Liebe Umweltfreunde,
eine der erstaunlichsten Erfahrungen der letzten Jahre ist für
mich die Erkenntnis, dass die sogenannten Wirtschaftswissenschaften keine
Antwort auf die drängendste Frage der Wirtschaftspolitik haben, auf
die Frage nämlich, wie Arbeitslosigkeit beseitigt werden kann.
Diese Frage hat, wie wir alle wissen, immense Bedeutung. Die Wirtschaftswissenschaften
hätten also jeden Grund, rasch eine Lösung zu finden. Doch da
hapert es völlig. Nun gibt es bekanntlich Probleme, für die es
aus sachlichen Gründen keine Lösung geben kann, doch eine solche
Situation liegt hier offenbar nicht vor, denn ...
- Die Wirtschaftswissenschaftler - die es wissen müssen - behaupten ja, dass die Aufgabe lösbar sei.
- Die Umstände zeigen, dass es sich hier „lediglich“ um ein Verteilungsproblem handelt. Es muss also eine Lösung geben.
Die Umstände sind uns allen sattsam bekannt. Diejenigen die eine
Stelle haben, arbeiten sich halb tot, und andere mit der gleichen Qualifikation
sind arbeitslos. Es gibt arbeitslose Feinmechaniker und es gäbe mehr
als genug für sie zu tun - ungezählte Geräte
mit kleinen Defekten müssten dringend repariert werden - aber
es fehlen Reparaturwerkstätten, in denen diese Feinmechaniker die
Reparaturen durchführen. Oder es gibt arbeitslose Krankenschwestern
und in den Krankenhäusern gibt es überreichlich unerledigte
Arbeit für sie, aber es fehlen die Personal-Stellen.
Oder es gibt arbeitslose Kassiererinnen und trotzdem sind in den meisten
Supermärkten einige Kassen unbesetzt, und vor der letzten - völlig
überforderten - Kassiererin bilden sich lange Schlangen.
Doch betrachten wir nun die Lösungsvorschläge, die von den Wirtschaftswissenschaftlern kommen, so kann man nur noch mit Verwunderung reagieren.
SEIT JAHRZEHNTEN fordern die Wirtschaftswissenschaftler, man müsse eben das Wachstum der Wirtschaft ankurbeln, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.
Wie das funktionieren soll, versuche ich mir anhand eines Beispiels
vorzustellen: Wenn also eine Supermarktkette Dutzende von Kassiererinnen
entlässt, dann sollen durch Wachstum der Supermarktkette - durch Einrichtung
neuer Filialen oder auch durch eine
Konkurrenzfirma - an anderer Stelle zusätzliche weitere Kassiererinnen-Stellen
geschaffen werden. Doch keiner, der diesen Spruch vom Wirtschaftswachstum
nachbetet, stellt sich die Frage, welche Hausfrauen denn dann in den ständig
hinzukommenden neuen Filialen einkaufen sollen, und was sie eigentlich
kaufen sollen? Wo soll dieses ständige Wachstum denn enden?
Schließlich können wir die immer schneller und immer zahlreicher
produzierten Gegenstände gar nicht mehr schnell genug wegwerfen. Sollen
die Arbeitslosen vielleicht bei der Sperrmüllabfuhr eingestellt werden?
Man wird mir vorwerfen, dass mein Beispiel zu simpel sei... Bitte, ich
kann auch ein komplizierteres Beispiel nennen: Man könnte ja z.B.
die entlassenen Kassiererinnen durch Umschulung zu Krankenschwestern ausbilden
und sie in den - ebenfalls zu ewigem
Wachstum verdammten - Krankenhäusern einsetzen...
Sollen wir alle vielleicht öfter krank werden?
Bedenklich, bedenklich! Wirtschaftswissenschaftler bezweifeln inzwischen
selber, ob es sich hier noch um eine exakte „Wissenschaft“ handelt.
Als Umweltverein interessiert uns besonders folgender Aspekt:
Ständiges Wachstum bedeutet ständig zunehmende
Produktion von Gütern, d.h. ständig steigende Verschwendung von
Rohstoffen und Energie. Ich denke, es sind weitere Überlegungen zur
Sinnhaftigkeit wirtschaftswissenschaftlicher
Theorien erforderlich; Sie finden sie in dem folgenden
Artikel von Dr. Jürgen Grahl.
Mit freundlichen Grüßen
Wolf von Fabeck
1. Missachtung des Naturkapitals
Noch immer gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) (früher das Bruttosozialprodukt,
BSP) als hauptsächlicher Indikator des Wohlstands einer Volkswirtschaft.
Dessen Aussagekraft ist jedoch höchst fragwürdig: So tragen Verkehrsunfälle
ebenso wie Umweltzerstörungen zur Steigerung des BIP bei. Ein Land,
das seine Regenwälder abholzt, erhöht dadurch sein BIP, ohne
dass der Verlust an Wald in irgendeiner Wirtschaftsbilanz auftauchen
würde. Das Naturkapital wird (soweit es kostenfrei zur Verfügung
steht) im BIP schlicht ignoriert. Die Folge ist, dass unser Wirtschaftssystem
permanent vom Kapital, von der
Substanz zehrt, statt sich mit den "Zinsen" der Natur zu begnügen;
unser Wirtschaften ist oft ein bloßes Umschichten von monetär
unbewerteten zu monetär bewerteten Gütern.
Kurzfristig führt solcher Raubbau zu höheren, aber einmaligen
Einnahmen, langfristig jedoch zu entgangenen Erträgen. Besonders drastisch
zeigt sich dies im verschwenderischen Umgang mit den fossilen Ressourcen,
trotz aller Mahnungen vor dem baldigen
Ende von Öl und Gas. Selbst die elementaren, schon in den Schulen
verwendeten Modelle des Wirtschaftskreislaufes kranken daran, dass sie
die Natur, die Quellen und Senken der Stoffströme in unserer Wirtschaft
praktisch nicht berücksichtigen.
Die Güter werden auf magische Weise quasi aus dem Nichts geschaffen
und die Entsorgung der nicht mehr nutzbaren Reste wird - losgelöst
von der Frage der technischen Durchführbarkeit - allenfalls als eine
Aufgabe betrachtet, die zukünftigen Generationen
überlassen bleibt und möglicherweise ihr BIP weiter steigert;
Al Gore bezeichnet dies spöttisch als „moderne Alchimie“.
