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Buch
VORWORT DES ÜBERSETZERS
Die Vision künftiger Menschheitsentwicklung,
die Lord Edward Bulwer in seinem Roman «Vril oder Eine Menschheit
der Zukunft» im vorigen Jahrhundert niederschrieb, ist in unserer
Gegenwart für jeden Menschen zum aktuellsten Problem geworden. Denn
man sucht heute Bilder und Vorstellungen zu gewinnen in der Frage, ob auch
in anderen Welten als der unserer Erdoberfläche menschenähnliche
Wesen zu finden seien oder eines Tages bei uns auftauchen werden, die vielleicht
sogar in ihren geistigen und praktischtechnischen Fähigkeiten viel
weiter entwickelt sein mögen als der jetzige Erdenmensch. Was man
derart heute im Bereich des planetarischen Umkreises erkunden will, erstand
in der Vision Bulwers als eine im Erdinneren selbst und unabhängig
von uns sich entfaltende Gemeinschaft von Wesen, die sich die Beherrschung
bisher unbekannter Naturkräfte erworben hat, hier «Vril»
genannt.
Durch die Entdeckung und Anwendung
solcher Naturkräfte ergibt sich nicht nur ein tiefgreifender Wandel
in der Meisterung der Technik, sondern auch eine bewußte Herrschaft
über die Lebensprozesse, damit aber auch eine völlig andersgeartete
Lebensweise und soziale Ordnung.
Wie aktuell ist es heute, was Bulwer
schon vor einem Jahrhundert für die Ausschaltung des Wagnisses kriegerischer
Auseinandersetzungen bei einer solchen Menschheit prophetisch voraussagte,
daß «mit den richtig geleiteten Vrilstrahlen auch die größten
Heere vom ersten bis zum letzten Mann blitzartig vom Leben zum Tode befördert
werden. Wenn zwei Armeen feindlich gegeneinander prallen und auf beiden
Seiten diese Kräfte verwendet werden, so kann es nur mit der Vernichtung
beider Armeen enden». Er beschreibt bereits Flugzeuge, die mit den
«Vrilkräften» betrieben werden. Auch schildert er bis
in Einzelheiten die verwandelte Situation durch Anwendung solcher neu entdeckter
Naturkräfte in der Heilkunst und der Ernährung. Die von jenen
Wesen in der Technik dienstbar gemachten, selbständig handelnden und
dirigierenden Roboter und Mechanismen verändern das soziale Leben
von Grund auf. Denn es ergeben sich aus alledem auch geistigseelische Wandlungen
im Wesen des Menschen durch die Mechanisierung des Lebens und das Schwinden
individueller und produktiver Schöpferkraft, Gefahren, die Bulwer
warnend und oft mit köstlichem, echt englischem Humor darstellt. Die
Erlebnisse des durch Zufall in die Sphären jener seltsamen Erdbewohner
geratenden Amerikaners und die sich dort ergebenden Abenteuer sind so farbenreich
und lebensnah beschrieben, daß es sich
zugleich wie ein spannender Roman
liest.
Daß Bulwer diese Art von Menschen
sich im Erdinnern entwickeln läßt, gehört zur Lizenz des
in Bildern Gestaltenden und ist nicht das Wesentliche dieser Inspiration
aus der Evolution der Zukunft, läßt er doch einen der Angehörigen
jener seltsamen Zukunftsrasse sagen: «Wo immer Gott Raum schafft,
da erfüllt er ihn auch mit Wesen. Er liebt nur, was Wohnstatt für
Leben und Wesen ist.» So schaute Bulwer schon im inneren Bilde, was
jetzt Inhalt menschlicher Vermutungen und Fragen an die kosmische Umwelt
geworden ist.
Nach dem Ersten Weltkriege forderte
mich Rudolf Steiner auf, dieses Werk Bulwers ins Deutsche zu übersetzen.
Als ich ihm damals erwiderte, daß die Inhalte doch recht phantastische
seien, entgegnete er, dies sei nur scheinbar und zeitbedingt, in Wirklichkeit
habe Bulwer im inneren
Bilde richtig geschaut, was in der
Evolution potentiell veranlagt sei, insbesondere durch die zukünftige
Entdeckung bisher unbekannter Naturkräfte. Die Bilderwelt in Bulwers
Werk sei teils als Rückschau in verlorengegangene Fähigkeiten
des Menschen in frühester Vorzeit der «atlantischen Epoche»,
insbesondere aber als Vorschau in künftige Evolutionsphasen ein sehr
wesentlicher Beitrag. So entschloß ich mich im Jahre 1922 zur nachfolgenden
Übertragung, wofür er den Entwurf der Einbandzeichnung selbst
anfertigte und mir übergab. Da die Auflage längst vergriffen
ist, soll dies Werk heute in Neuauflage wieder zugänglich gemacht
werden, um in der radikalen Wandlung unseres Weltbildes, am Beginn der
Beherrschung atomarer Kräfte, beim Vorstoß in bisher unbekannte
Regionen der Natur und des Weltraumes, die Stimme eines in die Zukunft
schauenden Erdenmenschen zu Wort kommen zu lassen.
Wer eine Schrift Bulwers in unserer
Zeit übersetzen will, muß die Freiheit beanspruchen, manches
mehr dem Sinn als dem Worte nach zu übertragen. Denn hie und da wirft
Bulwer auch ironische Streiflichter auf besondere Verhältnisse, Anschauungsrichtungen
und Persönlichkeiten seiner eigenen Heimat und Zeit, die als solche
dem Leser von heute meist nicht mehr bekannt sein würden.
Insoweit solche Dinge für uns
ohne genaue Kenntnis damaliger Zeiten und Probleme nicht verständlich
oder bedeutungslos wären, sind sie im folgenden weggelassen oder dem
Sinne nach in die Gedankenwelt unserer Zeit übertragen.
Eine zukünftige Menschheit,
welche Postulate, die sie einst für sehr hoffnungsvoll hielt, in der
irdischen Wirklichkeit als ganz lebensunfähig erkennen wird; eine
Zukunft, die gewaltige neue Naturkräfte sich erobern, sie aber anfänglich,
ohne die Folgen zu überschauen, nur ungenügend beherrschen wird,
die darum auch so manche versteckte und zwischen den Zeilen zu lesende
Warnung Bulwers gewiß nicht befolgt, wird sich doch mit dem Gedanken
durchdringen: daß sich Dichtung und Wahrheit, phantastische Zukunft
und wirkliche Gegenwart gar schnell folgen und eins werden!
Dornach, 1958
Dr. Guenther Wachsmuth
1. KAPITEL
Ich wurde geboren in den Vereinigten
Staaten von Amerika. Meine Vorfahren gehörten zu jenen Auswanderern,
die zu den Zeiten Karls des Zweiten England verließen. Da mein Großvater
sich im großen Unabhängigkeitskrieg ehrenvoll auszeichnete,
spielten die Nachkommen seither eine hervorragende Rolle im gesellschaftlichen
Leben des neuen Landes. Weil die Familie zugleich wohlhabend war, galt
sie nach den damaligen Begriffen jedoch von vornherein als für die
Staatsdienste ungeeignet; und als mein Vater trotzdem den Versuch machte,
einen Sitz im Kongreß zu erobern, wurde er selbstverständlich
durch die Anhängerschaft seines Schneiders überstimmt. Nach diesem
Mißerfolg zog er sich völlig von den Dingen der Politik zurück
und widmete die meiste Zeit des übrigen Lebens seiner umfangreichen
Bibliothek in stillem Studium.
Ich war der älteste seiner
drei Söhne. Sechzehn Jahre alt, wurde ich nach der alten englischen
Stammesheimat hinübergesandt, um meine wissenschaftliche Erziehung
zu vervollkommnen, aber auch um die übliche wirtschaftliche Ausbildung
in einem Handelshause Liverpools zu erfahren.
Doch als in meinem einundzwanzigsten
Lebensjahr mein Vater starb und ich dadurch in den Besitz eines großen
Vermögens und zu unumschränkter Lebensfreiheit gelangte,
ließ ich meiner angeborenen Lust zu Reisen und Abenteuern freien
Lauf, verzichtete auf die Jagd nach dem Dollar und wurde ein unsteter Wanderer,
der in ewigem Wechsel durch alle Länder dieser Erde irrte.
Ein eigenartiger Zufall führte
mich im Jahre 18.. nach einer Stadt, deren Namen ich nicht nennen möchte.
Dort besuchte ich einen Ingenieur, den ich auf Reisen kennengelernt hatte,
und es gab sich, daß er mich zum Besichtigen der unterirdischen Schächte
eines Bergwerkes aufforderte, das ihm unterstellt war. Der Leser wird im
Laufe dieser Erzählung verstehen, warum ich so hartnäckig jede
genauere Ortsangabe vermeide, ja er wird mir vielleicht sogar dankbar sein
dafür, daß ich die Entdeckung dieses Ortes durch mein Schweigen
unmöglich mache.
Es sei deshalb nur kurz angedeutet,
daß ich den befreundeten Ingenieur in das Innere des Bergwerkes begleitete
und mich von dessen geheimnisvollen Wundern so stark innerlich angezogen
fühlte, daß ich aus Interesse für die weiteren Ausgrabungen
meines Freundes den Aufenthalt in dieser Gegend verlängerte und viele
Wochen lang täglich in den Gewölben und unterirdischen Gängen
umherschweifte, die hier von der Natur oder dem menschlichen Willen unter
der Erdoberfläche geschaffen waren. Der Ingenieur hatte es sich in
den Kopf gesetzt, daß noch viel reichere Ausbeuten mineralischer
Schätze dort verborgen seien in einem neuen Schacht, dessen Ausgrabung
er selbst leitete. So gelangten wir eines Tages beim tieferen Eindringen
in eine Höhle, deren Wandungen zackig und scheinbar verkohlt waren,
als seien sie in längst vergangenen Urzeiten durch vulkanische Feuer
auseinandergesprengt worden.
Mein Freund prüfte zuerst die
Atmosphäre durch eine Sicherheitslampe und ließ sich dann in
einem Korb am Seil in die Tiefen hinunter. Fast eine volle Stunde blieb
er im Abgrund. Als er zurückkam, war er seltsam blaß und auf
seinem sonst so heiteren, furchtlosen Antlitz waren deutlich die Zeichen
einer inneren Beunruhigung, ja sogar Angst, zu lesen.
Er äußerte nur mit kargen
Worten, daß er das Hinabsteigen weiterhin für zu unsicher halte
und überdies wohl auch für resultatlos. Dann befahl er, alle
weiteren Nachforschungen in diesem Schacht einzustellen und kehrte mit
uns in die bekannteren Teile des Bergwerks zurück.
Den ganzen Tag über schien
er mir wie in der Gefangenschaft eines bestimmten Gedankens. Er war ungewöhnlich
schweigsam und in seinen Augen lag ein scheuer, verstörter Blick,
wie ihn zuweilen Menschen zeigen, die einen Geist gesehen haben. Als wir
am späten Abend in unserer nahe beim Bergwerke gelegenen Wohnung einsam
beisammensaßen, sprach ich meinen Freund darob an:
«Sage mir doch offen, was
du in dem Schacht gesehen hast, es muß ja etwas ganz Seltsames und
Furchtbares gewesen sein. Aber was es auch sei, es hat dich in einen verzweifelten
Zustand versetzt, und in solchen Fällen sind zwei Köpfe immer
besser als einer, also heraus mit der Sprache!»
Doch der Ingenieur versuchte lange
Zeit noch, meinen eindringlichen Fragen auszuweichen. Da er sich aber während
des Sprechens in außergewöhnlichem Maße mit alkoholischen
Getränken stärkte, während er sonst in diesen Dingen sehr
mäßig war, so schmolz seine Verschlossenheit langsam dahin.
Endlich begann er:
«Nun, ich will dir alles erzählen.
Als der Korb unten angelangt war, befand ich mich auf einem Felsrücken,
unter mir fiel die Schlucht steil in so große Tiefen hinab, daß
meine Lampe die ungeheure Dunkelheit nicht zu durchdringen vermochte. Aber
zu meiner größten Überraschung strömte ein strahlendes,
glänzendes Licht aus der Tiefe herauf. Ob es ein vulkanisches Feuer
war? Aber in diesem Falle hätte ich doch die Hitze spüren müssen!
Dieser Zweifel mußte unbedingt behoben werden, um unsere Arbeit in
diesen Höhlen zu sichern. Ich untersuchte also die Wände der
Schlucht und fand, daß ich es schon wagen durfte, durch behutsames
Vorgehen auf den unregelmäßigen Vorsprüngen und Felskanten
tieferzudringen, wenigstens auf eine kurze Entfernung. Ich verließ
den Korb und kletterte hinab. Je näher ich dem eigenartigen Lichte
kam, um so weiter wurde auch die Schlucht, und denke dir mein Erstaunen,
als ich plötzlich auf dem Boden des Abgrundes einen breiten, ebenen
Weg entdeckte, der, soweit das Auge reichen konnte, in regelmäßigen
Abständen durch eine Art künstlicher Lampen erleuchtet war, etwa
so wie in den Straßen einer Großstadt. Und aus der Ferne hörte
ich ein Gesumme wie von menschlichen Stimmen. Nun weiß ich
aber doch genau, daß in dieser Gegend keine anderen als unsere eigenen
Bergleute tätig sind. Was können das also für Stimmen sein
? Welche menschlichen Hände können diesen Weg geebnet und diese
Leuchtkörper angezündet haben? Der alte Glaube, der so oft unter
den Bergleuten umläuft, daß Gnomen oder Dämonen im Innern
der Erde hausen, erfaßte auch mich. Ich erbebte bei dem Gedanken,
tiefer hinabzusteigen und den Bewohnern dieses unterirdischen Tales zu
begegnen. Auch hätte ich es ohne längere Taue gar nicht vermocht,
da von der Stelle, wo ich stand, bis zum Boden des Abgrundes die Felswände
steil und schroff in die Tiefe gingen. Ich kletterte also mit einiger Schwierigkeit
jenen Weg zurück, den ich gekommen war. So, nun weißt du alles!»
