (oder vielmehr: wieder erreicht) werden können, sondern zu überlegen, wie sich das System so
modifizieren lässt, dass es ohne Wachstum funktioniert.

Beginnen wir damit, dass wir das Idealbild des "Aufschwungs" kritisch hinterfragen. Jener so positiv besetzte Begriff trägt erheblich dazu bei, die Wachstumsproblematik zu bemänteln; denn wer kann sich schon ernsthaft gegen Aufschwung aussprechen, dagegen, dass es den Menschen besser geht, die Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot kommen, die Gesellschaft aus ihrer kollektiven Depression herausfindet? Auch die Theorie der Konjunkturzyklen, aus der der Begriff des Aufschwungs letztlich stammt, klingt auf den ersten Blick plausibel: Die Wirtschaftsleistung ist konjunkturellen Schwankungen unterworfen, gute Zeiten wechseln sich mit schlechten Zeiten ab, und Wachstum ist die Kraft, die uns aus den schlechten in die guten Zeiten führt. Dagegen wäre im Prinzip auch nichts zu sagen, wenn nicht die Grenze zwischen "guten" und "schlechten" Zeiten völlig falsch gezogen würde: Die
konjunkturellen Schwankungen sollen nicht etwa ein Pendeln um die Nulllinie bedeuten, wie es der gesunde Menschenverstand wohl erwarten würde, sondern um einen gewissen Durchschnittswert von etwa 3%, ein Oszillieren um einen von den Ökonomen gerne so
genannten "Wachstumspfad"; als Abschwung gilt nicht etwa nur ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung ("Minuswachstum"), sondern bereits ein zu geringes Wachstum (z.B. 0,8%), ein Zurückbleiben hinter jenem postulierten Durchschnittswert. Eine echte
Schrumpfung, eine Rezession hingegen gilt schon als Wirtschaftskrise, als mittlere Katastrophe. An dem offensichtlichen Widerspruch, Zeiten, in denen es nur relativ gemächlich aufwärts geht mit der Wirtschaftsleistung, als Abschwungphasen zu
bezeichnen, scheint sich niemand zu stören; bezeichnend dafür ist, dass rückläufiges Wachstum und wirklicher Rückgang der Wirtschaftsleistung nicht selten schlicht miteinander verwechselt werden.

Wie rechtfertigt sich dieser angeblich erstrebenswerte "Wachstumspfad" von etwa 3%? Das ist keine Ökonomenwillkür, sondern ein empirischer Wert dafür, wie viel Wachstum die Volkswirtschaft benötigt, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dies geschieht nämlich
erst oberhalb der sog. Beschäftigungsschwelle, welche erfahrungsgemäß bei etwa 2,5 bis 3% jährlichen Wachstums liegt; sind die Wachstumsraten niedriger, steigt die Arbeitslosigkeit, womit sich indirekt - aufgrund der dadurch bedingten Einnahmeausfälle - auch die Krise der Sozialversicherungssysteme und die prekäre Lage der Staatsfinanzen weiter zuspitzt. Auch hier sollte der gesunde Menschenverstand eigentlich die Stirn runzeln und sich fragen: Wie kann das sein, dass trotz immer noch positiven, wenn auch schwachen Wachstums die Arbeitslosigkeit zunimmt? Die Erklärung ist denkbar einfach:
Im Zuge der Automatisierung und Rationalisierung werden fortlaufend Arbeitskräfte "freigesetzt" (wie die massenhafte Vertreibung von Menschen in die soziale Ungewissheit der Arbeitslosigkeit oftmals so euphemistisch umschrieben wird). Diese können nur dann an anderer Stelle unterkommen, wenn die Volkswirtschaft insgesamt schnell genug expandiert. Daher werden in der Tat 2,5% bis 3% Wachstum benötigt, um die Arbeitslosigkeit wenigstens konstant zu halten - und noch mehr, um sie allmählich abzubauen.