Wir müssten also das Bruttosozialprodukt durch ein Ökosozialprodukt ersetzen, in welchem die volkswirtschaftliche Wertschöpfung und die damit einhergehenden Verluste an Naturkapital gegeneinander aufgerechnet werden; dieses könnte dann zwar angesichts seiner ungleich höheren Komplexität nicht mehr so exakt und objektiv bestimmt werden wie das heutige BIP bzw. BSP, würde aber - und das ist erheblich wichtiger als scheinbare Genauigkeit - jedenfalls der Realität wesentlich näher kommen.
2. Die Ausblendung der externen Kosten
Ein weiteres schwerwiegendes Manko unseres Wirtschaftens besteht darin,
dass wir all die volkswirtschaftlichen Schäden, die wir durch unsere
umweltzerstörerische Wirtschaftsweise anrichten, aus unseren ökonomischen
Betrachtungen verbannen indem wir
sie in den Papierkorb der „externen Kosten“ werfen.
Obwohl der Begriff der Externen Kosten fast in aller Munde ist, werden keine ernsthaften Konsequenzen gezogen. Unsere heutige Ökonomie ignoriert immer noch weitgehend die Tatsache, dass eine Diskrepanz zwischen dem privaten und dem sozialen Nutzen einer wirtschaftlichen Handlung bestehen kann, so dass ihre Folgeschäden die Allgemeinheit (und/oder künftige Generationen) und nicht speziell den Verursacher (und Nutznießer!) belasten. Als Beispiele für externe Kosten zu nennen sind vor allem:
Die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips auf die ökologischen
Folgeschäden des Wirtschaftens gebietet die Internalisierung der externen
Kosten.
Dies ist die vermutlich bekannteste Begründung für die Notwendigkeit
einer ökologischen Steuerreform.
Leider ist jedoch eine auch nur annähernde Bestimmung der externen Kosten, wie sie für eine Internalisierung wesentlich wäre, mit großen methodischen Problemen verbunden: Zum einen besteht eine prinzipielle Schwierigkeit darin, den Wert immaterieller Güter bzw. Belastungen monetär zu quantifizieren: Wie teuer sind uns Leben, Gesundheit, Frieden, Glück, Schönheit, Lebensqualität, wie teuer andererseits Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, „Restrisiko“? Dass diese Werte in der Rechnung kurzerhand vernachlässigt werden, und nicht einmal der Versuch unternommen wird, sie in die Gesamtwertung einzubeziehen, wirkt wie Zynismus im Sinne von Oscar Wilde: „Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.“
Zum anderen kann man zu stark variierenden Ergebnissen für die
externen Kosten kommen, je nachdem welche Annahmen über die Wahrscheinlichkeit
gewisser zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse (z.B. Klimaveränderungen
oder Kernschmelzunfälle) man
zugrunde legt; insbesondere sind die zukünftigen Kosten des anthropogenen
Treibhauseffekts geradezu unkalkulierbar.
So ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Versuche, die externen
Kosten der Energienutzung abzuschätzen, zu stark differierenden Ergebnissen
geführt haben. Hohmeyer (1994) gibt z. B. folgende Werte an:
Fossile Brennstoffe: 41,40 bis 60,85 Pf/kWh
Kernenergie: 4,32 bis 26,06 Pf/kWh
Windenergie: 0,01 Pf/kWh
Photovoltaik: 0,44 Pf/kWh
Natürlich gibt es auch Studien, die wesentlich niedrigere Werte nennen, welche geradezu einer Ignorierung der externen Kosten gleichkommen. Ob es nur Zufall ist, dass sie zumeist von der Energiewirtschaft nahestehenden Wissenschaftlern stammen ... ?
3. Die Schieflage zwischen der Besteuerung von Energie und Arbeit
Noch heute gehen die bekannten Wirtschaftstheorien von Kapital und Arbeit (und Boden) als alleinigen Produktionsfaktoren aus. Die Nennung des Produktionsfaktors Boden berücksichtigte den Anteil, den Grundbesitz an der landwirtschaftlichen Produktion hatte. Das vielleicht schwerste Versäumnis der Wirtschaftstheorie ist die Nicht-Wahrnehmung - oder sollte man sagen, die Ausblendung - des Produktionsfaktors Energie und ihrem Anteil an der industriellen Produktion.
Dieses theoretische Versäumnis führt in seiner praktischen
Folge dahin, dass Energie trotz ihrer Produktionsmächtigkeit nicht
- oder zumindest völlig unzureichend - besteuert wird, während
der über Jahrhunderte hinweg anerkannte Produktionsfaktor Arbeit völlig
über Gebühr mit Steuern belastet wird.
Energie trägt im Vergleich zur Arbeit fünf mal so viel zur
Wertschöpfung in der deutschen Volkswirtschaft bei, wird aber im Vergleich
zur Arbeit nur zu einem winzigen Bruchteil mit Steuern und Abgaben belastet.
Mit derartigen Rahmenbedingungen treibt der Staat die Unternehmen zur
weiteren "Freisetzung" von Personal - eine Verhaltensweise, die er gerade
vermeiden möchte.
Nur wenige Politiker haben verstanden, dass nur ein Steuersystem Abhilfe
schaffen kann, das eine allmähliche, aber konsequente Verschiebung
der Hauptsteuerlast von der Arbeit hin zur Energie bewirkt, wie es die
ökologische Steuerreform beabsichtigt. Dass diese Begründung
für die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform so unbekannt
ist, mag mit daran liegen, dass die Wirtschaftstheorie die oben genannte
Begründung erst liefern kann, wenn sie die Energie als selbständigen
Produktionsfaktor
anerkennt und sich seiner wahren Produktionsmächtigkeit bewusst
wird.
4. Das Wachstumsdogma
Fast wie unter einem kollektiven Zwang wird von Politik, Gesellschaft und leider auch Wissenschaft noch immer ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum als Garant, ja beinahe als Synonym für mehr Wohlstand und Beschäftigung angesehen. Die Sensibilität für die Fragwürdigkeit eines fortwährenden Wachstums ist nach wie vor erschreckend unterentwickelt.