«Willst du noch einmal hinabsteigen?»
«Ich sollte wohl, doch mir
ist, als wagte ich es nicht.»
«Ein treuer Begleiter verkürzt
die Reise und verdoppelt den Mut. Ich werde mit dir gehen! Wir wollen uns
mit Tauen von ausreichender Länge und Stärke ausrüsten aber,
verzeih du darfst heute abend wirklich nicht mehr trinken! Wir werden
morgen feste Hände und sichere Füße mehr als je nötig
haben.»
2. KAPITEL
Am andern Morgen waren die Nerven
meines Freundes wieder vollauf gekräftigt, und er war nicht weniger
von Neugierde erregt als ich selbst. Ja, er war es vielleicht noch mehr,
denn er glaubte offenbar felsenfest an sein Erlebnis, während ich
mich starker Zweifel nicht erwehren konnte.
Nicht daß ich ihm etwa eine
bewußte Unwahrheit zugetraut hätte, aber ich hielt es für
möglich, daß er einer jener Sinnestäuschungen verfallen
war, welche sich oft unserer Phantasie und unseres Verstandes in einsamer,
ungewohnter Umgebung bemächtigen, und in denen wir dem Form losen
eine Gestalt, dem Stummen einen Ton geben.
Wir wählten sechs erfahrene
Bergleute aus, die uns beim Abstieg ins Erdinnere helfen sollten; und da
der Korb nur eine Person faßte, so fuhr der Ingenieur als erster
in die Tiefe. Als er den Felsenvorsprung erreicht hatte, bei dem er das
erste Mal Halt machen mußte, kam der Korb wieder herauf, um nun auch
mich hinabzulassen. Bald befand ich mich an seiner Seite. Wir hatten uns
mit starken Tauen wohl bewaffnet.
Ja, jetzt erblickte auch ich das
eigenartige Licht, das tags zuvor meinen Freund überrascht hatte.
Die Höhlung, aus der es heraufströmte, war durch eine schräge
Felswand noch verdeckt. Es schien mir ein gedämpftes atmosphärisches
Licht zu sein, nicht wie das eines Feuers, sondern weich und silbern wie
von einem Nordlicht. Ich verließ den Korb, und wir stiegen nun, einer
hinter dem anderen, dank der Felsvorsprünge mit Leichtigkeit in die
Tiefe, bis wir den Ort erreichten, an dem mein Freund das letzte Mal umgekehrt
war, einem Felsstück, eben groß genug, um uns zwei Menschen
Platz zum Stehen zu bieten. Von diesem Punkte aus ging die Höhle in
eine weite, tunnelartige Schlucht über, und ich vermochte nun deutlich
das Tal, die Straße und die Leuchtkörper zu sehen, ganz wie
sie mein Freund beschrieben hatte. Er hatte in nichts übertrieben.
Ja, ich hörte sogar die Laute, die er vernommen ein wirres,
nicht zu beschreibendes Summen wie von Stimmen und das gedämpfte Schreiten
von Füßen. Ich strengte meine Augen stärker an und erkannte
deutlich in einiger Entfernung ein großes Gebäude. Es konnte
unmöglich nur ein natürlicher Felsblock sein, es war zu symmetrisch,
mit mächtigen ägyptischen Säulen versehen, und von innen
hell erleuchtet. Ich trug ein kleines Taschenfernrohr bei mir, mit dessen
Hilfe ich in der Nähe des erwähnten Gebäudes sogar zwei
menschenähnliche Gestalten wahrzunehmen vermeinte, doch war ich dessen
nicht ganz sicher. Es waren auf jeden Fall Lebewesen, denn sie bewegten
sich und verschwanden beide in dem Gebäude. Wir befestigten nun mehr
das Ende des mitgebrachten Taues an dem Felsstück, auf dem wir standen
durch eiserne Haken und mit dem notwendigen Werkzeug, mit dem wir versehen
waren. Die Arbeit verlief unter völligem Schweigen. Wir arbeiteten
wie Menschen, die sich fürchten, miteinander zu reden.
Nachdem das eine Ende anscheinend
fest an dem Felsen befestigt war, ließen wir das andere Ende, durch
einen Stein beschwert, bis zum Boden des Abgrundes hinab. Ich war jünger
und geschickter als mein Begleiter, da ich als junger Mensch einmal an
Bord eines Schiffes Dienst getan hatte, und deshalb auch mit dieser Art
von Klettern besser vertraut. Flüsternd bat ich um den Vortritt, um,
wenn am Boden angelangt, seinen Abstieg durch Straffziehen des Seiles erleichtern
zu können. Ich erreichte glücklich den Grund, und nun begann
auch der Ingenieur sich herabzulassen. Aber kaum war er etwa zehn Meter
tief herabgeglitten, als plötzlich die Haken, die wir für so
sicher gehalten hatten, nachgaben, vielleicht auch weil der Fels, nur trügerisch
fest, unter der Last abbröckelte. Der unglückliche Mensch stürzte
in den Abgrund, fiel gerade vor meinen Füßen nieder und riß
dabei noch einige Felsstücke mit herab, von denen einer, der glücklicherweise
klein war, mich traf, so daß ich eine Zeitlang bewußtlos dalag.
Als ich meine Besinnung dann wiederfand,
erblickte ich meinen Freund als leblose Masse neben mir. Während ich
mich aber in Kummer und Entsetzen über seinen Leichnam beugte, hörte
ich dicht neben mir einen seltsamen Ton, halb Schnaufen, halb Zischen.
Instinktiv wandte ich mich nach der Stelle um, woher das Geräusch
kam, und sah aus einer finsteren Felsspalte einen ungeheuerlichen, entsetzlichen
Kopf mit gähnendem Rachen und starren, gespenstigen, gierigen Augen
den Kopf eines Ungetüms, ähnlich dem eines Riesensalamanders
oder auch Alligators, nur unendlich viel größer als die größten
Geschöpfe dieser Art, die ich je auf meinen Reisen gesehen.
Entsetzt sprang ich auf und floh,
so schnell ich konnte, hinein in das unbekannte Tal. Doch endlich, beschämt
ob meiner Furcht und feigen Flucht, hielt ich an und kehrte zu dem Orte
zurück, wo ich den Körper meines toten Freundes im Stich gelassen
hatte. Er war fort. Sicher hatte ihn das Ungeheuer schon in seine Höhlungen
geschleppt und dort vernichtet. Das Seil und die Kletterhaken lagen noch
so da, wie sie herabgestürzt waren, ließen mir aber nicht die
geringste Hoffnung auf Rückehr; es war ja unmöglich, sie wieder
oben am Felsen zu befestigen, und die Felswände selbst waren zu steil
und glatt, als daß menschliche Füße hätten hinaufklettern
können. So war ich denn allein in dieser fremden Welt im Innern der
Erde.
3. KAPITEL
Langsam und vorsichtig wanderte
ich meinen einsamen Weg, entlang jener lampenerleuchteten Straße
und auf das eigenartige große Gebäude zu. Der Weg selbst glich
einem Alpenpaß, eingeengt von hohen Felsen, ähnlich der Schlucht,
aus der ich kam. Tief unten lag zur Linken ein weites Tal.
Mein erstaunter Blick gewahrte die
untrüglichen Zeichen von Werken der Kultur und Kunst. Da waren Felder,
bedeckt mit einer fremdartigen Pflanzenwelt, die in nichts dem glich, was
ich bei meinen Reisen auf Erden gesehen hatte; ihre Farbe war nicht grün,
sondern eher von bleiernem Grau oder goldschimmerndem Rot. Da waren Seen
und Bäche, die in künstliche Ufer eingedämmt schienen; einige
von hellklarem Wasser, andere glänzten und leuchteten wie Quellen
von Naphtha. Zu meiner Rechten öffneten sich Schluchten und Höhlen
zwischen den Felsen, mit Stegen verbunden, die sichtbar künstlich
gefertigt waren. Eingerahmt wurden sie von den seltsamsten Bäumen,
riesigen Farrengewächsen gleichend, mit federartigem Laub von der
wunderbarsten Mannigfaltigkeit üppig bewachsen. Viele von ihnen erinnerten
an Palmen, andere an das schlanke Zuckerrohr, und sie trugen üppige
Blütendolden. Andere wieder hatten das Aussehen mächtiger Pilze,
auf kurzem gedrungenem Stil trugen sie weite domartige Dächer, von
denen lange schlanke Zweige erstanden oder herabfielen.
Und die ganze Szene, hinter mir,
neben mir, vor mir, soweit das Auge reichte, war erhellt von unzähligen
leuchtenden Lampen. Diese Welt ohne Sonne war seltsamerweise hell und warm
wie eine italienische Landschaft um Mittag, doch die Luft weniger drückend,
die Hitze milder.
Auch fehlte es der vor mir ausgebreiteten
Gegend nicht an Zeichen von lebenerfüllter Behausung. In der Ferne
sah ich Gebäude an den Ufern der Seen und Bäche oder an den Abhängen
bewachsener Felsen. Sie waren eingebettet in bebautes Land und mußten
gewiß die Wohnstätten lebender Wesen sein. Ja, ich entdeckte
sogar Gestalten, die sich in den Fernen der Landschaft bewegten, und es
deuchte mich, als ob sie von menschlichen Formen wären.
Da, als ich mein Schauen in die
Weite unterbrach, gewahrte ich zu meiner Rechten ein Etwas, das rasch durch
die Lüfte glitt, es schien mir einem Schiffe zu ähneln, doch
getrieben von Segeln, geformt wie Flügel. Bald entschwand es meinem
Blick in dem Schatten eines Waldes.
Kein Himmel war über mir, sondern
nur ein höhlenartiges Gewölbe. Diese Wölbung wurde immer
höher und weiter in der Ferne und verlor sich im Unendlichen, gleich
einer dunstigen Atmosphäre.
Ich setzte meine Wanderung fort
und scheuchte dadurch ein Gebilde auf, das von Tang von Meeresalgen, farnartigen
Stauden, teils auch der Aloe oder Feigendistel ähnlichen Gewächsen
überwuchert schien ein wunderliches Getier von Größe
und Gestalt eines Hirsches. Aber als es sich umwandte und mich fragend
anschaute, da gewahrte ich, daß es nicht jenem Wild glich, das wir
oben auf der Erde noch finden. Es rief mir die Erinnerung wach an eines
der Museumsmodelle von vorsintflutlichen Tieren, das ich als zur Gattung
der Elche gehörig bestimmt hatte.
Dies Geschöpf aber war zahm,
und als es mich mit ein oder zwei Blicken gemustert hatte, begann es wieder
zu äsen in seiner seltsamen Weide, sorglos und unerschrocken.
4. KAPITEL
Jetzt hatte ich es erreicht, das
seltsame Gebäude. Ja, es war wirklich gebaut von Menschenhand, zum
Teil heraus gemeißelt aus dem wuchtigen Felsen. Ich vermeinte, dem
ersten Eindrucke folgend, daß es nach dem frühesten Stile ägyptischer
Baukunst gebildet sei. Seine Front bildeten mächtige Säulen,
die von massigen Sockeln nach aufwärts hinstrebten, gekrönt von
erhabenen Kapitalen, die reicher waren an Ornamenten und phantastischem
Zierat als es der strenge ägyptische Stil zuläßt. Gleichwie
das korinthische Kapital das Blatt des Akanthus nachahmt, so trugen die
Kapitale hier die Symbole der umgebenden Pflanzenwelt, aloeartig, oder
auch die Formen der Farne nachbildend.
Und jetzt trat eine Gestalt aus
diesem Gebäude menschlich; ja, war sie menschlich? Sie stand
auf der Straße und blickte umher, ward meiner ansichtig, kam auf
mich zu.
Bis auf wenige Schritte näherte
sie sich mir. Eine unbeschreibliche Furcht, ein Zittern, ergriff mich durch
ihren Blick und ihre Gegenwart. Wie angewurzelt stand ich da.
Die Gestalt erinnerte mich an Symbole
und Bilder von Genien oder Dämonen, wie man sie auf etruskischen Vasen
findet, oder auch gemalt an den Grabeskammern im Orient Bilder, die im
Umriß dem Menschen noch gleichen und doch Wesen sind von anderer
Art. Die Gestalt war nicht
riesenhaft, aber sehr groß,
überragend die Formen mir ähnlicher Menschheit.
Mir schien, daß die Kleidung
vor allem aus zwei riesigen Flügeln bestand, die jetzt auf der Brust
übereinandergefaltet lagen und herabreichten bis an die Knie. Im übrigen
sah ich nur eine Tunika und Gamaschen von gewebtem Stoff.
Der Kopf trug eine Tiara, von Juwelen
strahlend, während die rechte Hand einen schlanken Stab hielt von
leuchtendem Metalle wie poliertem Stahl.