Die entscheidende Triebfeder für Automatisierung und Rationalisierung und damit für Massenentlassungen bei fast allen großen Firmen ist die eklatante Schieflage zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Energie, die wir bereits in früheren Artikeln ausführlich diskutiert haben (siehe [6], [7], [10], [11]): Nach Studien von R. Kümmel, W. Eichhorn, J. Henn und D. Lindenberger ([12], vgl. auch [4], [13] und [2]) liegt die Produktionsmächtigkeit (Produktionselastizität) der Energie - ein Maß für die Leistungsfähigkeit der Energie, für ihren "Beitrag" zur Gesamtwertschöpfung - in Deutschland bei etwa 44%, der Anteil der
Energiekosten an den Produktionskosten hingegen bei lediglich knapp 5%; umgekehrt weist der Faktor Arbeit nur noch eine Produktionsmächtigkeit von etwa 9% auf, macht aber ca. 65% der Produktionskosten aus. Stark vereinfacht ausgedrückt: Energie ist etwa fünfzehn mal billiger als menschliche Arbeit und trotzdem fünfmal "produktiver". Dieses extreme Gefälle treibt einen
gigantischen Substitutionsprozess von der Arbeit hin zur Energie an, genauer: von teuren und relativ produktionsschwachen Kombinationen von Arbeit und Kapital hin zu billigen und produktionsmächtigen Energie-/ Kapitalkombinationen; hierdurch kommt es zu der angesprochenen permanenten "Freisetzung" von Arbeitskräften, welche durch Wachstum kompensiert werden muss. Wollen wir diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck und Wachstumszwang entschärfen, so müssen wir die Schieflage zwischen Energie und Arbeit geraderücken, indem wir durch eine Umschichtung der Lohnnebenkosten und der direkten Steuern von der Arbeit hin zur Energie die Faktorkosten wieder in ungefähren Einklang mit den Produktionsmächtigkeiten bringen. Genau dies leistet die ökologische Steuerreform. Wer das genannte Ungleichgewicht beseitigen will, muss allerdings auch erkennen, dass es nicht ausreicht, die ökologische Steuerreform nur bis zur dritten, vierten oder fünften Stufe zu treiben; vielmehr ist es notwendig, über mehrere Jahrzehnte hinweg die Steuer- und Abgabenlast zu einem großen Teil von der Arbeit hin zur Energie zu verlagern.

Hier soll kurz auf den Einwand eingegangen werden, es sei fortschrittsfeindlich, Arbeiter wieder mit Tätigkeiten zu betrauen, die durch Maschinen viel müheloser geleistet werden können. Dies wäre in der Tat geradezu menschenverachtend und ist keinesfalls
das Ziel der ökologischen Steuerreform.
Was dann strebt sie an? Zum einen geht es um einen effizienteren Einsatz der Energie. Zum anderen gibt es viele Tätigkeitsbereiche, in denen menschliche Arbeitskraft jeder Maschine überlegen ist, etwa im medizinischen oder karitativen Pflegedienst, bei technischen Instandsetzungsarbeiten oder in der Bildung und Erziehung.

Unter der heutigen steuerlichen Belastung menschlicher Arbeitskraft sind solche personalintensiven Tätigkeitsbereiche kaum noch finanzierbar. Die Folge ist eine beklagenswerte, auf "Personalknappheit" beruhende "Entmenschlichung" des öffentlichen Lebens:
überarbeitete Krankenschwestern und Ärzte, frustrierte Lehrer vor viel zu großen Schulklassen, fehlendes Instandsetzungspersonal, unbesetzte Post- und Bankschalter, fehlende Sorgfalt bei der Erstellung von Computersoftware, mangelnde Erprobung neuer Geräte; eine ständige Gehetztheit bei denjenigen, die noch Arbeit haben, und Verzweiflung und Perspektivlosigkeit bei den Arbeitslosen. Insgesamt ein gewaltiger Verlust an Lebensqualität! Und diese Entwicklung geht zur Zeit immer weiter in die falsche Richtung. (Ausführlicher ist diese Thematik in [6] diskutiert.)