Unter Wachstum versteht man dabei einen Zuwachs von einigen Prozent
jährlich. Die Mathematik bezeichnet ein solches Wachstum als "exponentielles
Wachstum".
Die Dynamik und Dramatik exponentiellen Wachstums wird von Nichtmathematikern
leider völlig unterschätzt. So bedeutet selbst eine - heute als
moderat bzw. ungenügend geltende - jährliche Wachstumsrate von
lediglich 2% eine Verdoppelung innerhalb von 35
Jahren, eine Verachtfachung nach 105 Jahren und nach 350 Jahren schließlich
ein Anwachsen auf das Tausendfache des Ausgangsniveaus. Es ist daher eine
unbestreitbare Tatsache, dass exponentielles Wachstum früher oder
später zum Zusammenbruch führen muss - ob früher oder später,
hängt im Wesentlichen von der Wachstumsrate ab.
Daher ist es dringend erforderlich, die Mechanismen aufzudecken, die unsere Wirtschaft zum permanenten Wachstum verdammen, die dazu führen, dass ein bloßes Absinken der Wachstumsrate auf z. B. 1 % - von einem Verharren auf konstantem Niveau ganz zu schweigen - bereits als Rezession bzw. Wirtschaftskrise empfunden wird.
Einer der Hauptmechanismen hängt aufs Engste mit der oben besprochenen
Schieflage in der Besteuerung von Energie und Arbeit und der daraus folgenden
fortlaufenden "Freisetzung" von Arbeitskräften zusammen. Damit diese
an anderer Stelle unterkommen
können und nicht das Heer der Arbeitslosen vergrößern,
ist es notwendig, dass die Volkswirtschaft insgesamt ständig weiter
expandiert.
Umgekehrt bedeutet dies: Die Beseitigung der Schieflage durch eine ökologische Steuerreform würde diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck und Wachstumszwang entschärfen und unserer Zivilisation die Freiheit zurückgeben, ihre eigene Zukunft zu gestalten, statt sich nur noch von - in der heutigen Situation teilweise durchaus realen! - Sachzwängen regieren zu lassen.
Eine weitere Erklärung für unsere Wachstumsbesessenheit ist die folgende: Materielles Wachstum dient uns als eine Art Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Bedürfnisse. Unsere Zivilisation durchleidet eine schwere Sinnkrise und flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben, vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen Lebens in einen unkontrollierten Konsumrausch: Konsum von materiellen Gütern und Konsum von Natur. Und wenn alle natürlichen Bedürfnisse gestillt sind, schaffen wir uns künstlich neue, immer maßlosere, denn, wie Seneca sagte: „die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn entstandenen finden kein Ende.“
Diese Betrachtungen machen deutlich, welch überragende Rolle bei der Beseitigung der besprochenen ökologischen Strukturfehler der ökologischen Steuerreform zukommen wird. Sie ist eine zwar sicherlich nicht hinreichende, aber doch unbedingt notwendige Bedingung für die Überwindung des Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie (oder genauer: für die Erkenntnis seiner Nichtexistenz) und damit für die Lösung der großen globalen Probleme sowohl der ökologischen als auch der sozialen Frage.
(gekürzt und überarbeitet aus Solarbrief 1/01)
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[sfv-rundmail] 13.12.2002 Zur Wirtschaftspolitik
*** Wachstumsfetischismus
Von Jürgen Grahl
Kollektive Depression (nicht nur) in Deutschland: Wir wachsen nicht schnell genug! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft werden nervös wie ein Pilot, dessen Flugzeug zu langsam geworden ist und kurz vor dem Strömungsabriss steht. Die Experten überbieten sich in guten Ratschlägen, was zu tun sei, um den festgefahrenen Wirtschaftstanker wieder flott zu bekommen - und auch 30 Jahre nach der Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts "Grenzen des Wachstums" erkennt kaum jemand, wie schief und irreführend die soeben benutzten Bilder in Wirklichkeit sind. Anlass genug, uns einmal mehr mit dem Wachstumsdogma kritisch zu beschäftigen. Dabei möchte ich mit der zentralen Frage beginnen, was uns derzeit dazu verdammt, weiter und weiter zu wachsen, und wie wir daran etwas ändern können, um dann im zweiten Teil noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie unnatürlich und absurd die Vorstellung permanenten exponentiellen Wachstums ist.
Zum Wachstum verdammt?
Bei fast jeder politischen Diskussionsrunde im Fernsehen bekommen wir
es gebetsmühlenartig zu hören:
"Wir brauchen mehr Wachstum, mehr Wachstum, mehr Wachstum..." Industrie
und Gewerkschaften, Marktradikale wie Anhänger eines starken, aktiven
Staates, in einem sind sie sich alle einig: darin, dass sie Wirtschaftswachstum
nach wie vor unverdrossen
als Voraussetzung, Garant und geradezu Synonym für mehr Wohlstand
und Beschäftigung ansehen. Besonders augenfällig wird dies im
Stabilitätsgesetz von 1967, welches ein "stetiges und angemessenes
Wirtschaftswachstum" gar als Ziel (nicht etwa nur als
Mittel) der Wirtschaftspolitik nennt. Vor der Bundestagswahl
2002 konnte der Unions-Kanzlerkandidat unwidersprochen einen erheblichen
Teil seines Wahlkampfarsenals daraus speisen, dass wir beim Wachstum "Tabellenletzter
in Europa" sind, und dem -
gleichermaßen im Wachstumsdogma verfangenen - alten und neuen
Bundeskanzler fiel dazu nichts Besseres ein, als uns darauf zu vertrösten,
dass die Zeiten wieder besser, sprich die Wachstumsraten wieder höher
würden, anstatt wenigstens damit zu kontern, wie unsinnig eine solche
Sortierung anhand der Wachstumsraten ist.