Aber das Gesicht! Das war es, was
in mir Furcht und Schrecken erzeugte. Es war das Gesicht eines Menschen,
und doch, es war nicht der Typus uns jemals bekannter Rassen. Im Umriß
und
Ausdruck verwandt dem Antlitz aus Stein gehauener Sphinxe so regelmäßig,
so ruhig, so
geistvoll, von so geheimnisvoller
Schönheit! Eine eigenartige Farbe der Haut, der roten Menschenrasse
ähnlicher als anderen, und doch wesensverschieden von ihr, von ausdrucksvoller
Schattierung, darinnen die tiefgründigen, schwarzen, großen
und leuchtenden Augen lagen, und Brauen gewölbt wie ein Halbkreis.
Das Gesicht war bartlos. Ein eigentümliches Etwas sprach aus diesem
Antlitz, von innerer Ruhe, beherrscht und ausdrucksvoll, ja schön.
Doch es erweckte in mir jenen Instinkt
vor der Gefahr, wie ihn der Anblick der Schlange gibt oder die Nähe
des Tigers.
Ich fühlte, daß diesem
menschenähnlichen Wesen Kräfte verliehen waren, die unserem Menschengeschlecht
feindlich sind. Es trat auf mich zu, ein kalter Schauer überkam mich.
Ich sank auf die Knie und verbarg mein Gesicht in den Händen.
5. KAPITEL
Eine Stimme ertönte an meinem
Ohr eine sehr ruhige und melodische Stimme in einer Sprache,
die ich in keinem Worte verstand aber sie verscheuchte meine Furcht.
Ich nahm die Hände von meinem Gesicht und schaute auf. Der Fremde
ich suchte mich innerlich zu zwingen, ihn
für einen Menschen anzusehen
betrachtete mich mit einem Blicke, der das Innerste meines Herzens zu entziffern
suchte. Dann legte er seine linke Hand mir langsam auf die Stirn und berührte
meine Schulter mit dem seltsamen Stabe, den seine Rechte hielt. Diese zweifache
Berührung war von einer magischen Wirkung. Statt des früheren
Schreckens durchströmte mich nun ein unendliches Wohlgefühl,
ja Freude, Vertrauen in mich selbst und das Wesen vor mir.
Ich erhob mich und redete zu ihm
in meiner eigenen Sprache. Er hörte mir zu mit scheinbarer Aufmerksamkeit,
doch auch mit dem Ausdruck leichter Überraschung; dann schüttelte
er das Haupt, wie zum Zeichen, daß er mich nicht verstand. Nun faßte
er mich an der Hand und führte mich schweigend zu jenem Gebäude.
Der Eingang war offen ja, er war überhaupt nicht mit einer Tür
versehen. Wir betraten eine weite
Halle, die von dem gleichen künstlichen
Licht erstrahlte, das auch die Außenwelt erhellte, jedoch hier noch
einen angenehmen Wohlgeruch verbreitend. Der Fußboden war gebildet
aus großen Platten kostbarster Metalle, zum Teil mit einem gewirkten
Teppich belegt. Eine Flut leiser Musik wogte im Räume wie von unsichtbaren
Instrumenten. Sie schien mir so natürlich zu dieser ihrer Umgebung
zu gehören wie das Gemurmel der Gewässer zu gebirgiger Landschaft
oder das Trillern der Vögel zu den Hainen im Frühling.
Eine Gestalt, in ähnlicher,
wenn auch schlichterer Tracht als mein Führer, stand regungslos an
der Schwelle. Mein Begleiter berührte sie zweimal mit seinem seltsamen
Stabe, da setzte sie sich rasch in Bewegung und glitt lautlos über
den Boden dahin. Ich starrte sie an, bis ich bemerkte, daß es nicht
eine lebendige Gestalt war, vielmehr ein menschenähnlicher Mechanismus,
ein Automat. Etwa zwei Minuten, nachdem er durch die türlose Öffnung
verschwunden war, die am anderen Ende der Halle durch Vorhänge halb
verdeckt lag, erschien durch die gleiche Öffnung ein Knabe von ungefähr
zwölf Jahren. Seine Gesichtszüge ähnelten so stark denen
meines Begleiters, daß ich sie sogleich als Vater und Sohn erkannte.
Als das Kind mich erblickte, stieß es einen Schrei aus und richtete
drohend einen metallenen Stab auf mich, den es nach Art meines Führers
in der Hand trug. Auf ein rasches Wort des Älteren hin senkte es ihn
wieder. Die zwei sprachen jetzt eine Zeitlang miteinander und betrachteten
mich forschend während der Rede. Schließlich berührte das
Kind sogar meine Kleider und bestrich mit der Hand mein Gesicht voll sichtlicher
Neugier, indem es einen Laut von sich gab, der unserem Lachen ähnlich
war, doch mit einer sanfteren Heiterkeit als sie oft in unserem Gelächter
liegt. In diesem Augenblick tat sich das Dach der Halle auf und eine Platte
kam herab, die wohl nach dem Prinzip der «Lifts» konstruiert
war, wie wir sie oben in Hotels und in Warenhäusern verwenden.
Der Fremde stellte sich und den
Knaben auf die Platte und gab mir ein Zeichen, desgleichen zu tun; ich
folgte ihm. Wir stiegen rasch und sicher auf und landeten in der Mitte
eines Korridors, von dem Gänge nach allen Seiten hin ausliefen.
Durch einen dieser Gänge geleitete
man mich in ein Zimmer, das mit orientalischem Luxus erfüllt war.
Die Wände waren getäfelt mit kostbaren Metallen und ungeschliffenen
Juwelen. Kissen und Diwans waren im Überflusse verteilt. Statt der
Fenster hatte das Zimmer Öffnungen nach dem Gange hinaus, die nicht
mit Glas ausgefüllt waren, aber, wie ich bemerkte, auf weitläufige
Balkons führten, von wo der Blick die hell erleuchtete Landschaft
weithin beherrschte. Von der Decke des Raumes herab hingen Käfige
mit Vögeln von seltsamer Gestalt und präch
tigem Gefieder; bei unserem Eintreten
stimmten sie im Chor einen Gesang an, der in der Harmonie seiner Töne
an die Gesänge unserer Dompfaffen erinnerte. Ein köstlicher Duft,
der aus goldziselierten Räuchergefäßen entströmte,
erfüllte die Luft. Auch hier standen verschiedene mechanische Menschen,
Automaten, stumm und regungslos an den Wänden, gleich dem, der uns
schon vorher Dienste geleistet hatte. Der Fremde geleitete mich zu einem
Diwan, und wiederum begannen wir zu sprechen, jedoch ohne uns irgendwie
einander verständlich machen zu können.
Aber ich begann jetzt wohl die Folgen
des Schlages zu fühlen, den ich beim Herabstürzen der Felsstücke
erhalten hatte. Es überkam mich plötzlich ein Gefühl krankhafter
Schwäche, begleitet von heftigen, stechenden Schmerzen im Kopf und
im Nacken. Ich sank auf den Diwan zurück und bemühte mich vergebens,
ein Stöhnen zu unterdrücken. Da kniete der Knabe, der mich bisher
voller Mißtrauen und Widerwillen zu beobachten schien, neben mir
nieder, um mir zu helfen. Er legte eine meiner Hände zwischen die
seinigen und näherte seinen Kopf meiner Stirn, indem er sie leise
anhauchte. Schon nach wenigen Augenblicken ließen die Schmerzen nach,
eine einschläfernde, wohltuende Ruhe durchströmte mich, ich versank
in Schlaf.
Ich weiß nicht, wie lange
dieser Zustand gewährt hat, doch als ich erwachte, war ich völlig
gesundet. Ich öffnete die Augen und erblickte vor mir eine Gruppe
stummer Gestalten, die mit dem ruhigen Ernst und der Würde von Orientalen
um mich herum saßen sie alle glichen mehr oder weniger dem
ersten Fremden. Die gleichen mantelartigen Flügel trugen sie, die
gleiche Tracht, die gleichen sphinxähnlichen Gesichter, mit den tiefen
dunklen Augen und der rothäutigen Tönung des Körpers; vor
allem derselbe Typus der Rasse der menschlichen Rasse verwandt,
doch weit stärker im Bau und
größer an Gestalt. Sie alle flößten mir das gleiche
unaussprechliche Gefühl von Furcht ein. Zwar zeigte eines jeden Miene
Beherrschtheit und Milde, ja selbst Güte; aber es ist seltsam, war
mir doch, als ob gerade in dieser gleichmäßigen Ruhe und Güte
das
Geheimnis jener inneren Furcht verborgen
sei, die mir diese rätselhaften Wesen einflößten. Ihre
Gesichter schienen frei zu sein von den Linien und Schatten, wie sie Furcht
und Sorge, Leidenschaft und Sünde dem menschlichen Antlitz auf Erden
einprägen, so frei wie die Statuen marmorner Götter oder gleich
friedvollen Toten, wie dies der christliche Leidtragende anschaut.
Ich fühlte eine warme Berührung
auf meiner Schulter es war des Knaben Hand. Seine Augen zeigten mir jenen
Ausdruck von herzlichem Mitleid, das wir einem leidenden Vogel oder dem
gefangenen Schmetterling schenken. Ich wich vor dieser Berührung,
ich wich vor diesem Blicke
zurück. Mich erfaßte
ein unsagbares Gefühl, wie wenn dieses Kind, hätte es nur gewollt,
mich auch töten könnte, so leicht wie wir Menschen ja auch Vögel
und seltene Schmetterlinge zu töten pflegen. Aber das Kind schien
von meinem Widerwillen schmerzlich berührt, verließ mich und
schritt einem der offenen Fenster
zu. Die anderen führten ihre Unterredung in gedämpftem Tone fort,
und an ihren Blicken konnte ich bemerken, daß sie über mich
verhandelten. Einer von ihnen schien einen dringenden Vorschlag zu verfechten
gegenüber jenem Fremden, dem ich zuerst
begegnet war, und dieser wiederum
mochte wohl den Worten seines Gegenübers endlich zustimmen, als der
Knabe plötzlich vom Fenster herzueilte, sich zwischen mich und die
anderen Gestalten aufstellte, wie um mich zu schützen, und dies mit
heftigen Worten und Gebärden begleitete.
Eine Intuition oder auch ein sicherer
Instinkt sagten mir, daß dieses Kind, dem ich mit soviel Widerwillen
begegnet war, jetzt für meine Rettung sich einsetzte. Bevor seine
Rede zu Ende war, betrat ein anderer Fremder das Zimmer. Er mochte älter
sein als die übrigen, wenn auch nicht greisen haft; sein Gesicht,
weniger sanft und milde als das der anderen, wenn auch von der gleichen
Regelmäßigkeit der Züge, erinnerte mich mehr an Menschliches,
das mir verwandt ist. Ruhig und gelassen nahm er die ihm zugeworfenen Worte
entgegen und schenkte zuerst meinem Führer, dann den übrigen
und schließlich dem Knaben Gehör.
Nun wandte er sich mir zu und versuchte
sich mir, nicht durch Worte, sondern durch Zeichen und Gebärden verständlich
zu machen. So glaubte ich ihn völlig zu verstehen, und ich irrte mich
nicht. Ich begriff, daß er fragte, woher ich sei. Ich streckte meine
Hand aus und wies die Richtung
des Weges, den ich von der Felsenschlucht
hierher wanderte. Da erfaßte mich ein Gedanke. Ich zog mein Notiz
buch hervor und entwarf auf einem weißen Blatt eine flüchtige
Zeichnung von dem Felsen, dem Seil und wie ich mich daran herabließ,
dann von der Höhle im Abgrund,
dem Kopfe des Ungeheuers und dem
leblosen Körper meines Freundes. Diese primitive Art von Hieroglyphenschrift
überreichte ich dem mich Fragenden, der sie nun ernst betrachtete,
dann seinem Nachbar übergab, so daß sie unter den Versammelten
die Runde machte.
Der, dem ich zuerst begegnet war,
sprach ein paar Worte, worauf der Knabe herzutrat, meine Zeichnung betrachtete,
dann nickte, als ob er den Sinn recht verstanden habe, und dem Fenster
zuschritt. Dort breitete er auf einmal jene Flügel aus, die mir an
seinem Körper schon aufgefallen
waren, bewegte sie ein oder zweimal
und schwebte plötzlich hinaus in den weiten Raum. Verblüfft sprang
ich auf und rannte zum Fenster. Der Knabe flog bereits durch die Lüfte,
getragen von seinen Flügeln, die er aber doch nicht auf und nieder
bewegte, wie es die Vögel tun; nein, seine
Flügel wölbten sich nur
über seinem Körper und schienen ihn ohne sein Zutun gleichmäßig
durch die Atmosphäre zu tragen.
Sein Flug war so rasch wie der eines
Adlers. Ich bemerkte, daß er dem Felsen zuflog, aus dem ich entstiegen
war, dessen düstere Umrisse deutlich zu sehen waren. Nach kurzer Zeit
schon kehrte er zurück, flog herein in die Öffnung, durch die
er uns verlassen, landete auf dem Boden
und legte hier Seil und Werkzeuge
nieder, die ich am Abgrund der Schlucht verlassen hatte. Einige geflüsterte
Worte wurden jetzt unter den Anwesenden getauscht, dann berührte einer
unter ihnen mit dem Stabe einen Automaten, der sofort vorwärts schritt
und den Raum verließ. Darauf erhob sich der Zuletztgekommene, der
mit mir in der Zeichensprache verhandelt hatte, nahm mich bei der Hand
und führte mich hinaus in den Gang. Dort erwartete uns die Plattform,
auf der wir heraufgekommen waren. Wir stellten uns darauf und landeten
so wiederum drunten in
der Halle. Mein neuer Begleiter
führte mich an der Hand aus dem Gebäude heraus in eine Straße,
die sich von hier aus erstreckte, umgeben von Häusern, deren herrliche
Gärten mit einer farbenprächtigen Pflanzenwelt und den seltsamsten
Blüten erfüllt waren. In diesen Gärten, die
durch niedrige Wälle getrennt
waren, und in den Straßen wandelten gemächlich viele Gestalten
jener eigenartigen Rasse, die ich nun kennenlernen sollte. Einige der Vorüber
gehenden, die mich bemerkten, näherten sich meinem Führer und
richteten nach Tonfall, Blick und Gesten nicht mißzuverstehende Fragen
an ihn, die mich betrafen. Bald scharte sich eine Menge um uns, die mich
mit großem Interesse betrachtete, als ob ich ein seltenes wildes
Tier wäre. Doch auch während sie ihre Neugierde zur Genüge
befriedigten, bewahrten sie hierbei eine ernste, höfliche Zurückhaltung,
und nach einigen Worten meines Führers, in denen er sich anscheinend
jede Störung verbat, traten sie mit einer stolzen Neigung des Hauptes
zurück und nahmen ihren Weg mit ruhiger Gleichgültigkeit wieder
auf.