Die obigen Überlegungen zeigen auch, dass das eigentliche Problem gar nicht einmal so sehr die bereits bestehende Arbeitslosigkeit ist (ohne diese etwa verharmlosen zu wollen), sondern die uns möglicherweise noch Bevorstehende: Ohne entschlossenes Gegensteuern laufen wir Gefahr, uns in Richtung der bereits von Hans-Peter Martin und Harald Schumann in
der "Globalisierungsfalle" an die Wand gemalten 20:80-Gesellschaft zu bewegen, in der nur noch 20% Arbeit finden, 80% aber schlichtweg nicht mehr gebraucht werden. Die sozialen Konsequenzen einer solchen Entwicklung bedürfen sicherlich keiner
besonderen Ausschmückung ...

Man muss denjenigen Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, deren Denken und Handeln darum kreist, wie wir wieder "ordentliches" Wachstum bekommen, also tatsächlich konzedieren, dass sie aus der Perspektive des gegenwärtigen Systems durchaus zweckrational handeln. (Das tut übrigens ein Heroinsüchtiger auch, dessen Denken darum kreist, wenigstens noch für
die nächsten Tage den benötigten Stoff aufzutreiben.)
Ein nicht hinnehmbares Versäumnis ist es jedoch, dass von den Experten buchstäblich nichts zu der Frage zu hören ist, wie wir uns aus dem Wachstumszwang befreien können: Die herrschenden ökonomischen Theorien, die ich grob in Neoliberalismus und Neokeynesianismus unterteilen möchte, nehmen beide den Zwang zum Wachstum als selbstverständlich hin; sie unterscheiden
sich lediglich in den Konzepten, mit denen sie Wachstum stimulieren möchten, und konzentrieren ihre Aufmerksamkeit folglich eher auf die Angebotsseite oder die Nachfrageseite, auf die Förderung des "Investitionsklimas" durch Deregulierung und Steuersenkungen oder auf die Ankurbelung der Binnennachfrage. (Detailliert werde ich dies in dem Artikel   "Vom Elend der konventionellen Wirtschaftstheorien   Oder die Vernachlässigung des Produktionsfaktors     Energie - Mehr als eine theoretische   Spitzfindigkeit!"
besprechen.) Auf diese Weise bekämpfen sie nur die Folgen der "Krankheit", nicht aber ihre Ursache.

Um ein vielleicht etwas aufreizendes, aber wie ich meine doch treffendes Bild zu benutzen: Wir befinden uns derzeit in der Situation eines Mannes, der ein großes Wasserfass auf vollem Füllstand halten will oder muss. Leider hat das Fass aber ein kleines Loch,
durch das permanent ein wenig Wasser abfließt; daher ist der Mann ständig damit beschäftigt, Wasser nachzuschütten, was ihm anfangs, als er noch frisch und ausgeruht ist, leicht fällt, im Laufe der Zeit, als seine Kräfte mehr und mehr erlahmen, jedoch
zunehmend schwerer; irgendwann gelingt es ihm nicht mehr, so viel nachzufüllen, wie durch das kleine Loch abfließt, so dass der Wasserspiegel langsam, aber unaufhaltsam abfällt. Die Freunde des Mannes, auf das Problem aufmerksam geworden, überbieten sich in guten Ratschlägen, was zu tun sei, Ratschlägen freilich, die alle darauf hinauslaufen, in kürzerer Zeit mehr Wasser
nachschütten zu können. Aber niemand kommt auf den Gedanken, die tiefere Ursache des Problems, das kleine Leck, zu beseitigen - entweder weil dessen Existenz als selbstverständlich hingenommen und nicht mehr hinterfragt wird, oder vielleicht auch nur, weil sich niemand herantraut, es zu schließen.