George W. Bush verstieg sich (bei der Vorstellung seines "Alternativplans"
zum Kyoto-Protokoll) gar zu der Aussage: "Dieses Vorgehen beruht auf der
Idee des gesunden [!] Menschenverstandes, dass dauerhaftes Wirtschaftswachstum
der Schlüssel zum Fortschritt in Umweltfragen ist [...]." (Frankfurter
Rundschau, 5.2.02)
Manche dieser Beschwörungen baldigen Wachstums erwecken den Eindruck,
ein Verdurstender spreche vom heiß ersehnten Regen. Mitunter mutet
dies geradezu wie eine Art Wachstumsfetischismus an. Zurecht fühlt
sich Franz Alt dabei "an das ideologische Palaver der DDR-Ökonomen,
etwa ab Mitte der 70er Jahre" erinnert ([1], S. 26). Dass es jedoch seit
Jahrzehnten nicht
gelingt, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, obwohl die Wirtschaft
doch ständig gewachsen ist, in der Bundesrepublik in den letzten dreißig
Jahren um real ca. 70%, erklären uns die Experten damit, die Wachstumsraten
seien eben immer noch nicht hoch genug.
Es fehlt nicht nur an Einsicht in die Fragwürdigkeit immerwährenden
Wachstums, sondern vor allem an Fantasie, sich vorzustellen, wie man auch
ohne Wachstum Probleme wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung oder Krise
der sozialen Sicherungssysteme in den Griff bekommen könnte - und
zwar ohne sozialen Kahlschlag.
Mit solcher Kritik alleine würden wir es uns freilich zu einfach
machen; wie ich im Folgenden näher erläutern will, ist unser
Wirtschaftssystem in seiner derzeitigen Form in der Tat auf permanentes
Wachstum angewiesen.
Die Konsequenz daraus darf allerdings nicht sein, die Anstrengungen
darauf zu richten, wie die benötigten Wachstumsraten noch ein Weilchen
aufrechterhalten (oder vielmehr: wieder erreicht) werden können, sondern
zu überlegen, wie sich das System so
modifizieren lässt, dass es ohne Wachstum funktioniert.
Beginnen wir damit, dass wir das Idealbild des "Aufschwungs" kritisch
hinterfragen. Jener so positiv besetzte Begriff trägt erheblich dazu
bei, die Wachstumsproblematik zu bemänteln; denn wer kann sich schon
ernsthaft gegen Aufschwung aussprechen, dagegen, dass es den Menschen besser
geht, die Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot kommen, die Gesellschaft
aus ihrer kollektiven Depression herausfindet? Auch die Theorie der Konjunkturzyklen,
aus der der Begriff des Aufschwungs letztlich stammt, klingt auf den ersten
Blick plausibel: Die Wirtschaftsleistung ist konjunkturellen Schwankungen
unterworfen, gute Zeiten wechseln sich mit schlechten Zeiten ab, und Wachstum
ist die Kraft, die uns aus den schlechten in die guten Zeiten führt.
Dagegen wäre im Prinzip auch nichts zu sagen, wenn nicht die Grenze
zwischen "guten" und "schlechten" Zeiten völlig falsch gezogen würde:
Die
konjunkturellen Schwankungen sollen nicht etwa ein Pendeln um die Nulllinie
bedeuten, wie es der gesunde Menschenverstand wohl erwarten würde,
sondern um einen gewissen Durchschnittswert von etwa 3%, ein Oszillieren
um einen von den Ökonomen gerne so
genannten "Wachstumspfad"; als Abschwung gilt nicht etwa nur ein Schrumpfen
der Wirtschaftsleistung ("Minuswachstum"), sondern bereits ein zu geringes
Wachstum (z.B. 0,8%), ein Zurückbleiben hinter jenem postulierten
Durchschnittswert. Eine echte
Schrumpfung, eine Rezession hingegen gilt schon als Wirtschaftskrise,
als mittlere Katastrophe. An dem offensichtlichen Widerspruch, Zeiten,
in denen es nur relativ gemächlich aufwärts geht mit der Wirtschaftsleistung,
als Abschwungphasen zu
bezeichnen, scheint sich niemand zu stören; bezeichnend dafür
ist, dass rückläufiges Wachstum und wirklicher Rückgang
der Wirtschaftsleistung nicht selten schlicht miteinander verwechselt werden.
Wie rechtfertigt sich dieser angeblich erstrebenswerte "Wachstumspfad"
von etwa 3%? Das ist keine Ökonomenwillkür, sondern ein empirischer
Wert dafür, wie viel Wachstum die Volkswirtschaft benötigt, um
die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dies geschieht nämlich
erst oberhalb der sog. Beschäftigungsschwelle, welche erfahrungsgemäß
bei etwa 2,5 bis 3% jährlichen Wachstums liegt; sind die Wachstumsraten
niedriger, steigt die Arbeitslosigkeit, womit sich indirekt - aufgrund
der dadurch bedingten Einnahmeausfälle - auch die Krise der Sozialversicherungssysteme
und die prekäre Lage der Staatsfinanzen weiter zuspitzt. Auch hier
sollte der gesunde Menschenverstand eigentlich die Stirn runzeln und sich
fragen: Wie kann das sein, dass trotz immer noch positiven, wenn auch schwachen
Wachstums die Arbeitslosigkeit zunimmt? Die Erklärung ist denkbar
einfach:
Im Zuge der Automatisierung und Rationalisierung werden fortlaufend
Arbeitskräfte "freigesetzt" (wie die massenhafte Vertreibung von Menschen
in die soziale Ungewissheit der Arbeitslosigkeit oftmals so euphemistisch
umschrieben wird). Diese können nur dann an anderer Stelle unterkommen,
wenn die Volkswirtschaft insgesamt schnell genug expandiert. Daher werden
in der Tat 2,5% bis 3% Wachstum benötigt, um die Arbeitslosigkeit
wenigstens konstant zu halten - und noch mehr, um sie allmählich abzubauen.
Die entscheidende Triebfeder für Automatisierung und Rationalisierung
und damit für Massenentlassungen bei fast allen großen Firmen
ist die eklatante Schieflage zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und
Energie, die wir bereits in früheren Artikeln ausführlich diskutiert
haben (siehe [6], [7], [10], [11]): Nach Studien von R. Kümmel, W.