Inmitten dieser Straße machten
wir an einem Gebäude Halt, das sich von den bisher gesehenen Häusern
unterschied. Es umrahmte die drei Seiten eines geräumigen Vorhofes,
und an seinen Ecken erhoben sich wuchtige pyramidenartige Türme. Im
weiten Vorhofe sah ich eine ungeheure Fontäne, aus der blendende Strahlen
hervorsprühten, die ich für Feuer hielt. Durch einen offenen
Eingang betraten wir das Haus und kamen in eine mächtige Halle, wo
viele Gruppen von Kindern mit verschiedensten Arbeiten beschäftigt
waren, so daß das Ganze den Eindruck einer Fabrik machte. An der
Seite war denn auch eine riesige Maschine in voller Tätigkeit. Da
sie Räder und Zylinder hatte, erinnerte sie an die bei uns üblichen
Maschinen, jedoch war sie künstlerisch verziert durch kostbare Steine
und Metalle und schien eine seltsam phosphoreszierende Atmosphäre
von vibrierendem Licht auszustrahlen. Manche Kinder waren bei einer geheimnisvollen
Arbeit an dieser Maschine tätig, andere saßen an langen Tafeln.
Ich hatte nicht Gelegenheit, meine Blicke über dieses Bild schweifen
zu lassen, um herauszubekommen, was sie denn nun eigentlich taten. Keine
der jugendlichen Stimmen wurde laut keines der emsigen Gesichter beachtete
uns im geringsten.
Die Kinder blieben so still und
gleichgültig wie Geister, durch deren Mitte unbeachtet die Gestalten
der Lebenden schreiten.
Wir verließen diese Halle
und betraten eine Galerie, deren reiche Malereien mit Gold etwas überladen
waren, etwa Bildern von Lucas Cranach vergleichbar. Diese Gemälde
versinnbildlichten, wie mir schien, geschichtliche Ereignisse aus dem Werdegang
jener Rasse, bei der ich mich
jetzt befand. Die meisten der darauf
abgebildeten Gesichter glichen den menschenähnlichen Geschöpfen,
die mich hier auch lebend umgaben, aber nicht alle hatten die gleiche Kleidung,
auch fiel mir auf, daß nicht alle Gestalten Flügel trugen. Die
dargestellten Tiere und Landschaften waren mir völlig fremd. Soweit
mir meine recht unvollkommene Kenntnis der Malkunst es erlaubt, eine Meinung
zu äußern, muß ich sagen, daß diese Malereien sicher
sehr korrekt gezeichnet und mit verschwenderischem Farbenmaterial hergestellt
waren, auch von einer perfekten Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten
der Perspektive zeugten, aber die Einzelheiten entsprachen nicht gerade
unseren Ansichten von künstlerischer Komposition es fehlte ihnen
nämlich an einem Schwerpunkt, so daß die Wirkung auf den Beschauer
geradezu beängstigend ruhelos, unbestimmt und verwirrend war. Sie
waren eigentlich mehr die Fragmente eines vergangenen Traumes über
Kunst.
Jetzt betraten wir ein weniger geräumiges
Zimmer, in dem eine Gruppe von Menschen, die ich später als die Familie
meines Führers kennenlernte, um einen gedeckten Tisch bei der Mahlzeit
saß. Es war die Gattin meines Begleiters, seine Tochter und seine
beiden Söhne. Sofort fiel mir der wesentliche Unterschied zwischen
den beiden Geschlechtern auf. Hier waren die Frauen von größerer
Statur und robusteren Formen als die Männer; auch waren die weiblichen
Gesichtszüge zwar regelmäßiger in der Linienführung,
doch ohne jenen sanften und zurückhaltenden Ausdruck, der dem Frauenantlitz,
wie wir es oben auf der Erde schätzen, seinen ureigenen Reiz verleiht.
Ich bemerkte, daß die Gattin keine Flügel trug, während
die ihrer Tochter sogar größer waren als die Flügel der
Männer.
Nach ein paar Worten meines Führers
erhoben sich alle von ihren Sitzen, begrüßten mich mit dem ihnen
eigentümlichen milden Blick und den schon vorhin beschriebenen abgemessenen
Bewegungen, die offenbar eine charakteristische Besonderheit dieser furchtbaren
Rasse sind, in
dem sie die rechte Hand auf die
Stirn legen und dabei den zischenden Laut Ssi! hören lassen,
was soviel heißt wie:
Willkommen!
Die Herrin des Hauses ließ
mich neben ihr Platz nehmen und reichte mir ein Gericht auf goldener Schüssel.
Während ich aß obwohl die Speisen mir fremd waren, bewunderte
ich doch ihren eigenartigen Wohlgeschmack und den anregenden Duft
unterhielt sich die Familie ruhig miteinander und vermied, wie ich feststellen
konnte, jede Anspielung auf mich oder die neugierige Betrachtung meiner
Erscheinung. Und doch war ich ja schließlich das erste Geschöpf
dieser Art Menschen, zu der ich mich rechne, das sie je zu Gesicht bekommen
hatten. Ich mußte
also für sie ein sehr befremdliches
und abnormes Phänomen sein. Aber diesem Volke ist jede Roheit fremd,
und schon dem jüngsten Kinde wird gelehrt, jedes Zurschautragen von
Gefühlen und Leidenschaften zu vermeiden. Die Mahlzeit war beendet,
mein Gastgeber nahm mich wieder bei der Hand, führte mich in die Galerie
und berührte dort einen metallenen Taster, der mit seltsamen Figuren
beschrieben war und den ich wohl richtig für etwas unserem Telegraphen
Ähnliches hielt. Eine Platte senkte sich herab, die uns dieses Mal
viel höher hinauf beförderte als in dem anderen Gebäude,
bis wir uns in einem Zimmer mittlerer Größe befanden, das in
seiner Einrichtung einen Besucher aus der Oberwelt fast heimatlich anmutete.
An den Wänden waren lange Regale mit Büchern gefüllt, die
sehr klein und in feine Metallplättchen eingebunden waren. Mehrere
absonderliche Mechanismen lagen hier und da, so daß man sich eigentlich
in das Studierzimmer eines gelehrten Mechanikers versetzt fühlte.
Vier Automaten, von der Art der menschenähnlichen Mechanismen, die
bei dieser Rasse die Zwecke der Dienerschaft erfüllten, standen gespensterhaft
starr in jeder Ecke des Zimmers. In einer Nische befand sich das Lager,
zum Glück einem Bette recht ähnlich. Ein Fenster, dessen gewebte
Vorhänge zurückgeschoben waren, zeigte auf einen großen
Balkon, den mein Gastgeber nun mehr betrat, von mir gefolgt. Wir befanden
uns auf der höchsten Galerie einer jener eckigen Pyramiden, von der
aus der Blick weit hinaus schweifen konnte in eine Landschaft von wilder,
feierlicher, unbeschreiblicher Schönheit.
Wuchtige Ketten steiler Felsen bildeten
den fernen Horizont, dazwischen Täler, erfüllt mit einer Pflanzenwelt
in mystischer Farbenpracht, blitzende Gewässer, deren Ströme
in glühroten Flammen aufschäumten, und ein strahlender Glanz,
der sich aus den Myriaden brennender Lampen über alles ergoß.
Dieses Wunder umfaßte der Blick zu einem Bilde, das zu schildern
die Worte der Sprache nicht ausreichen. So erhaben war es, und doch so
düster, so anmutig, und doch so bedrückend.
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit
von dem Betrachten der Landschaft auf etwas Erstaunliches abgelenkt. Von
der Straße tönte eine fröhliche Musik herauf, und nun schwebte
eine geflügelte Gestalt hinauf in die Luft, eine zweite folgte ihr,
eine dritte, eine vierte, und immer mehr, bis zahllose Scharen von beflügelten
Menschen in die Lüfte hinaufschwirrten. Wie soll ich die phantastische
Grazie dieser Gestalten schildern, die auf und abflutend sich in der durchleuchteten
Atmosphäre bewegten! Sie schienen ihr Spiel und Vergnügen in
den Lüften zu treiben, bald bildeten sie fliegende Gruppen, bald schwirrten
sie wieder auseinander, jetzt durchschwebte eine Gruppe die andere, emporfliegend
und herabgleitend, sich verwebend und um schwirrend erfüllten diese
fliegenden Gestalten die erleuchtete Luft, ja, dies alles geschah sogar
nach den Rhythmen und Harmonien der sanften Musik, die von unten herauftönte.
Es war wie ein Zaubertanz Peris. In fieberhaftem Staunen wandte ich den
Blick nach meinem Wirt. In der Begeisterung wagte ich es, meine Hand auf
die großen Flügel zu legen, die auf seiner Brust gefaltet übereinander
lagen. Aber kaum hatte ich sie berührt, als ein leichter, wie elektrischer
Schlag mich durchzuckte. Erschrocken fuhr ich zurück, mein Wirt lächelte
nur, und als ob er liebenswürdig meine Neugier befriedigen wollte,
breitete er langsam seine Flügel aus. Da entdeckte ich, daß
seine Kleider unter den Schwingen sich blähten wie eine mit Luft gefüllte
Blase. Die Arme glitten in die Flügel hinein, und einen Augenblick
später hatte er sich schon in die leuchtende Atmosphäre hinaufgeschwungen
und schwebte dort ruhig, mit ausgebreiteten Flügeln, wie ein Adler,
der sich in den Fluten des Sonnenlichts wiegt. Dann, rasch wie ein Vogel,
glitt er herab, mitten hinein in eine der fliegenden Gruppen, schwebte
in ihrer Mitte und erhob sich plötzlich wieder in größere
Höhen. Jetzt lösten sich drei Gestalten von dem fliegenden Schwärme
los, in der einen erkannte ich seine Tochter, und folgten ihm flugs wie
ein Vogel dem anderen. Meine Augen, geblendet vom Licht und verwirrt von
all diesem Durcheinander, vermochten schon nicht mehr die Kreise und Evolutionen
der geflügelten Gespielen zu unterscheiden; da tauchte mein Führer
aus der Menge hervor und, herabfliegend, stand er bald wieder an meiner
Seite.
All das Seltsame, was ich gesehen,
fing nun an, meinen Geist zu verwirren; eine innere Unruhe verstörte
mich. Obgleich wenig zum Phantastischen geneigt und bisher von dem festen
Glauben beseelt, daß der Mensch nicht im Körper mit Dämonen
verkehren kann, empfand ich wohl gerade deshalb jetzt Furcht und Schrecken,
ergriff mich jene wilde Erregung, in der in vergangenen Zeiten die Reisenden
sprachen von den Taten der Kobolde und Dämonen. Nur noch dunkel entsinne
ich mich dessen, was dann geschah. Heftig gestikulierend und mit verstörten
Worten bedrohte ich meinen doch so gütigen, sanften Begleiter, der
mich vergebens zur Ruhe und zur Vernunft zu bringen versuchte; ja, seine
beschwichtigenden Gebärden, welche andeuteten, daß es wohl nur
der Unterschied in Gestalt und Bewegung sei, was mich in Furcht und Verwirrung
gebracht habe, sie erhöhten nur meine unsinnigen Ängste; auch
sein freundliches Lächeln, mit dem er, seine Flügel zu Boden
senkend, mir zeigte, daß sie nur eine mechanische Erfindung wären,
nichts gab mir meine Selbstbeherrschung zurück. Diese plötzliche
Umwandlung erregte meine Angst nur noch mehr, und da höchste Furcht
oft zu den höchsten Wagnissen führt, sprang ich wie ein wildes
Tier auf ihn los und packte ihn an der Kehle. Im Augenblick darauf lag
ich wie von einem elektrischen Schlage getroffen am Boden.
Das letzte verwirrte Bild, das vor
meinen Augen vorbei flutete, bevor ich die Besinnung verlor, war die Gestalt
meines Begleiters, wie er vor mir kniete, seine Hand auf meiner Stirn,
und neben ihm das schöne, ruhevolle Antlitz seiner Tochter, mit den
großen, tiefen, unergründlichen
Augen, die sich fest in die meinen
versenkten.
6. KAPITEL
In diesem bewußtlosen Zustande
blieb ich, wie man mir später erzählte, mehrere Tage, ja nach
unserer Zeitrechnung mehrere Wochen. Als ich wieder zu mir kam, befand
ich mich in einem fremdartigen Zimmer, mein Gastgeber und seine Familie
waren um mich versammelt und zu meinem
höchsten Erstaunen redete mich
die Tochter in meiner eigenen Sprache an, nur mit einem etwas fremdartigen
Tonfall.