Wie aber kommt es, dass diese Zusammenhänge nur relativ Wenigen bewusst sind? Zum einen zeigt sich hier, wie sehr die volkswirtschaftliche Bedeutung der Energie als mittlerweile bedeutsamster Produktionsfaktor von den Wirtschaftswissenschaften
noch immer verkannt wird. Zum anderen liegt es daran, dass wir Rationalisierung und Automatisierung bisher primär als Ausdruck technischen Fortschritts angesehen und entsprechend willkommen geheißen haben, dabei jedoch allzu blind darauf vertraut haben, dass der Fortschritt auch allen gleichermaßen zugute kommen werde. In der Tat stellt sich die Frage, warum wir nicht einfach alle in dem Maße, in dem im Zuge der Automatisierung der Arbeitskräftebedarf sinkt, weniger arbeiten. Das ist ja die Idee, die den bis heute (wenngleich leiser als früher) von den Gewerkschaften erhobenen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zugrunde liegt. Dass für kürzere Arbeitszeit das gleiche Gehalt gezahlt werden soll, wird dabei mit der gestiegenen Arbeitsproduktivität begründet, damit also, dass die gleiche Leistung jetzt in kürzerer Zeit erwirtschaftet wird. Wo liegt der Gedankenfehler dieser Argumentation? Er liegt eigentlich bereits in der Formulierung "gestiegene Arbeitsproduktivität", welche suggeriert, die erwirtschafteten Zuwächse seien allein dem Faktor Arbeit zu danken (etwa weil die Arbeitnehmer fleißiger oder effizienter geworden seien). "Gestiegene Arbeitsproduktivität" bedeutet jedoch lediglich, dass die gleiche Wertschöpfung in einem veränderten Betrieb jetzt mit geringerem Einsatz an menschlicher Arbeit erzielt werden kann, und besagt nichts über die Gründe
hierfür; diese könnten sowohl in verbesserter Ausbildung, gestiegenem Fleiß und menschlichem Erfindungsreichtum wie auch im vermehrten Einsatz von Energie in neu angeschafften Maschinen und Computern liegen.

Tatsächlich ist letzterer der vorherrschende Grund, dass nämlich angesichts des zunehmenden Energieeinsatzes immer weniger an menschlicher Arbeitskraft benötigt wird; dies drückt sich in der niedrigen Produktionsmächtigkeit der Arbeit (9%) und der hohen Produktionsmächtigkeit der Energie (44%) aus: Es ist in erster Linie der Produktionsfaktor Energie, dem das wirtschaftliche Wachstum zuzuschreiben ist. Die hier erzielten Zuwächse kommen aber nicht automatisch der breiten Bevölkerung zugute,
sondern zunächst einmal denjenigen, die über die "Energiesklaven" verfügen, also Unternehmen und Kapitalbesitzern. Früher gelang es noch recht gut, diese Zuwächse zugunsten der Arbeitenden umzuverteilen; aber die Zeiten haben sich geändert:

"Die Vermutung liegt nahe, dass in der Vergangenheit starke Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen den Beitrag der Energie zur Wertschöpfung erfolgreich für die Arbeitnehmer, und damit für breite Bevölkerungsschichten, reklamieren konnten. Die westlichen Demokratien incl. Japan sind mit der Verteilung des Volkseinkommens nach dem Schlüssel 70% für die Arbeitnehmer, 30% für Unternehmen und Vermögensbesitzer nicht schlecht gefahren. Wohlstand für alle sicherte nicht nur den inneren Frieden, sondern überzeugte auch die Regierenden und Regierten in den ehemals sozialistischen Ländern Europas von den Vorteilen einer Beendigung des Kalten Krieges und der Zusammenarbeit in einer demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Welt. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fortfall des konkurrierenden, theoretisch egalitären Gesellschaftsmodells schwinden mit wachsender Automation und abnehmendem Einfluss der Arbeitnehmervertretungen die Anreize und Möglichkeiten zum Erhalt der bisherigen, sozial bewährten Einkommensverteilung. Selbst wenn die Gewerkschaften nicht durch wachsende Arbeitslosigkeit und sinkende Mitgliederzahlen geschwächt würden, könnten sie nur für eine abnehmende Zahl von Arbeitsplatzbesitzern etwas hinzugewinnen." (R. Kümmel [13], S. 64 f.)