Eichhorn, J. Henn und D. Lindenberger ([12], vgl. auch [4], [13] und [2])
liegt die Produktionsmächtigkeit (Produktionselastizität) der
Energie - ein Maß für die Leistungsfähigkeit der Energie,
für ihren "Beitrag" zur Gesamtwertschöpfung - in Deutschland
bei etwa 44%, der Anteil der
Energiekosten an den Produktionskosten hingegen bei lediglich knapp
5%; umgekehrt weist der Faktor Arbeit nur noch eine Produktionsmächtigkeit
von etwa 9% auf, macht aber ca. 65% der Produktionskosten aus. Stark vereinfacht
ausgedrückt: Energie ist etwa fünfzehn mal billiger als menschliche
Arbeit und trotzdem fünfmal "produktiver". Dieses extreme Gefälle
treibt einen
gigantischen Substitutionsprozess von der Arbeit hin zur Energie an,
genauer: von teuren und relativ produktionsschwachen Kombinationen von
Arbeit und Kapital hin zu billigen und produktionsmächtigen Energie-/
Kapitalkombinationen; hierdurch kommt es zu der angesprochenen permanenten
"Freisetzung" von Arbeitskräften, welche durch Wachstum kompensiert
werden muss. Wollen wir diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck
und Wachstumszwang entschärfen, so müssen wir die Schieflage
zwischen Energie und Arbeit geraderücken, indem wir durch eine Umschichtung
der Lohnnebenkosten und der direkten Steuern von der Arbeit hin zur Energie
die Faktorkosten wieder in ungefähren Einklang mit den Produktionsmächtigkeiten
bringen. Genau dies leistet die ökologische Steuerreform. Wer das
genannte Ungleichgewicht beseitigen will, muss allerdings auch erkennen,
dass es nicht ausreicht, die ökologische Steuerreform nur bis zur
dritten, vierten oder fünften Stufe zu treiben; vielmehr ist es notwendig,
über mehrere Jahrzehnte hinweg die Steuer- und Abgabenlast zu einem
großen Teil von der Arbeit hin zur Energie zu verlagern.
Hier soll kurz auf den Einwand eingegangen werden, es sei fortschrittsfeindlich,
Arbeiter wieder mit Tätigkeiten zu betrauen, die durch Maschinen viel
müheloser geleistet werden können. Dies wäre in der Tat
geradezu menschenverachtend und ist keinesfalls
das Ziel der ökologischen Steuerreform.
Was dann strebt sie an? Zum einen geht es um einen effizienteren Einsatz
der Energie. Zum anderen gibt es viele Tätigkeitsbereiche, in denen
menschliche Arbeitskraft jeder Maschine überlegen ist, etwa im medizinischen
oder karitativen Pflegedienst, bei technischen Instandsetzungsarbeiten
oder in der Bildung und Erziehung.
Unter der heutigen steuerlichen Belastung menschlicher Arbeitskraft
sind solche personalintensiven Tätigkeitsbereiche kaum noch finanzierbar.
Die Folge ist eine beklagenswerte, auf "Personalknappheit" beruhende "Entmenschlichung"
des öffentlichen Lebens:
überarbeitete Krankenschwestern und Ärzte, frustrierte Lehrer
vor viel zu großen Schulklassen, fehlendes Instandsetzungspersonal,
unbesetzte Post- und Bankschalter, fehlende Sorgfalt bei der Erstellung
von Computersoftware, mangelnde Erprobung neuer Geräte; eine ständige
Gehetztheit bei denjenigen, die noch Arbeit haben, und Verzweiflung und
Perspektivlosigkeit bei den Arbeitslosen. Insgesamt ein gewaltiger Verlust
an Lebensqualität! Und diese Entwicklung geht zur Zeit immer weiter
in die falsche Richtung. (Ausführlicher ist diese Thematik in [6]
diskutiert.)
Die obigen Überlegungen zeigen auch, dass das eigentliche Problem
gar nicht einmal so sehr die bereits bestehende Arbeitslosigkeit ist (ohne
diese etwa verharmlosen zu wollen), sondern die uns möglicherweise
noch Bevorstehende: Ohne entschlossenes Gegensteuern laufen wir Gefahr,
uns in Richtung der bereits von Hans-Peter Martin und Harald Schumann in
der "Globalisierungsfalle" an die Wand gemalten 20:80-Gesellschaft
zu bewegen, in der nur noch 20% Arbeit finden, 80% aber schlichtweg nicht
mehr gebraucht werden. Die sozialen Konsequenzen einer solchen Entwicklung
bedürfen sicherlich keiner
besonderen Ausschmückung ...
Man muss denjenigen Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, deren
Denken und Handeln darum kreist, wie wir wieder "ordentliches" Wachstum
bekommen, also tatsächlich konzedieren, dass sie aus der Perspektive
des gegenwärtigen Systems durchaus zweckrational handeln. (Das tut
übrigens ein Heroinsüchtiger auch, dessen Denken darum kreist,
wenigstens noch für
die nächsten Tage den benötigten Stoff aufzutreiben.)
Ein nicht hinnehmbares Versäumnis ist es jedoch, dass von den
Experten buchstäblich nichts zu der Frage zu hören ist, wie wir
uns aus dem Wachstumszwang befreien können: Die herrschenden ökonomischen
Theorien, die ich grob in Neoliberalismus und Neokeynesianismus unterteilen
möchte, nehmen beide den Zwang zum Wachstum als selbstverständlich
hin; sie unterscheiden
sich lediglich in den Konzepten, mit denen sie Wachstum stimulieren
möchten, und konzentrieren ihre Aufmerksamkeit folglich eher auf die
Angebotsseite oder die Nachfrageseite, auf die Förderung des "Investitionsklimas"
durch Deregulierung und Steuersenkungen oder auf die Ankurbelung der Binnennachfrage.
(Detailliert werde ich dies in dem Artikel "Vom Elend der konventionellen
Wirtschaftstheorien Oder die Vernachlässigung des Produktionsfaktors
Energie - Mehr als eine theoretische Spitzfindigkeit!"
besprechen.) Auf diese Weise bekämpfen sie nur die Folgen der
"Krankheit", nicht aber ihre Ursache.