«Wie fühlen Sie sich?»
fragte sie.
Es währte einige Augenblicke,
bis ich meine Überraschung bemeistern konnte, dann stammelte ich:
«Sie kennen meine Sprache? Wie ist das möglich? Wer, woher sind
Sie?»
Mein Gastgeber lächelte und
wandte sich an einen seiner Söhne, der nun von einem Tisch eine Anzahl
dünner Metallblätter nahm, auf denen die verschiedensten Dinge
gezeichnet waren, ein Haus, ein Baum, ein Vogel, ein Mensch und anderes
mehr. In diesen Abbildungen erkannte ich meine eigene Art zu zeichnen wieder.
Unter jeder Figur stand die zugehörige Bezeichnung in meiner Sprache
und in meinen Schriftzeichen geschrieben, daneben aber ein fremdes Wort
in einer mir unbekannten Schrift.
«So fingen wir an»,
sagte mein Gastgeber, «und meine Tochter Zee, die zur Akademie der
Gelehrten gehört, ist unsere Lehrmeisterin gewesen.»
Zee, die Tochter, brachte nun auch
noch andere Metallblätter, auf denen mit meinen Schriftzeichen zuerst
Worte, dann sogar ganze Sätze geschrieben standen. Unter jedem Worte
und Satze waren wieder fremde Buchstaben von anderer Hand. Nach kurzem
Nachdenken begriff ich, daß man eine Art Wörterbuch hergestellt
hatte. War das geschehen, während ich bewußtlos dalag?
«Das ist für jetzt genug»,
sagte Zee in befehlendem Tone. «Ruhen Sie sich aus, und genießen
Sie etwas!»
7. KAPITEL
Ein eigenes Zimmer wurde in diesem
geräumigen Haus für mich angewiesen. Es war sehr hübsch
und phantastisch geschmückt, aber ohne jene Pracht an Metall und Juwelen,
wie man sie in den öffentlichen Räumen entfaltete. Wände
und Boden waren mit buntfarbigen, aus pflanzlichen Stoffen gewobenen Matten
bespannt. Das Bett war ohne Vorhänge, seine metallenen Füße
ruhten auf kristallenen Kugeln; die Decken bestanden aus einem feinen,
weißen Gewebe. Regale mit den schönen, metallgebundenen Büchern
zierten die Wände. Eine durch Vorhänge ver
deckte Nische enthielt einen Käfig
mit den prächtigsten Singvögeln, fremdartig und verschieden von
unserer Vogelwelt; selbst ein Tier, das ich zunächst für eine
Taube hielt, trug einen Büschel blaustrahlender Federn. All diese
Vögel waren darauf abgerichtet, eine kunstvolle Tonwelt zu liefern,
und übertrafen bei weitem das kluge Geschick unserer Dompfaffen oder
gar Papageien, die nur wenige Töne zu modulieren verstehen und wohl
niemals in abgetönten Chören zu singen vermögen. Hier jedoch
glaubte man sich in die Oper versetzt, wenn man beschaulich den Harmonien
der Vogelwelt meines Zimmerkäfigs lauschte. Duette, Quartette, ja
sogar Chöre stimmten sie an, die gelehrigen Schüler dieser fremdartigen
musikalischen Kunst. Aber wie sollte ich die Vögel zum Schweigen bringen?
Ich brauchte nur den Vorhang zum Käfig zu schließen, in der
Finsternis verstummte sofort ihr Gesang.
Das Zimmer hatte als Fenster wieder
nur Öffnungen ohne Scheiben, aber wenn man einen Mechanismus in Bewegung
setzte, schloß es sich durch eine Scheibe aus matt durchsichtigem
Stoffe, der doch den Blick in die Weite gewährte. Vor dem Fenster
befand sich auch hier ein Balkon, der an die hängenden Gärten
des Südens erinnerte, wo in Fülle die herrlichsten Blumen und
leuchtende Blüten dufteten. So hatte dies Zimmer einen Charakter,
der, wenn auch recht fremd in den einzelnen Dingen, als Ganzes mir heimisch
und luxuriös wohl behagte, ja, es wäre der
Bewunderung in der Oberwelt sicher,
wenn zwischen den Gemächern einer englischen Herzogin oder eines französischen
Romanciers gelegen. Vor meiner Ankunft war dies Zees Zimmer gewesen, sie
hatte es mir gastfreundlichst überlassen.
Etwa einige Stunden nach meinem
Erwachen aus jener tiefen Bewußtlosigkeit lag ich allein in meinem
Zimmer und versuchte meine Gedanken zu sammeln zu einem Bild von der Natur
und Art dieses seltsamen Volkes, in dessen Bereich mich das Schicksal geworfen,
als mein Gastgeber
und seine Tochter eintraten. Er
fragte mich, auch jetzt in meiner eigenen Sprache, voller Höflichkeit,
ob mir eine Unterhaltung wohl angenehm sei oder ob ich Einsamkeit vorzöge.
Ich erwiderte, daß ich mich durch seinen Besuch sehr geehrt und vor
allem verpflichtet fühle, meinen herzlichsten Dank für die gütige
Gastfreundschaft und die unzähligen Aufmerksamkeiten zu erstatten,
mit denen ich überschüttet würde, in einem Lande, in dem
ich doch Fremdling sei, und ich hoffe, recht bald seine Sitten zu lernen,
um nicht durch Unwissenheit gegen sie zu verstoßen.
Während dieser Anrede hatte
ich mich natürlich von meinem Lager erhoben, aber zu meiner größten
Verblüffung ersuchte mich Zee ebenso höflich wie bestimmt, mich
sofort wieder niederzulegen, und in Stimme und Blick lag bei ihr ein Etwas,
das, wenn auch liebenswürdig, doch mei
nen unbedingten Gehorsam erforderte.
Darauf setzte sie sich selbst am Fußende meines Bettes nieder, während
der Vater auf einem der herumstehenden Diwans sich niederließ.
«Aus welchem Teile der Welt
kommen Sie denn nun eigentlich», fragte mein Gastgeber, «daß
wir so völlig fremdartige Wesen für Sie sind, und auch Sie für
uns ? Wir haben nahezu von allen Rassen, die existieren, irgendein Exemplar
zu sehen bekommen, außer ein paar tierhaften
Wilden, die in den entferntesten,
ödesten Höhlen hausen, die kein anderes Licht als das vulkanische
Feuer kennen, und, wie alles kriechende Gewürm, zufrieden in der Finsternis
herumtappen, ja, nicht einmal fliegen können! Aber Sie werden doch
nicht von diesen halbtierischen Wilden herstammen, andererseits gehören
Sie aber auch offensichtlich keiner der zivilisierten Rassen an.»
Etwas gereizt über diese letzte
Bemerkung, erwiderte ich, daß ich die Ehre hätte, einem der
zivilisiertesten Völker der Erde anzugehören, daß ich,
was das Licht beträfe, zwar die erfinderische und großzügige
Art bewunderte, mit der mein Gastgeber und seine Landsleute irdische Regionen
durch mechanische Lichtapparate beleuchteten, weil dorthin kein natürlicher
Sonnenstrahl dringt, aber doch nicht begreifen könne, wie irgend jemand,
der nur einmal die Himmelskörper gesehen hätte, ihrem wahren
Lichte das durch Mechanismen erzeugte künstliche Licht für alle
Zeit vorziehe. Es erstaune mich auch seine Bemerkung, daß er Exemplare
aller menschlichen Rassen gesehen hätte, außer den paar tierähnlichen
Wilden. Ob es nicht vielleicht daran liege, daß er wohl nie auf der
Erdoberfläche gewesen sei und deshalb als «Menschen» nur
diejenigen
Wesen bezeichne, die zum Beispiel
im Innern des Erdkörpers lebten? Mein Gastgeber wahrte einige Minuten
lang völliges Schweigen. Sein Antlitz zeigte den Ausdruck höchster
Überraschung, was bei dieser Art Lebewesen ja selbst unter den außergewöhnlichsten
äußeren Umständen nur sehr selten einmal vorkommt. Aber
Zee war klüger und rief aus: «Da sieht man es doch, Vater, daß
in der uralten Überlieferung
etwas Sinnvolles steckt; es ist
eben immer verborgene Wahrheit in den heiligen Traditionen, die sich so
hartnäckig von Generation zu Generation durch alle Zeiten erhalten.»
«Zee», sagte ihr Vater,
«du gehörst zur Akademie der Gelehrten und mußt solche
Dinge also besser wissen als ich. Aber als oberster ,Verwalter des künstlichen
Lichts im Staate' ist es für mich Gesetz, nichts für eine Wirklichkeit
zu halten, was ich nicht mit meinen physischen Sinnen
unmittelbar wahrgenommen habe.»
Daraufhin wandte er sich an mich
und stellte mir einige Fragen über die Existenz und das Aussehen der
Erdoberfläche und die sogenannten Himmelskörper. Ich versuchte
seine Fragen aus meiner besten menschlichen Kenntnis heraus zu beantworten,
aber ich bemerkte deutlich, daß
meine Behauptungen ihn weder befriedigten,
noch überzeugten. Er schüttelte gemessen sein Haupt, wechselte
merkwürdig ostentativ das Gesprächsthema und fragte schließlich,
wie ich denn nun wirklich herübergekommen sei aus der einen Welt in
die andere, wie er sich auszudrük
ken beliebte. Ich entgegnete, daß
unter der von uns bewohnten Erdoberfläche Gebiete seien, die Mineralien
und Metalle enthielten, wie wir sie für unsere Lebensanforderungen
und für unsere künstlerische und technische Arbeit benötigten.
Dann erzählte ich kurz, wie bei der Ausbeutung einer dieser unterirdischen
Minen mein Freund einen Blick in die anderen Regionen getan, und wie ihm
der Versuch, dorthin zu gelangen, sein Leben gekostet hätte; ja, ich
führte die verschiedensten Beweise für die Wahrheit meiner Erzählungen
an.
Mein Gastgeber fuhr fort, mich über
die Sitten und Lebensgewohnheiten der auf der Erdoberfläche lebenden
Menschengattung zu befragen, vor allem bat er mich, über diejenigen
zu erzählen, die man dort für die zivilisiertesten ansehe. Denn
es gäbe doch sicher auch bei uns auf der Erde jene Zivilisation, die
in einem harmonischen und glücklichen Zusammenleben aller Menschen
sowie in moralischen und wohlgeordneten Verhältnissen innerhalb des
Staates zum Ausdruck komme.
Ich hatte dieser peinlichen Frage
gegenüber natürlich das Bestreben, die irdische Welt, zu der
ich gehörte, in den günstigsten Farben zu schildern, ich berührte
deshalb nur nebenher und vorsichtig die veralteten und chaotischen Verhältnisse
Europas, um dafür um so mehr die herrliche Größe und die
vielversprechenden Aussichten der glorreichen amerikanischen Republik zu
schildern, zu der Europa voller Neid aufblicke und von wo es zitternd seinen
schrecklichen Untergang erwarte. Um ein besonders schlagendes Beispiel
des kultivierten sozialen Lebens in Amerika zu geben, wie es in derjenigen
Stadt zum Ausdruck kommt, die unseren irdischen Fortschritt in der erhabensten
Weise repräsentiere, schilderte ich in begeisterten Worten die so
hervor ragend moralischen Sitten New Yorks.
Voll Ärger sah ich an den Gesichtern
meiner Zuhörer, daß meine Lobeshymne nicht den günstigen
Eindruck machte, den ich erwartet hatte, so daß ich beschloß,
die Farben meiner Schilderung noch etwas deutlicher aufzutragen. Ich erging
mich nunmehr in einer Beschreibung unserer so durch und durch demokratischen
Einrichtungen im Staate, erzählte, wie das ruhige Glück aller
Mitmenschen durch das Herrschen der politischen Parteien von vorn herein
gesichert sei; vor allem, wie bei uns für die Ausübung der Macht
und den Genuß von Ehren ausgerechnet die an Besitz, Charakter und
Erziehung niedrigsten Bürger bevorzugt würden; wie überhaupt
das in der Demokratie aufblühende politische Parteileben die segensvollsten
Harmonien im Staatswesen hervorrufe. Glücklicherweise fielen mir während
des Sprechens sogar noch Zitate aus einer unlängst gehörten Rede
ein, über den läuternden Einfluß der amerikanischen Demokratie
und ihre zukünftige Ausbreitung über die ganze Welt, eine vorzügliche
Rede, die einer unserer besten Senatoren gehalten hatte (für dessen
Eintreten im Parlament eine Industriegesellschaft, der meine beiden Brüder
angehörten, allerdings eben erst zwanzigtausend Dollar gezahlt hatte),
ich zitierte schließlich die herrlichen Prophezeiungen dieses beredten
Demokraten von der glänzenden Zukunft, die der ganzen Menschheit beschieden
sein würde wenn erst einmal die Flagge der Freiheit über
den ganzen Kontinent wehen und zweihundert Millionen intelligenter Weltbürger,
von Kindheit auf an den freien Gebrauch von Schußwaffen gewöhnt,
diese glorreichen Staatsideen einer zitternden Menschheit darbringen würden!
Als ich zu Ende war, schüttelte
mein Gastgeber eigenartigerweise liebenswürdig mit dem Kopf, er verfiel
in nachdenkliches Sinnen und machte mir und seiner Tochter ein Zeichen,
ihn in seinen Gedanken nicht durch Reden zu stören. Nach einiger Zeit
sagte er in gemessenem und
feierlichem Tone: «Wenn Sie
das Gefühl haben, wie Sie sagen, von mir und den Meinigen Gutes empfangen
zu haben und dankbar zu sein, dann beschwöre ich Sie, beweisen Sie
diesen Dank dadurch, indem Sie niemals irgendjemandem hier auch nur die
geringsten Enthüllungen über
jene Welt machen, aus der Sie stammen;
außer wenn ich Ihnen eine besondere Genehmigung hierzu gebe. Wollen
Sie mir diese Bitte gewähren?»