Dass diese früher selbstverständliche Umverteilung des Beitrags der Energiesklaven hin zu den Arbeitnehmern heute nicht mehr funktioniert, zeigt sich darin, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren die Reallöhne stagniert sind, während die Kapital- und
Vermögenseinkommen stark gewachsen sind. Kurz gesagt: Der Faktor Arbeit ist schlichtweg zu schwach geworden, als dass er die Partizipation an dem von der Energie erwirtschafteten Teil des "Kuchens" noch aus eigener Kraft durchsetzen könnte. Der Staat könnte versuchen, dies etwa über die Festschreibung von Mindestlöhnen trotzdem zu erreichen; damit würde er die Verlagerung
von der Arbeit zur Energie aber nur noch weiter beschleunigen, und diese kann er schwerlich unterbinden. So lange die gewaltige Schieflage zwischen Energie und Arbeit besteht, sitzt die Arbeit gewissermaßen am kürzeren Hebel. In einem marktwirtschaftlichen Orientierungsrahmen ist es eben auf Dauer nicht durchzuhalten, einen Produktionsfaktor weit über seine tatsächliche Bedeutung hinaus zu bezahlen - so wünschenswert dies aus gesellschaftlichen Gründen auch sein mag. Der naheliegendste und beste, insbesondere auch marktwirtschaftlich eleganteste Ausweg besteht darin, die Energie gemäß ihrer Leistungsfähigkeit zur
Finanzierung von Staatsaufgaben und sozialen Sicherungssystemen heranzuziehen, um auf diese Weise alle in den Genuss des von den "Energiesklaven"  Erwirtschafteten kommen zu lassen. Dies bedeutet nicht, den "Fortschritt" anzuhalten oder  zurückzudrehen; wohl aber bedeutet es, dass die Gesellschaft die Handlungsfreiheit zurückgewinnt, erst einmal für sich selbst zu definieren, was sie als Fortschritt und somit als erwünscht ansieht, und sodann einen entsprechenden Entwicklungspfad anstelle
des monotonen und phantasielosen "Wachstumspfades" einzuschlagen. Oder ist das wirklich noch Fortschritt, der uns zu seinem Gefangenen macht, wenn wir ihm nicht schnell genug folgen auf dem Weg "aufwärts"?

Eine weitere interessante Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, was derzeit eigentlich mit den jährlich erwirtschafteten Zuwächsen geschieht: Wie kann es sein, dass es uns immer schlechter geht, der hochverschuldete Staat kein Geld mehr für Bildung hat, der Sozialstaat immer unbezahlbarer wird, obwohl das Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch immer steigt
(wenngleich angeblich nicht schnell genug)? Wie kann es sein, dass, wie Lothar Späth soeben erklärt hat, bei unter 1,5% Wachstum die sozialen Sicherungssysteme kollabieren? (L. Späth am 6.10.2002 auf n-tv) Man sollte meinen, selbst die hohe Arbeitslosigkeit wäre angesichts unserer gewaltigen Wirtschaftsleistung, die immerhin so hoch ist wie nie zuvor, spielend zu
finanzieren, auch ohne die noch Arbeitenden über Gebühr zu belasten. Wo also fließen die Zuwächse hin?
Hier sind zwei wichtige Aspekte zu nennen, die diesen scheinbaren Widerspruch auflösen:

(1) Zum einen spiegelt das Wachstum des BIP nicht zwangsläufig reale Wohlstandszuwächse wider, da ein zunehmender Teil in die Behebung von Umweltschäden fließt. Man könnte zugespitzt sagen, dass ein nicht mehr unerheblicher (und ständig wachsender)
Prozentsatz unserer im BIP ausgedrückten "Wertschöpfung" nur noch in Reibungsverlusten besteht, wenn nämlich zunächst durch die bei der Produktion angerichteten Umweltzerstörungen das BIP steigt - und dann noch einmal bei deren Beseitigung.