Um ein vielleicht etwas aufreizendes, aber wie ich meine doch treffendes
Bild zu benutzen: Wir befinden uns derzeit in der Situation eines Mannes,
der ein großes Wasserfass auf vollem Füllstand halten will oder
muss. Leider hat das Fass aber ein kleines Loch,
durch das permanent ein wenig Wasser abfließt; daher ist der
Mann ständig damit beschäftigt, Wasser nachzuschütten, was
ihm anfangs, als er noch frisch und ausgeruht ist, leicht fällt, im
Laufe der Zeit, als seine Kräfte mehr und mehr erlahmen, jedoch
zunehmend schwerer; irgendwann gelingt es ihm nicht mehr, so viel nachzufüllen,
wie durch das kleine Loch abfließt, so dass der Wasserspiegel langsam,
aber unaufhaltsam abfällt. Die Freunde des Mannes, auf das Problem
aufmerksam geworden, überbieten sich in guten Ratschlägen, was
zu tun sei, Ratschlägen freilich, die alle darauf hinauslaufen, in
kürzerer Zeit mehr Wasser
nachschütten zu können. Aber niemand kommt auf den Gedanken,
die tiefere Ursache des Problems, das kleine Leck, zu beseitigen - entweder
weil dessen Existenz als selbstverständlich hingenommen und nicht
mehr hinterfragt wird, oder vielleicht auch nur, weil sich niemand herantraut,
es zu schließen.
Wie aber kommt es, dass diese Zusammenhänge nur relativ Wenigen
bewusst sind? Zum einen zeigt sich hier, wie sehr die volkswirtschaftliche
Bedeutung der Energie als mittlerweile bedeutsamster Produktionsfaktor
von den Wirtschaftswissenschaften
noch immer verkannt wird. Zum anderen liegt es daran, dass wir Rationalisierung
und Automatisierung bisher primär als Ausdruck technischen Fortschritts
angesehen und entsprechend willkommen geheißen haben, dabei jedoch
allzu blind darauf vertraut haben, dass der Fortschritt auch allen gleichermaßen
zugute kommen werde. In der Tat stellt sich die Frage, warum wir nicht
einfach alle in dem Maße, in dem im Zuge der Automatisierung der
Arbeitskräftebedarf sinkt, weniger arbeiten. Das ist ja die Idee,
die den bis heute (wenngleich leiser als früher) von den Gewerkschaften
erhobenen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich
zugrunde liegt. Dass für kürzere Arbeitszeit das gleiche Gehalt
gezahlt werden soll, wird dabei mit der gestiegenen Arbeitsproduktivität
begründet, damit also, dass die gleiche Leistung jetzt in kürzerer
Zeit erwirtschaftet wird. Wo liegt der Gedankenfehler dieser Argumentation?
Er liegt eigentlich bereits in der Formulierung "gestiegene Arbeitsproduktivität",
welche suggeriert, die erwirtschafteten Zuwächse seien allein dem
Faktor Arbeit zu danken (etwa weil die Arbeitnehmer fleißiger oder
effizienter geworden seien). "Gestiegene Arbeitsproduktivität" bedeutet
jedoch lediglich, dass die gleiche Wertschöpfung in einem veränderten
Betrieb jetzt mit geringerem Einsatz an menschlicher Arbeit erzielt werden
kann, und besagt nichts über die Gründe
hierfür; diese könnten sowohl in verbesserter Ausbildung,
gestiegenem Fleiß und menschlichem Erfindungsreichtum wie auch im
vermehrten Einsatz von Energie in neu angeschafften Maschinen und Computern
liegen.
Tatsächlich ist letzterer der vorherrschende Grund, dass nämlich
angesichts des zunehmenden Energieeinsatzes immer weniger an menschlicher
Arbeitskraft benötigt wird; dies drückt sich in der niedrigen
Produktionsmächtigkeit der Arbeit (9%) und der hohen Produktionsmächtigkeit
der Energie (44%) aus: Es ist in erster Linie der Produktionsfaktor Energie,
dem das wirtschaftliche Wachstum zuzuschreiben ist. Die hier erzielten
Zuwächse kommen aber nicht automatisch der breiten Bevölkerung
zugute,
sondern zunächst einmal denjenigen, die über die "Energiesklaven"
verfügen, also Unternehmen und Kapitalbesitzern. Früher gelang
es noch recht gut, diese Zuwächse zugunsten der Arbeitenden umzuverteilen;
aber die Zeiten haben sich geändert:
"Die Vermutung liegt nahe, dass in der Vergangenheit starke Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen den Beitrag der Energie zur Wertschöpfung erfolgreich für die Arbeitnehmer, und damit für breite Bevölkerungsschichten, reklamieren konnten. Die westlichen Demokratien incl. Japan sind mit der Verteilung des Volkseinkommens nach dem Schlüssel 70% für die Arbeitnehmer, 30% für Unternehmen und Vermögensbesitzer nicht schlecht gefahren. Wohlstand für alle sicherte nicht nur den inneren Frieden, sondern überzeugte auch die Regierenden und Regierten in den ehemals sozialistischen Ländern Europas von den Vorteilen einer Beendigung des Kalten Krieges und der Zusammenarbeit in einer demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Welt. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fortfall des konkurrierenden, theoretisch egalitären Gesellschaftsmodells schwinden mit wachsender Automation und abnehmendem Einfluss der Arbeitnehmervertretungen die Anreize und Möglichkeiten zum Erhalt der bisherigen, sozial bewährten Einkommensverteilung. Selbst wenn die Gewerkschaften nicht durch wachsende Arbeitslosigkeit und sinkende Mitgliederzahlen geschwächt würden, könnten sie nur für eine abnehmende Zahl von Arbeitsplatzbesitzern etwas hinzugewinnen." (R. Kümmel [13], S. 64 f.)