«Aber gewiß, ich gebe
Ihnen mein Wort darauf», sagte ich etwas verwundert und betroffen,
und reichte ihm meine rechte Hand. Aber er legte meine Hand an seine Stirn
und die seinige auf mein Herz, was bei dieser eigentümlichen Menschengattung
in allen Fällen von bindenden Versprechungen und gegenseitigen Verpflichtungen
geschieht. Dann wandte er sich an seine Tochter mit den Worten:
«Und du, Zee, wirst niemandem
wiederholen, was der Fremde da erzählt hat oder noch schildern wird
von einer Welt, die doch recht anders geartet ist als unsere Welt.»
Die Tochter stand auf, küßte
ihren Vater und sagte lächelnd:
«Die Zunge einer Gy ist leicht
zügellos, aber ich werde sie in Zucht halten. Doch wenn du fürchtest,
Vater, daß ein Wort von mir oder dir selbst unsere Gemeinde in die
Gefahr bringen könnte, eine Welt erforschen zu wollen, die anders
ist als die unsrige, würde dann nicht ein Strom von
,Vril', wenn wir ihn nur richtig
anwenden, genügen, um das Gedächtnis an alles, was der Fremde
sagte, aus unseren eigenen Köpfen zu tilgen.?»
«Was ist Vril?» platzte
ich heraus.
Diese wichtige Frage beantwortete
Zee durch eine Erklärung, von der ich leider nur sehr wenig verstand,
denn in unseren Sprachen kenne ich wenigstens kein Wort, das gleichbedeutend
ist mit Vril. Ich wollte es zuerst für «Elektrizität»
halten, aber das wirkliche «Vril» umfaßt so viele andere
Eigenschaften und Manifestationen von uns meist noch verborgenen Naturkräften,
daß alle unsere übrigen Schlagwörter, wie Galvanismus,
Magnetismus usw., für eine Definition von Vril nichts bedeuten.
Ja, dieser Menschengattung scheint
es wirklich gelungen zu sein, sie zu finden, jene große Urkraft,
jenes innerste ewige Agens aller Natur, jene die Welt impulsierende Quelle
aller Naturkräfte! Was hatten die Philosophen in meiner Welt nicht
alles über diese Dinge vermutet und disputiert! Faraday, dieser große
Experimentator, hatte es schon geahnt, das letzte Geheimnis, das er mit
den Worten von der Verbundenheit aller Kräfte andeutete. Denn er sagt:
«Ich bin lange einer Meinung gewesen, die sich sogar bis zur innersten
Überzeugung steigerte, und mit mir dachten viele, die ein wahres Naturwissen
lieben, daß alle diese unendlich mannigfaltigen Formen, unter denen
die Naturkräfte sich uns offenbaren, letztlich doch einen einzigen
gemeinsamen Ursprung haben; oder, ich könnte auch sagen, die Kräfte
der Natur sind alle so untereinander verbunden, daß sie verwandelbar
sind, ineinander und auseinander, und daß wir in ihrer Wirksamkeit
dann auch die entsprechenden Verwandtschaften finden.»
Die Philosophen dieser mir fremden
Welt behaupteten nun, daß sie im «Vril» jenes große,
ewige Agens auch handhabten, daß sie all das beherrschten, was Faraday
vielleicht noch als «atmosphärischen Magnetismus» betrachtet
hätte, ja, daß sie den Temperaturwechsel und sogar das Wetter
beeinflussen könnten; auch daß sie alle jene Phänomene
zu meistern wüßten, die wir in chaotischem Suchen bald Mesmerismus,
bald tierische Elektrizität, bald odische Kräfte und mit anderem
Wortschwall betiteln. Doch hier hatten alle diese Kräfte erst ihre
wissenschaftliche Erkenntnis, ihren praktischen Wert in der Verwendung
des Vril gefunden. Durch Vril vermochten sie bewußten Einfluß
zu üben ebenso auf geistige wie auf körperliche Funktionen, auch
auf Tiere und Pflanzen, auf alle Naturreiche. In der Tat, hier sind Wirklichkeiten,
zu denen selbst die Träume der Alchimisten nicht aufstiegen. Liegt
es doch allen Agentien, Kräften und Wirkungen in der Natur zugrunde,
dieses eine, was sie dort «Vril» nennen!
Zee fragte mich, ob es der wissenschaftlichen
Welt bei uns bekannt sei, daß hiermit sogar die Verstandeskräfte
über das gewöhnliche Wachbewußtsein hinaus um ein Wesentliches
gesteigert werden könnten und daß man auch die Möglichkeit
erlange, Gedanken des Einen auf
einen Anderen zu übertragen,
wodurch man zu einer blitzschnellen Verständigung untereinander fähig
werde. Ich entgegnete, daß man bei uns sich wohl verschwommene Vorstellungen
von solchen Möglichkeiten gebildet hätte und daß ich hie
und da sogar Versuche auf diesen Gebieten miterlebt hätte, aber daß
alle diese Anfänge bald wieder verschwunden und vergessen worden seien,
teils wegen der Schwindeleien, die einige Unwürdige damit getrieben,
teils weil bisher bei den meisten Forschungen in diesen Dingen, auch wenn
sie zu Erfolgen geführt hätten, man doch leider noch nicht einen
befriedigenden Weg gefunden habe, um alle diese Phänomene in ein systematisches
Lehrgebäude einzugliedern oder ihrer praktischen Verwertung zuzuführen,
während sie andererseits von Unwissenden in einer gefährlichen
Weise verwendet würden.
Zee hörte sich meine Ausführungen
mit wohlwollender Aufmerksamkeit an und erzählte mir, daß ähnliche
Mißbräuche und Verwirrungen auch bei ihren Landsleuten an der
Tagesordnung gewesen seien, solange in vergangenen Zeiten ihre Wissenschaft
in diesen Dingen noch in den
Kinderschuhen gesteckt hätte,
und daß dadurch die Leute anfänglich die Kräfte des Vril
in ganz falscher Weise verwendet hätten. Sie würde aber lieber
später einmal mit mir über diese Dinge weitersprechen, wenn meine
seelische und körperliche Verfassung etwas mehr gestärkt sei.
Zum Schluß erzählte sie
mir noch, daß, während man mich bewußtlos gemacht hatte,
man mir durch Vermittlung des Vril die Rudimente ihrer Sprache eingeflößt
habe; und daß sie selbst und ihr Vater allein das mühevolle
Experiment durchführten, daß sie dabei allerdings mehr von meiner
Sprache gelernt hätten, als ich von der ihrigen. Teils weil meine
Sprache viel primitiver sei als die ihre, besonders aber, weil ihre Organisation
durch veranlagte Fähigkeiten viel empfindlicher und aufnahmefähiger
für neue Erkenntnisse sei als die meinige.
Dagegen bäumte sich im stillen
natürlich meine Eitelkeit auf, denn ich hatte im Verlauf meines Lebens
und meiner Reisen auf Erden doch soviel Gelegenheit gehabt, meine menschlichen
Verstandeskräfte zu schärfen, daß ich unmöglich zugeben
konnte, daß die geistige Organisation irgend
welcher Wesen besser sein könnte
als die unsrige, noch dazu gar von solchen, die ihr ganzes Leben bei künstlichem
Lichte verbrachten. Aber gerade während ich diese stolzen Gedanken
in mir befestigte, da berührte Zee nur leicht mit dem Zeigefinger
meine Stirn und versetzte mich dadurch sogleich in tiefe Bewußtlosigkeit.
8. KAPITEL
Als ich aus diesem Tiefschlaf erwachte,
sah ich an meinem Lager den Knaben, der meine Gerätschaften in jenes
Haus gebracht hatte, in dem ich zuerst empfangen worden war und das sich
später als der Wohnort des Staatsoberhauptes erwies. Der Knabe, der
sich Tae nannte, war dessen ältester Sohn. Ich entdeckte an mir, daß
ich während dieser neuer lichen Bewußtlosigkeit wiederum erstaunliche
Fortschritte in der Beherrschung der mir fremden Sprache gemacht hatte
und daß ich mich mit Leichtigkeit nun recht fließend verständigen
konnte.
Dieser Knabe war sogar im Verhältnis
zu seiner an sich schon so imposanten Rasse ganz besonders stattlich; sein
Antlitz, von sehr männlichem Ausdruck für seine Jugend, trug
einen lebhafteren und impulsiveren Ausdruck als ich ihn bisher in den so
gelassenen und leidenschaftslosen
Mienen dieser Menschen gefunden
hatte. Er brachte mir die Zeichnung, in der ich meinen Absturz und den
Kopf des entsetzlichen Ungeheuers skizziert hatte, das mir am Leichnam
meines Freundes begegnet war. Auf diese Stelle der Zeichnung deutend, richtete
Tae einige Fragen über
Größe und Gestalt des
Ungeheuers an mich, dann auch über die Felshöhlen und das Gebiet,
aus dem es aufgetaucht war. Sein Interesse schien von meinen Schilderungen
so gefesselt, daß er das Gespräch vorerst nicht auf meine Person
und ihre Herkunft hinlenkte. Aber zu meiner
größten Verlegenheit
begann er, auf meine dankbaren Bemerkungen über die so große
Gastfreundschaft hin, sich auch nach meinem früheren Leben zu erkundigen,
als glücklicherweise Zee eintrat und, seine letzten Worte erhaschend,
ihm sagte: «Tae, gib unserem Gaste jegliche
von ihm gewünschte Auskunft,
aber du selbst frage ihn nie! Ihn fragen, wer er ist, woher er kommt oder
was er hier will, wäre ein Verstoß gegen das Gesetz, das mein
Vater für dieses Haus gab.»
«Ich werde mich danach richten»,
sagte Tae, indem er seine Rechte zum Herzen hielt; und wirklich, von diesem
Augenblick an, bis ich ihn zum letztenmal sah, richtete dies Kind, mit
dem ich so eng vertraut werden sollte, nie wieder eine der verbotenen Fragen
an mich über meine Person.
9. KAPITEL
Erst nachdem ich noch mehrmals in
jenen eigenartigen Zustand von Bewußtseinsveränderung untergetaucht
war, wenn ich es so nennen darf, gewöhnte sich mein Wesen mehr und
mehr daran, mit meiner neuen Umwelt in gedankliche Wechselbeziehung zu
treten und immer besser die
Lebensweise und Daseinsart meiner
Umgebung zu erkennen, die mir bis dahin zu fremd gewesen, als daß
sie mein Verstand voll erfaßt hätte. Erst jetzt begann ich jene
Erzählungen über Ursprung und Werdegang dieser unterirdischen
Bevölkerung zu verstehen, die selbst nur ein Teil eines großen
Geschlechtes war, das sie «Ana» nannten.
Urältesten Traditionen zufolge
hatten die Vorfahren auch dieser Menschheit einst in höheren Regionen
dieser Welt gelebt. Mythen und Urkunden wußten noch zu berichten
von jenen Sphären, auch sprachen die Überlieferungen von einem
unermeßlich gewölbten Dome, dessen unendliche Weiten nicht des
künstlichen Lichtes bedurften, das die Menschen erzeugen. Aber die
jetzigen Schulmeister begriffen auch hier diese Dinge nur noch als Allegorien.
Nach diesen Traditionen jedoch war
die Erde, zu der Zeit, als solche Überlieferungen niedergelegt wurden,
schon nicht mehr in ihrem Urzustande, sondern in einer jener ungeheuren
Umwälzungen begriffen, die den Wechsel von einem Zustand der Entwicklung
in den nächsten bewirken und begleiten, wobei gewaltige Katastrophen
in den Naturkräften und Elementen wüten. Durch eine dieser elementaren
Katastrophen war der Teil der Erde, den die Vorfahren dieser Menschheit
bewohnten, durch verheerende Wassergewalten überschwemmt und vernichtet
worden, die zwar nicht urplötzlich, doch unaufhaltbar die Länder
verschlangen, so daß alles, mit wenigen Ausnahmen, in den Wassern
verschwand und den sicheren Tod fand. Ob diese Tradition sich bezog auf
die geschichtlichen Ereignisse, die wir Sintflut nennen, oder eine ähnliche
von unseren Geologen umstrittene Wasserkatastrophe auf Erden, will ich
hier nicht entscheiden, denn die Ereignisse scheinen nach der Chronologie
dieses Volkes, wenn verglichen mit den Berechnungen Newtons, noch um einige
Jahrtausende vor den Zeiten Noahs zu liegen. Bemerkenswert war mir doch
auch, daß der Bericht dieser Historiker von dem Vorhandensein menschlicher
Wesen schon spricht in Zeiten, welche die Hypothesen unserer landläufigen
Geologie noch für ungeeignet halten für die Bildung von Säugetieren.
Eine kleine Gruppe von Menschen
nur konnte sich retten vor den vernichtenden Fluten des Wassers, und verbarg
sich in den Höhlen höherer Felsen. Doch als sie in diesen Höhlungen
weiterwanderten, da verloren sie die Regionen der oberen Welten für
immer. Wahrlich, das ganze Antlitz der Erde war durch das Wüten des
Wassers verändert , was vorher Land gewesen, war jetzt Meer, und aus
früheren Meeren heraus ragte Land.