(2) Zum anderen gehen, wie oben ausgeführt, die Beiträge zum Wachstum in erster Linie auf das Konto des Faktors Energie; die breite Bevölkerung konnte daran in den letzten Jahren kaum noch partizipieren: Zwar versuchen die Gewerkschaften, die
"Produktivitätsgewinne" zugunsten der arbeitenden Bevölkerung umzuverteilen, dies kann jedoch durch die Verlagerung von der Arbeit hin zur Energie wirksam unterlaufen werden. Daher konnte durch Lohnerhöhungen zuletzt gerade einmal die Preissteigerung ausgeglichen werden. Gerade die Möglichkeiten der modernen Computertechnologie haben es den Arbeitgebern abermals leichter gemacht, die Verteilungsgelüste der Gewerkschaften mit der Drohkulisse eines weiteren Anziehens der Rationalisierungsschraube (sprich des Abbaus von Arbeitsplätzen) zu zügeln; dass hierbei immer wieder der "Sachzwang" des internationalen
Wettbewerbsdrucks als Rechtfertigung herhalten muss, verschleiert dabei eher den Blick auf die viel fundamentalere "Konkurrenz" zwischen Arbeit und Energie. Einem vergleichbaren Dilemma sehen sich Staat und Sozialversicherungen ausgeliefert, die ihre
Finanzierung primär auf den immer schwächer werdenden und daher nicht noch weiter belastbaren Faktor Arbeit stützen und es versäumt haben, auch die Energie  heranzuziehen.

Insofern ist ein Teil unserer Krise schlicht ein Verteilungsproblem: Es fehlt eigentlich gar nicht einmal so sehr an Geld, es ist in mancherlei Hinsicht nur falsch verteilt.

Bisher habe ich den Wachstumszwang primär ökonomisch erklärt, mit der Schieflage zwischen Arbeit und Energie. Dies ist sicherlich ein zentraler Aspekt; daneben gibt es aber noch eine wichtige sozialpsychologische Komponente: Dass das Leitbild
permanenten Wachstums so selten hinterfragt wird, hängt auch mit einem regelrechten Konsumrausch zusammen, dem unsere Zivilisation verfallen ist. Es wäre freilich allzu einfach, dies vorschnell als ethisch verwerflich zu verurteilen; zutreffender scheint es mir, darin - wie bei jeder Sucht - eine Kompensationsreaktion zu sehen, eine Art Verdrängungsreflex, in dem sich letztlich eine
kollektive Sinnkrise widerspiegelt: Materielles Wachstum dient als Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Bedürfnisse; unsere Zivilisation flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben, vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen
Lebens in den hemmungslosen Konsum: Konsum von materiellen Gütern und Konsum von Natur. (Diese These vertritt auch Al Gore in [9], Kapitel 12: "Die dysfunktionale Zivilisation"; vgl. hierzu ferner E. Fromm [8].) Bezeichnend dabei ist es, dass, nachdem
alle natürlichen Bedürfnisse gestillt sind, künstlich neue, immer maßlosere geschaffen werden müssen, denn, wie Seneca sagte, "die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn entstandenen finden kein Ende." Die förmliche Explosion des Werbemarktes in unseren Tagen scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass zumindest die reichen Industrienationen schon dicht an diese "natürliche" Wachstums- bzw. Sättigungsgrenze herangerückt sind und sie nur noch durch den massiven Einsatz psychologisch höchst raffinierter Manipulationstechniken ein wenig vor sich herschieben können. Insofern muss die Überwindung der
Wachstumssucht mit einem grundlegenden Bewusstseinswandel einhergehen - welcher aber durch eine Beseitigung des ökonomischen Wachstumszwangs wesentlich begünstigt werden wird.

In Diskussionen bekommt man häufig noch einen anderen als den hier gegebenen Erklärungsversuch für den Wachstumszwang zu hören: Und zwar komme es durch die ungeheure Dynamik des Zinseszinseffekts zu einer gewaltigen, ständig zunehmenden Umverteilung zugunsten der Besitzer von Geldvermögen. Schwere ökonomische und vor allem soziale Verwerfungen seien die Folge; nur durch permanentes Wirtschaftswachstum könne die Situation für alle einigermaßen erträglich gehalten werden. Dies sei der "wahre" Grund unserer Wachstumsabhängigkeit. Mit diesem Ansatz, seinen Stärken und Schwächen werde ich mich demnächst in
einem eigenen Beitrag ausführlicher beschäftigen; an dieser Stelle möge folgende Andeutung genügen: Die Argumentation der "Zinskritiker" spricht zwar durchaus einen sehr wichtigen Grund für zunehmende soziale Schieflagen in unserer Gesellschaft wie auch für die eskalierende Staatsverschuldung an; jedoch gibt sie keine befriedigende Erklärung für die geradezu mysteriöse Tatsache, dass trotz steigender Wirtschaftsleistung die Arbeitslosigkeit zunehmen kann: Dies lässt sich nur verstehen, wenn man sich die überragende Rolle des Produktionsfaktors Energie bewusst macht.