Dass diese früher selbstverständliche Umverteilung des Beitrags
der Energiesklaven hin zu den Arbeitnehmern heute nicht mehr funktioniert,
zeigt sich darin, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren die Reallöhne
stagniert sind, während die Kapital- und
Vermögenseinkommen stark gewachsen sind. Kurz gesagt: Der Faktor
Arbeit ist schlichtweg zu schwach geworden, als dass er die Partizipation
an dem von der Energie erwirtschafteten Teil des "Kuchens" noch aus eigener
Kraft durchsetzen könnte. Der Staat könnte versuchen, dies etwa
über die Festschreibung von Mindestlöhnen trotzdem zu erreichen;
damit würde er die Verlagerung
von der Arbeit zur Energie aber nur noch weiter beschleunigen, und
diese kann er schwerlich unterbinden. So lange die gewaltige Schieflage
zwischen Energie und Arbeit besteht, sitzt die Arbeit gewissermaßen
am kürzeren Hebel. In einem marktwirtschaftlichen Orientierungsrahmen
ist es eben auf Dauer nicht durchzuhalten, einen Produktionsfaktor weit
über seine tatsächliche Bedeutung hinaus zu bezahlen - so wünschenswert
dies aus gesellschaftlichen Gründen auch sein mag. Der naheliegendste
und beste, insbesondere auch marktwirtschaftlich eleganteste Ausweg besteht
darin, die Energie gemäß ihrer Leistungsfähigkeit zur
Finanzierung von Staatsaufgaben und sozialen Sicherungssystemen heranzuziehen,
um auf diese Weise alle in den Genuss des von den "Energiesklaven"
Erwirtschafteten kommen zu lassen. Dies bedeutet nicht, den "Fortschritt"
anzuhalten oder zurückzudrehen; wohl aber bedeutet es, dass
die Gesellschaft die Handlungsfreiheit zurückgewinnt, erst einmal
für sich selbst zu definieren, was sie als Fortschritt und somit als
erwünscht ansieht, und sodann einen entsprechenden Entwicklungspfad
anstelle
des monotonen und phantasielosen "Wachstumspfades" einzuschlagen. Oder
ist das wirklich noch Fortschritt, der uns zu seinem Gefangenen macht,
wenn wir ihm nicht schnell genug folgen auf dem Weg "aufwärts"?
Eine weitere interessante Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt,
ist die, was derzeit eigentlich mit den jährlich erwirtschafteten
Zuwächsen geschieht: Wie kann es sein, dass es uns immer schlechter
geht, der hochverschuldete Staat kein Geld mehr für Bildung hat, der
Sozialstaat immer unbezahlbarer wird, obwohl das Bruttoinlandsprodukt (BIP)
noch immer steigt
(wenngleich angeblich nicht schnell genug)? Wie kann es sein, dass,
wie Lothar Späth soeben erklärt hat, bei unter 1,5% Wachstum
die sozialen Sicherungssysteme kollabieren? (L. Späth am 6.10.2002
auf n-tv) Man sollte meinen, selbst die hohe Arbeitslosigkeit wäre
angesichts unserer gewaltigen Wirtschaftsleistung, die immerhin so hoch
ist wie nie zuvor, spielend zu
finanzieren, auch ohne die noch Arbeitenden über Gebühr zu
belasten. Wo also fließen die Zuwächse hin?
Hier sind zwei wichtige Aspekte zu nennen, die diesen scheinbaren Widerspruch
auflösen:
(1) Zum einen spiegelt das Wachstum des BIP nicht zwangsläufig
reale Wohlstandszuwächse wider, da ein zunehmender Teil in die Behebung
von Umweltschäden fließt. Man könnte zugespitzt sagen,
dass ein nicht mehr unerheblicher (und ständig wachsender)
Prozentsatz unserer im BIP ausgedrückten "Wertschöpfung"
nur noch in Reibungsverlusten besteht, wenn nämlich zunächst
durch die bei der Produktion angerichteten Umweltzerstörungen das
BIP steigt - und dann noch einmal bei deren Beseitigung.
(2) Zum anderen gehen, wie oben ausgeführt, die Beiträge zum
Wachstum in erster Linie auf das Konto des Faktors Energie; die breite
Bevölkerung konnte daran in den letzten Jahren kaum noch partizipieren:
Zwar versuchen die Gewerkschaften, die
"Produktivitätsgewinne" zugunsten der arbeitenden Bevölkerung
umzuverteilen, dies kann jedoch durch die Verlagerung von der Arbeit hin
zur Energie wirksam unterlaufen werden. Daher konnte durch Lohnerhöhungen
zuletzt gerade einmal die Preissteigerung ausgeglichen werden. Gerade die
Möglichkeiten der modernen Computertechnologie haben es den Arbeitgebern
abermals leichter gemacht, die Verteilungsgelüste der Gewerkschaften
mit der Drohkulisse eines weiteren Anziehens der Rationalisierungsschraube
(sprich des Abbaus von Arbeitsplätzen) zu zügeln; dass hierbei
immer wieder der "Sachzwang" des internationalen
Wettbewerbsdrucks als Rechtfertigung herhalten muss, verschleiert dabei
eher den Blick auf die viel fundamentalere "Konkurrenz" zwischen Arbeit
und Energie. Einem vergleichbaren Dilemma sehen sich Staat und Sozialversicherungen
ausgeliefert, die ihre
Finanzierung primär auf den immer schwächer werdenden und
daher nicht noch weiter belastbaren Faktor Arbeit stützen und es versäumt
haben, auch die Energie heranzuziehen.
Insofern ist ein Teil unserer Krise schlicht ein Verteilungsproblem: Es fehlt eigentlich gar nicht einmal so sehr an Geld, es ist in mancherlei Hinsicht nur falsch verteilt.
Bisher habe ich den Wachstumszwang primär ökonomisch erklärt,
mit der Schieflage zwischen Arbeit und Energie. Dies ist sicherlich ein
zentraler Aspekt; daneben gibt es aber noch eine wichtige sozialpsychologische
Komponente: Dass das Leitbild
permanenten Wachstums so selten hinterfragt wird, hängt auch mit
einem regelrechten Konsumrausch zusammen, dem unsere Zivilisation verfallen
ist. Es wäre freilich allzu einfach, dies vorschnell als ethisch verwerflich
zu verurteilen; zutreffender scheint es mir, darin - wie bei jeder Sucht
- eine Kompensationsreaktion zu sehen, eine Art Verdrängungsreflex,
in dem sich letztlich eine
kollektive Sinnkrise widerspiegelt: Materielles Wachstum dient als
Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Bedürfnisse;
unsere Zivilisation flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben,
vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen
Lebens in den hemmungslosen Konsum: Konsum von materiellen Gütern
und Konsum von Natur. (Diese These vertritt auch Al Gore in [9], Kapitel
12: "Die dysfunktionale Zivilisation"; vgl. hierzu ferner E. Fromm [8].)