Man erzählte mir als beweisbare
Tatsache, daß noch jetzt in dem Innern der Erde sich die Überreste
menschlicher Wohnungen damaliger Zeiten befänden, die nicht in Höhlen
und Hütten, sondern in Städten bestanden hätten, deren Ruinen
noch von den edlen Kulturen jener alten
Geschlechter zeugen, die gewiß
nicht zu den Rassen zu zählen sind, die eine heutige Geschichtswissenschaft
zu schildern sich abmüht, als ob sie nur mit dem Feuerstein in der
Hand und ohne Kenntnis von den Metallen ein dumpfes Dasein gefristet hätten.
Die Flüchtlinge bewahrten jedoch
die Kenntnis der Künste und Fähigkeiten, die sie in ihrer früheren
Heimat besessen hatten. So vermochten sie bald ihre dringendste Not zu
besiegen und das Licht, das sie oben gekannt, nun durch künstliches
Licht zu ersetzen. Und wirklich scheinen
die Menschen, von denen diese Rasse
hier ja nur ein Teil war, auch schon in dieser urfernen Vergangenheit durch
ein besonderes Wissen und Können vermocht zu haben, sei es aus den
Gasen der Luft oder manganischen Steinen, aus Erdöl oder sonstwie,
sich ihr Licht aus den Kräften der Natur zu gewinnen. Hatten sie doch
von Anbeginn an gelernt, mit den rauhen Naturkräften zu ringen; ja,
der Kampf mit den Wassergewalten, er hatte durch Jahrhunderte den Menschen
die Fähigkeiten gelehrt, wie das Wasser am besten zu dämmen und
zu leiten sei. Was sie so gelernt hatten, das konnten sie nun in der neuen
Heimat gar wohl gebrauchen.
«Viele Generationen lang »,
sagte mein Gastgeber einmal bei solchen Gesprächen voller Abscheu,
«sollen unsere primitiven Vorfahren sich sogar so erniedrigt und
ihre Lebenszeit abgekürzt haben, daß sie das Fleisch von Tieren
aßen; es waren ja viele Tierarten gemeinsam mit ihnen vor den Wassergewalten
geflüchtet und hatten Schutz gesucht in den Höhlen der Erde.
Andere Tierarten, die Sie wohl in Ihrer Welt nicht kennen, tauchten in
diesen Höhlen zum erstenmal auf.»
Als das geschichtliche Zeitalter
nach unseren Begriffen aus dem Dämmerlicht in die durch Traditionen
überlieferten Zeiten auftauchte, waren die «Ana» in verschiedene
Gemeinden gegliedert und hatten in Zivilisation und Kultur eine Höhe
erreicht, deren sich selbst unsere fortgeschrittensten Völker auf
Erden noch jetzt kaum rühmen können.
Sie waren damals schon mit den meisten
unserer mechanischen Entdeckungen vertraut und wußten Dämpfe
und Gase zu verwenden. Die Gemeinden lagen in heftigem Wettstreit miteinander.
Es gab damals noch Unterdrückte und Bedrücker, Volksredner und
Eroberer, genau wie jetzt bei uns; sie führten auch Krieg um irgendeines
Landerwerbs oder einer Idee willen. Obgleich die einzelnen Staaten die
verschiedensten Staatsformen jeweils für die besten hielten, fingen
doch die freiheitlichen Institutionen schon an, die Übermacht zu gewinnen,
Volksvertretungen wurden eingeführt, Freistaaten gegründet. Die
Demokratie, welche die erleuchtetsten europäischen Politiker heutzutage
als das Zukunftsziel politischer Weisheit ansehen, herrschte bei den unterirdischen
Geschlechtern allerdings nur noch bei denjenigen Stämmen, welche die
Ana als barbarische Wilde verachteten, während die kultivierten Geschlechter
der Ana, wie dasjenige, bei dem ich mich befand, auf die sogenannte Demokratie
zurückblickten als auf ein aus sehr primitiven Vorstellungen entsprungenes
Experiment, wie man es ja wohl nur in kindlichen Anfangsstadien politischer
Staatenbildung versuche. Die Zeit der Demokratie war erfahrungsgemäß
eine Periode des Ehrgeizes und Neides, der übelsten politischen Leidenschaften
gewesen und hatte zu sinnlosen ständigen Systemwechseln, zu Parteikämpfen,
kurz zu ewigen Ursachen für Streit und Krieg geführt. Immerhin
hatte dieser primitive staatliche Zustand einige Zeitlang gedauert, war
jedoch dann durch die geistig höherentwickelte, kultiviertere und
gebildetere Bevölkerung abgeschafft worden; vor allem nachdem man
zur Entdeckung jener bis dahin geheimen Naturkräfte, jenes alles durchdringenden
Agens gelangt war, das sie «Vril» nennen.
Der Beschreibung nach, die ich von
Zee empfing, welche als hervorragendes Mitglied der Akademie der Gelehrten
diese Dinge weit besser studiert hatte und kannte als meine übrige
Umgebung kann man mit diesem Fluidum, wenn man es nur in der richtigen
Weise versteht und handhabt, auf alles Seiende in der Natur, ob leblos
oder lebendig, den mächtigsten Einfluß ausüben.
Es kann zerstörend wirken wie
ein Blitzstrahl. Aber es kann, wenn anders verwendet, ebenso auch erneuernd
und stärkend auf die Lebensprozesse einwirken, es kann belebend und
heilend sein. Es ist sogar das hauptsächlichste Heilmittel zur Beseitigung
von Krankheiten, oder besser gesagt, es ermöglicht dem lebenden Organismus,
das organische Gleichgewicht seiner Kräfteverteilung wieder herzustellen,
so daß es ihm derart dazu verhilft, sich selbst zu heilen.
Durch diese Naturkraft haben sie
auch Gewalt über die festesten Substanzen. Zerstören sie doch
sogar durch seine Verwendung steinige Felsmassen, um ebene Täler für
bebautes Land zu gewinnen. Aus dem Vril erhalten sie vor allem ihr Licht,
das die unzähligen Lampen zum Leuchten bringt, ein Licht, das wirksamer,
milder und gesünder ist als das, welches aus brennenden Substanzen
gewonnen werden könnte, wie man es früher tat.
Es ist klar, daß die Entdeckung
einer so ungeheuerlichen and allbeherrschenden Kraftquelle, wie es das
Vril ist, insbesondere auch im ganzen Gemeinschafts- und Staatsleben einen
entscheidenden Umschwung bewirkte. Sobald die Beherrschung dieser Naturkräfte
in die Macht jedes
einzelnen Menschen gestellt war,
mußte notwendigerweise jeder Krieg unter den Menschen zur Unmöglichkeit
werden, denn die Fähigkeit, alles zu zerstören, wurde derart
ausgebildet, daß jede physische Überlegenheit an Zahl, militärischer
Disziplin oder Bewaffnung gar keine Rolle
mehr spielte. Konnten doch mit den
Vernichtungskräften, die selbst in der Hand eines Kindes
aus dem Vrilstabe ausgestrahlt wurden, die stärksten Festungen und
Panzer zerstört werden, oder mit den richtig geleiteten Vrilstrahlen
auch die größten Heere vom ersten bis zum letzten Mann blitzartig
vom Leben zum Tode befördert werden. Wenn zwei Armeen feindlich gegeneinanderprallen
und auf beiden Seiten diese Kräfte verwandt werden, so kann es nur
mit der Vernichtung beider Armeen enden.
Darum war die Zeit der Kriege vorüber.
Aber mit ihrer Beendigung kamen wieder andere Laster und Mißstände
des sozialen Lebens zum Vorschein. Jeder einzelne Mensch war ja jetzt völlig
in der Gewalt seines Mitmenschen, da ein jeder, wenn er nur wollte, den
anderen mit Leichtigkeit zu töten vermochte. Man hütete sich
nun auch, Regierungsmaßnahmen und politische Systeme mit Zwangsgewalt
durchführen zu wollen. Allzu große Völkergemeinschaften,
die auf einen übermäßig weiten Raum verstreut sind, konnte
man mit Gewalt doch nicht mehr zusammenhalten wie bisher. Zudem hörte
jetzt mit der Aussichtslosigkeit jeglicher Kriegführung auch der Ehrgeiz
auf, einen Staat auf Kosten der anderen zu vergrößern.
Unter diesen Umständen teilten
sich die Vril-Entdecker im Laufe weniger Generationen friedlich in mittelgroße
Gemeinden von zweckentsprechender Ausdehnung. Der Stamm, bei dem ich lebte,
beschränkte sich auf etwa zwölftausend Familien. Jeder Stamm
besiedelte ein Gebiet, das für seine Lebensnotwendigkeiten ausreichte,
und zu bestimmten Perioden verließ die überzählige Bevölkerung
das Land, um sich eine neue Heimat zu suchen. Es wurde sogar niemals notwendig,
zu einer willkürlichen Auswahl der Auswanderer zu schreiten, denn
stets meldete sich eine ausreichende Anzahl, die freiwillig fortzog. Diese
in Anbetracht des Raumes und der Bevölkerungszahl kleinen Staaten
gehörten als Ganzes doch zu einem gemeinsamen Stamm. Sie sprachen
die gleiche Sprache, wenn sie auch durch Dialekte verschieden gefärbt
war. Sie heirateten untereinander und hielten die gleichen Gesetze und
Gewohnheiten aufrecht. Die Kenntnis des Vril und die Anwendung dieser Naturkräfte
war ein so wichtiges gemeinsames Band zwischen den verschiedenen Gemeinden,
daß das Wort «AVril» gleichbedeutend war mit Zivilisation;
und «Vrilya», was soviel wie «Die zivilisierten Staaten»
bedeutet, war der Name, der die Gemeinden, welche das Vril beherrschten,
unterschied von den barbarischen Stämmen der «Ana», die
es nicht kannten.
Die Regierung des Stammes der Vrilya,
um den es sich hier handelt, schien bei oberflächlicher Betrachtung
recht kompliziert, war in Wirklichkeit aber sehr einfach. Sie beruhte auf
einem Prinzip, das bei uns zwar in der Theorie viel diskutiert, in der
Praxis aber noch nirgends durchgeführt ist. Es ist nämlich eine
philosophische Wahrheit, daß alles Lebendige zu einer organischen
Einheit hinstrebt, das heißt aber auch, daß alle hierarchische
Gliederung, wenn sie auch in noch so vielen Stufen aufsteigt, doch einer
abschließenden obersten Spitze, eines Willenszentrums im organischen
Aufbau bedarf. Es geben selbst fanatische Demokraten doch zu, daß
der soziale Organismus am besten verwaltet ist, wenn ein fähiges Oberhaupt
so an der Spitze steht, daß die Kontinuität eines einheitlichen
Handelns gewährleistet und ein Mißbrauch der Vollmacht verhindert
ist.
Diese kluge Gemeinde erwählte
sich also zur Spitze einen obersten Magistraten, den sie «Tür»
nennt. Der «Tür» sollte sein Amt eigentlich auf Lebenszeit
ausüben, aber man kann ihn meist nur dazu überreden, es doch
wenigstens bis zum vorgerückten Lebensalter zu behalten. Denn es gibt
in der Tat nichts in dieser Art des Gemeinschaftslebens, was irgendeines
seiner Mitglieder anreizen könnte, voller Ehrgeiz nach Amt und Würden
zu streben. Keine besonderen Vergünstigungen, keinerlei Amtsinsignien
gibt es da zu erhaschen. Der oberste Magistrat bezieht weder Amtswohnung,
noch Reichtümer. Andererseits sind die Pflichten, die ihm obliegen,
sehr einfach und leicht, und erfordern weder übermäßige
Tatenlust noch besondere Routine. Da es keinen Krieg zu befürchten
gibt, braucht man keine Armeen auszubilden und zu bezahlen, da es keine
Gewaltherrschaft gibt, braucht man keine raffinierte Geheimpolizei. Was
wir an Verbrechen kennen, das war diesem eigenartigen Volke der Vrilya
ganz unbekannt. Ständige Gerichtshöfe wurden daher nicht gehalten.
Kleine Privatstreitigkeiten, die auch nur selten vorkamen, wurden zur
Entscheidung an Freunde verwiesen,
die jede der Parteien sich wählte, oder schließlich vom Rate
der Weisen geschlichtet, auf den wir noch zu sprechen kommen. Auf jeden
Fall gab es keine Berufsjuristen, und die Gesetze glichen mehr freundschaftlichen
Übereinkünften, denn es gab ja doch keine Gewalt, die im Ernst
hätte Gesetze erzwingen können gegenüber Menschen, die in
ihrem Vrilstab die Macht hatten, ihre Richter zu vernichten. Es gab nur
Gebräuche und Regeln, in welche die Bevölkerung seit Jahrhunderten
schweigend gewilligt hatte; fand irgend jemand eine der Vorschriften zu
streng, so verließ er eben das Land und wanderte aus. In diesem Staate
galt die Regel, die wir auf Erden in den Häusern und Landsitzen von
Familien mit großzügiger Gastfreundschaft antreffen, die da
lautet:
«Komm oder geh, je nachdem
dir die Sitten und Gewohnheiten unseres Hauses behagen oder nicht.»