Die Problematik dauerhaften exponentiellen Wachstums

Dass es auch ohne Wachstum gehen kann, wenn geeignete Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, sollte nunmehr deutlich geworden sein. Aber warum sollen wir uns überhaupt vom vertrauten, liebgewordenen Wachstumsdogma verabschieden? Hieße das nicht, auf Fortschritt zu verzichten? Und warum schon jetzt und nicht erst in 200 Jahren? Diesen Fragen will ich mich im Folgenden zuwenden.

Zunächst müssen wir uns klarmachen, dass die uns von den Experten als angeblich unerlässliches Minimum für das Gedeihen unserer Wirtschaft angedienten "mindestens 3% Wachstum", wenn sie Jahr für Jahr wiederholt werden, in relativ kurzen Zeiträumen
praktisch alle Begrenzungen sprengen würden und insofern nicht allzu lange gutgehen können. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, welche ungeheure Dynamik dem Wachstum mit einer konstanten jährlichen Rate, dem sog. exponentiellen Wachstum innewohnt: Es verläuft zwar anfangs relativ gemächlich und insofern "harmlos", wird dann jedoch immer rasanter, um schließlich solch explosionsartige Formen anzunehmen, dass sie alle menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Dies ist dadurch bedingt, dass die betrachtete Größe Jahr für Jahr aufs Neue nicht nur um den gleichen absoluten Betrag, sondern um den gleichen
Faktor wächst. Dementsprechend verdoppelt sie sich in einer gewissen festen Zeitspanne auch immer und immer wieder. Für niedrige Wachstumsraten lässt sich diese Verdoppelungszeit in guter Näherung berechnen, indem man 70 durch die prozentuale Wachstumsrate dividiert. (Dies hat damit zu tun, dass der natürliche Logarithmus von 2 ungefähr 0,70 beträgt.)
Bei einem jährlichen Wachstum von 3% bedeutet das eine Verdoppelung binnen 24 Jahren, bei 5% innerhalb von 14 Jahren, bei 10% schon innerhalb von 7 Jahren!
Nun mag eine Verdoppelung des Ausgangsniveaus in 24 Jahren noch als einigermaßen akzeptabel erscheinen; verfolgen wir darum jene beinahe magischen 3% Wachstum pro Jahr einmal über einen längeren Zeitraum: Nach 47 Jahren kommt es schon zu einer Vervierfachung, nach 94 Jahren (also ungefähr innerhalb eines Menschenlebens!) zu einer Versechzehnfachung, nach 234 Jahren zu einer Vertausendfachung! Und, falls auch da noch nicht Schluss ist mit Wachsen, nach 468 Jahren wären wir bereits - beim 2.000-fachen? - nein, beim  1.000.000- fachen des Ausgangsniveaus angelangt!
Eine eindrucksvolle Illustration dieser Dynamik gibt H. Creutz ([3], S. 145 f.): Nehmen wir an, wir hätten einen einzigen Cent im Jahr von Christi Geburt zu einem jährlichen Zinssatz von 3% anlegen können. Was hätte der Zinseszinseffekt - der ja DAS typische
Beispiel schlechthin für exponentielles Wachstum ist - seither aus ihm gemacht? Bis zum Jahr 468 wären wir nach dem Gesagten bereits bei 10.000 Euro angelangt. Im Jahre 1169 wären ungefähr 10 Billionen Euro erreicht gewesen, was von der Größenordnung her in etwa dem Volksvermögen in der Bundesrepublik entspricht. Noch nicht absurd genug? Im Jahre 2002 schließlich wäre aus unserem niedlichen, kleinen Cent ein Betrag geworden, der dem Wert von über 50 Billiarden Tonnen Gold entspräche; das ist eine
Goldkugel von 170 km Durchmesser!