Bezeichnend dabei ist es, dass, nachdem
alle natürlichen Bedürfnisse gestillt sind, künstlich
neue, immer maßlosere geschaffen werden müssen, denn, wie Seneca
sagte, "die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus
einem Wahn entstandenen finden kein Ende." Die förmliche Explosion
des Werbemarktes in unseren Tagen scheint mir ein Indiz dafür zu sein,
dass zumindest die reichen Industrienationen schon dicht an diese "natürliche"
Wachstums- bzw. Sättigungsgrenze herangerückt sind und sie nur
noch durch den massiven Einsatz psychologisch höchst raffinierter
Manipulationstechniken ein wenig vor sich herschieben können. Insofern
muss die Überwindung der
Wachstumssucht mit einem grundlegenden Bewusstseinswandel einhergehen
- welcher aber durch eine Beseitigung des ökonomischen Wachstumszwangs
wesentlich begünstigt werden wird.
In Diskussionen bekommt man häufig noch einen anderen als den hier
gegebenen Erklärungsversuch für den Wachstumszwang zu hören:
Und zwar komme es durch die ungeheure Dynamik des Zinseszinseffekts zu
einer gewaltigen, ständig zunehmenden Umverteilung zugunsten der Besitzer
von Geldvermögen. Schwere ökonomische und vor allem soziale Verwerfungen
seien die Folge; nur durch permanentes Wirtschaftswachstum könne die
Situation für alle einigermaßen erträglich gehalten werden.
Dies sei der "wahre" Grund unserer Wachstumsabhängigkeit. Mit diesem
Ansatz, seinen Stärken und Schwächen werde ich mich demnächst
in
einem eigenen Beitrag ausführlicher beschäftigen; an dieser
Stelle möge folgende Andeutung genügen: Die Argumentation der
"Zinskritiker" spricht zwar durchaus einen sehr wichtigen Grund für
zunehmende soziale Schieflagen in unserer Gesellschaft wie auch für
die eskalierende Staatsverschuldung an; jedoch gibt sie keine befriedigende
Erklärung für die geradezu mysteriöse Tatsache, dass trotz
steigender Wirtschaftsleistung die Arbeitslosigkeit zunehmen kann: Dies
lässt sich nur verstehen, wenn man sich die überragende Rolle
des Produktionsfaktors Energie bewusst macht.
Die Problematik dauerhaften exponentiellen Wachstums
Dass es auch ohne Wachstum gehen kann, wenn geeignete Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, sollte nunmehr deutlich geworden sein. Aber warum sollen wir uns überhaupt vom vertrauten, liebgewordenen Wachstumsdogma verabschieden? Hieße das nicht, auf Fortschritt zu verzichten? Und warum schon jetzt und nicht erst in 200 Jahren? Diesen Fragen will ich mich im Folgenden zuwenden.
Zunächst müssen wir uns klarmachen, dass die uns von den Experten
als angeblich unerlässliches Minimum für das Gedeihen unserer
Wirtschaft angedienten "mindestens 3% Wachstum", wenn sie Jahr für
Jahr wiederholt werden, in relativ kurzen Zeiträumen
praktisch alle Begrenzungen sprengen würden und insofern nicht
allzu lange gutgehen können. Den meisten Menschen ist nicht bewusst,
welche ungeheure Dynamik dem Wachstum mit einer konstanten jährlichen
Rate, dem sog. exponentiellen Wachstum innewohnt: Es verläuft zwar
anfangs relativ gemächlich und insofern "harmlos", wird dann jedoch
immer rasanter, um schließlich solch explosionsartige Formen anzunehmen,
dass sie alle menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Dies ist
dadurch bedingt, dass die betrachtete Größe Jahr für Jahr
aufs Neue nicht nur um den gleichen absoluten Betrag, sondern um den gleichen
Faktor wächst. Dementsprechend verdoppelt sie sich in einer gewissen
festen Zeitspanne auch immer und immer wieder. Für niedrige Wachstumsraten
lässt sich diese Verdoppelungszeit in guter Näherung berechnen,
indem man 70 durch die prozentuale Wachstumsrate dividiert. (Dies hat damit
zu tun, dass der natürliche Logarithmus von 2 ungefähr 0,70 beträgt.)
Bei einem jährlichen Wachstum von 3% bedeutet das eine Verdoppelung
binnen 24 Jahren, bei 5% innerhalb von 14 Jahren, bei 10% schon innerhalb
von 7 Jahren!
Nun mag eine Verdoppelung des Ausgangsniveaus in 24 Jahren noch als
einigermaßen akzeptabel erscheinen; verfolgen wir darum jene beinahe
magischen 3% Wachstum pro Jahr einmal über einen längeren Zeitraum:
Nach 47 Jahren kommt es schon zu einer Vervierfachung, nach 94 Jahren (also
ungefähr innerhalb eines Menschenlebens!) zu einer Versechzehnfachung,
nach 234 Jahren zu einer Vertausendfachung! Und, falls auch da noch nicht
Schluss ist mit Wachsen, nach 468 Jahren wären wir bereits - beim
2.000-fachen? - nein, beim 1.000.000- fachen des Ausgangsniveaus
angelangt!
Eine eindrucksvolle Illustration dieser Dynamik gibt H. Creutz ([3],
S. 145 f.): Nehmen wir an, wir hätten einen einzigen Cent im Jahr
von Christi Geburt zu einem jährlichen Zinssatz von 3% anlegen können.
Was hätte der Zinseszinseffekt - der ja DAS typische
Beispiel schlechthin für exponentielles Wachstum ist - seither
aus ihm gemacht? Bis zum Jahr 468 wären wir nach dem Gesagten bereits
bei 10.000 Euro angelangt. Im Jahre 1169 wären ungefähr 10 Billionen
Euro erreicht gewesen, was von der Größenordnung her in etwa
dem Volksvermögen in der Bundesrepublik entspricht. Noch nicht absurd
genug? Im Jahre 2002 schließlich wäre aus unserem niedlichen,
kleinen Cent ein Betrag geworden, der dem Wert von über 50 Billiarden
Tonnen Gold entspräche; das ist eine
Goldkugel von 170 km Durchmesser!