Obgleich es in diesem Staat also keine geschriebenen Gesetze gibt, so läuft
doch alles harmonischer ab als bei irgendeinem Volke bei uns. Einpassung
in die Regeln, die von der Gemeinschaft angenommen sind, ist diesen Menschen
von Natur zum Instinkt geworden. Bezeichnend für den Ton ihrer Regierungserlasse
ist der typische Wortlaut für etwas Unerlaubtes, Verbotenes; er lautet
stets nur: «Es wird gebeten, dies oder das nicht zu tun.» Unbekannt
wie unsere Verbrechen ist ihnen auch unsere Armut. Selbstverständlich
versuchen sie keine unsinnige Gemeinwirtschaft oder schematische Güterverteilung,
auch gibt es natürlich keine Bevormundung in bezug auf Größe,
Luxus und Kultivierung des privaten Haushalts. Aber da man durch Ämter
oder Staatsdienste keine Gelder und Würden erwirbt, so herrscht statt
Ehrgeiz und Neid ein beschauliches laissezfaire. Da einer
seits der politische Kampf unmöglich,
andererseits die Bevölkerungszahl begrenzt ist, so kommt es eigentlich
nicht vor, daß eine Familie in Verzweiflung und Not gerät.
Gibt es doch keine Möglichkeiten
zur Spekulation und auch kein Strebertum nach Ämtern, Kommissariaten
und einträglichen Posten. Die Entwicklung verlief hier ganz anders.
Bei der Einwanderung hatte man jedem ein gleich großes Stück
Land zuerteilt, und wenn auch natürlich der
eine durch Urbarmachung, besseren
Ackerbau, reichere Ernte und günstigen Handel den anderen überragte,
so gab es doch in der Tat keine wirklichen Armen, noch solche, die Mangel
gelitten hätten. Trat jedoch der seltene Fall einmal ein, daß
einer wirklich nicht hatte, was er brauchte, nun, so wanderte er eben aus.
Dem obersten Magistraten waren Verwaltungszweige
der verschiedensten Einzelgebiete zugeteilt. Hier war nun natürlich
am wichtigsten die Versorgung des künstlichen Lichtes. Dessen Chef
war mein Gastgeber, Aph-Lin. Das Auswärtige Amt, das den Verkehr mit
benachbarten Staaten bewirkte, sah seine Hauptaufgabe eigenartigerweise
fast nur in dem Austausch der technischen Erfindungen unter den Staaten.
Ein dritter Zweig betreute sodann die Prüfung und Verwendung all dieser
Technizismen.
Diesem Verwaltungszweig schloß
sich die Akademie der Gelehrten an, ein absonderliches Kolleg, das hier
besonders aus verwitweten, kinderlosen und jungen, unverheirateten Frauen
bestand, unter denen Zee die Fähigste war. In diesem Kolleg ließ
man die für das praktische Leben am wenigsten notwendigen Studien
durch weibliche Professoren erledigen als da sind: abstrakte Philosophie,
oder Geschichte fernster Zeiten, oder Wissenschaften wie Insektenkunde,
Muschelkunde und ähnliche Fachgebiete. Zee, deren Verstand die weitschweifigsten
Theorien und die kleinsten Details umschloß, hatte bereits zwei Bände
über ein mikroskopisch kleines Insekt geschrieben, das in den Haaren
der Pfote des Tigers auftritt, welche Arbeit als das bedeutendste fachwissenschaftliche
Ergebnis auf diesem so wesentlichen Erkenntniszweige von allen Autoritäten
anerkannt war. Aber die Nachforschungen der Gelehrten beschränken
sich hier nicht ausschließlich auf solche differenzierte, subtile
Fachgebiete. Die Wissenschaft beschäftigt sich bei diesem Volke auch
noch mit umfassenderen Problemen, und namentlich die Eigenschaften des
Vril, für dessen Einflüsse die Organisation dieser Rasse so fein
empfindlich ist, werden einer ständigen Beobachtung und Erforschung
unterzogen. Aus dessen Kennern vor allem wählt der Tür, der oberste
Magistrat, sich seine Ratgeber aus, und zwar insgesamt drei, die ihm in
Fällen bedeutender Ereignisse oder wichtiger Entscheidungen zur Seite
stehen.
Es gibt noch einige Verwaltungskörperschaften
von geringerer Bedeutung, aber alle verkehren im Staate so unaufdringlich
und lautlos, daß die Existenz dieser Regierung von den Menschen kaum
bemerkt wird und sich das soziale Leben so harmonisch und ruhig abspielt,
wie wenn es ein Naturgesetz wäre.
Sehr charakteristisch ist nun, daß
Maschinerien und Mechanismen bis zu einem maßlosen und unbegreiflichen
Umfange in allen Lebensgebieten und Tätigkeiten, sowohl im privaten
als im öffentlichen Leben, verwendet werden, und die Verwaltungsbehörde
sieht ihre wichtigste Aufgabe darin, nach Möglichkeit alles zu mechanisieren,
dessen sie nur irgend habhaft werden kann.
Wie schon gesagt, gibt es weder
Arbeiter noch Dienstboten, sondern zur Bedienung und Beaufsichtigung der
Maschinen nimmt man Kinder, von der Zeit an, wo sie der mütterlichen
Fürsorge entwachsen, bis zum heiratsfähigen Alter, das bei den
Gyei (Mädchen) um das sechzehnte, bei den Ana (Knaben) um das zwanzigste
Lebensjahr liegt. Diese Kinder suchen sich selbst ihren Lehrmeister, ihre
Beschäftigung und ihre Wirkensstätte. Einige wählen irgendein
Handwerk, andere Landwirtschaft, viele aber auch den einzigen gefährlichen
Dienst, den es in die
sem Land überhaupt gibt. Denn
es gibt hier nur noch wenige wirkliche Gefahren, so vor allem die Erdbeben
und vulkanischen Ausbrüche des Erdinnern, deren Vorankündung,
Verhütung oder Bekämpfung sehr hohe geistige Fähigkeiten
erfordert; hie und da auch Angriffe der Feuer,
Luft und Wassergewalten.
An den Grenzen des Landes und allen
gefährlichen Punkten sind hierfür besonders befähigte Wächter
aufgestellt, die in telegraphischer Verbindung mit jenem Gebäude stehen,
wo der Rat der Weisen des Landes tagt. Diese Gefahrwächter werden
zumeist unter den Knaben, die im
Alter der Pubertät sind, ausgewählt,
nach der Erkenntnis, daß in diesem Alter die Beobachtungsgaben besonders
geschärft und viele physischen Fähigkeiten höher gesteigert
sind, als in anderen Lebensstadien. Die zweite, weniger gefährliche
Art von Gefahrendienst besteht in der Vernichtung aller Kreaturen, die
dem menschlichen Leben noch feindlich sind. Die schädlichsten sind
wohl die großen Reptilien, von deren Existenz wir nur aus Fragmenten
zerstörter Skelette in unseren Museen wissen, und gewisse gigantische
Flugtiere, halb Vogel, halb Reptil. Diese und einige weniger gefährliche
Tierarten, die unseren Tigern und Giftschlangen ähneln, haben nun
die jüngeren Kinder dort zu erjagen und zu zerstören. Man ist
nämlich der Ansicht, daß hierzu vor allem Rücksichtslosigkeit
und eine gewisse Freude am Zerstören notwendig ist, eine Eigenschaft,
die gerade dem jüngeren Kinde vorzüglich eigen ist. Die Vernichtung
einer anderen Tiergattung, der gegenüber vor allem Scharfsinn und
eine feine Unterscheidungsgabe erforderlich ist, wird sodann älteren
Kindern übertragen, Tiere nämlich, die zwar nicht dem Menschen
selbst, aber seiner Landwirtschaft gefährlich sind, als da sind Elche
und Elentiere und die Erde zerwühlende Biester, welche die Ernte verwüsten
und die Ernährung gefährden. Es ist die erste Aufgabe dieser
Kinder, den Tieren Achtung vor menschlichen Grenzpfählen und Einzäunungen
einzuflößen, wie man Hunden bei uns den Respekt vor der Speisekammer
beibringt. Nur wenn die Tiere auf solche Methoden nicht reagieren, werden
sie völlig vernichtet.
Sonst wird Leben nie zerstört,
weder zum Zwecke der Nahrung, noch etwa des Sports. Doch auch nie wird
das Leben geschont, das dem menschlichen feindlich ist.
Gleichzeitig mit diesen gesundenden
körperlichen Beschäftigungen schreitet die geistige Ausbildung
dieser Kinder von Stufe zu Stufe vorwärts. Es ist Brauch, daß
einzelne einen Kurs bei dem Rate der Weisen besuchen, wo der Schüler
das lernt, was zu erlernen er anstrebt. Viele jedoch verbringen diese Periode
der Prüfung auf Reisen, oder sie wandern gar aus, oder beginnen sofort
mit der irdischen Arbeit in Handel und Landwirtschaft. Keinen Zwang gibt
es da für den menschlichen Willen.
10. KAPITEL
Ein interessantes Experiment ist
bei diesen Menschen ganz durchgeführt. Denn die Frauen sind in allem
den Männern dort gleichgestellt, ein Problem, das die Philosophen
ja bei uns noch umkämpfen.
In der Kindheit verrichten die Mädchen
die gleichen Betätigungen wie die Knaben, ja, man zieht sogar in den
jüngeren Jahren, die der Tötung wilder Bestien gewidmet sind,
meistens die Mädchen für diese Beschäftigung vor, weil sie
erfahrungsgemäß durch ihre Veranlagung unter dem Einfluß
der Furcht und des Hasses viel rücksichtsloser und erbarmungsloser
sind in der Zerstörung. In der Zeit zwischen der mittleren Kindheit
und dem heiratsfähigen Alter wird die bisher gemeinsame Arbeit doch
stark getrennt. Wenn dann das heiratsfähige Alter herannaht, wird
die Gemeinsamkeit wieder gestattet, was nie zu schlimmeren Folgen führt,
als eben zu einer Ehe. Jede Kunst und jeder Beruf steht beiden Geschlechtern
offen, und die Gyei (Frauen) schreiben sich selbst sogar eine Überlegenheit
zu in allen jenen fernliegenden, verborgenen Gebieten des Denkens, wofür,
wie sie sagen, der abstrakte Verstand des männlichen Hirns, stumpf
gemacht durch die ständige Erfüllung mit materiellen Dingen,
ungeeignet geworden sei; wie ja auch in unserer Welt der weibliche Mensch
sich noch mehr mit den Problemen theologischer Rätsel beschäftigt,
für die sonst nur die wenigen Männer noch Zeit finden, die nicht
im industriellen und technischen Treiben und Denken für Lebenszeit
aufgehen.
Doch ein sehr wichtiger und sehr
bedenklicher Punkt in der Durchführung weiblicher und männlicher
Rechte bei diesem so seltsamen Volke ist nun der folgende. Ob nun infolge
der frühzeitigen körperlichen Ausbildung oder auch als Folge
einer besonderen erblichen Organisation, jedenfalls sind in diesem Lande
die Gyei, die Frauen, den Ana, den Männern, an körperlicher Stärke
beträchtlich überlegen.
Sie sind größer von Gestalt
und auch sehniger im Körperbau. Ja, sie behaupten sogar, daß
es den ursprünglichen Gesetzen der Natur unbedingt entspreche, daß
die Frauen physisch stärker sein müßten als die Männer.
Sie begründen diese Ansicht mit einem wissenschaftlichen Dogma, das
sich ergäbe aus dem Erforschen des Lebens gewisser Insekten und aus
einer theoretischen Betrachtung der ältesten Gattung von Wirbeltieren,
wie zum Beispiel der Fische, bei denen doch auch die Weibchen meist groß
genug seien, um ihre männlichen Kameraden nach Belieben verspeisen
zu können.
Hierzu kommt, daß die Gyei
eine viel konzentriertere und raschere Beherrschung jenes vorhin geschilderten
eigenartigen Fluidums ausüben, das auch als Element der Zerstörung
verwendbar ist; was sich bei ihnen noch mit der üblichen Fertigkeit
zu geschickter Verstellung bedenklich vereinigt.
Dadurch können sie sich nicht
nur leicht gegen jeden Angriff der Männer verteidigen, sondern konnten
sogar, wenn der arglose Gatte nichts ahnte, seinem Leben in jedem Augenblick
willkürlich ein Ende machen. Den Gyei zum Lob muß gesagt werden,
daß sich seit Jahrhunderten kein
konkreter Fall eines wirklichen
Mißbrauches dieser furchtbaren Überlegenheit in der Handhabung
zerstörender Kräfte gegenüber dem schwächeren männlichen
Geschlechte ereignete. Der letzte derartige Fall in dieser Gemeinde, bei
der ich lebte, lag etwa zweitausend Jahre zurück. Die Chroniken melden,
daß damals eine Gy in einem Anfall von Eifersucht ihren Gatten zerstörte.
Diese abscheuliche Handlung flößte den Männern ein solches
Entsetzen ein, daß sie allesamt auswanderten und die Gyei sich selbst
überließen. Die Historie berichtet, daß die unter sich
alleingelassenen Frauen natürlich in unerträgliche Verzweiflung
gerieten, über die im Schlafe unbewaffnete Täterin herfielen
und sie töteten, dann aber einen feierlichen Schwur taten, für
immer ihrer weiblichen Überlegenheit an Kräften zu entsagen und
diese Verpflichtung ihren Töchtern durch alle Generationen hindurch
einschärfen zu wollen. Eine Deputation wurde mit diesem versöhnlichen
Vorschlag an die geflohenen Männer gesandt und konnte mit Mühe
einen Teil von ihnen zur Rückehr bewegen, doch kamen meistenteils
nur die alten. Die jüngeren, ob nun aus Zweifel an der Glaubwürdigkeit
ihrer Gattinnen oder wegen einer zu hohen Meinung über die Erhaltung
ihres eigenen Wertes, wiesen jedoch jedes Entgegenkommen zurück und
verblieben in fremden Gemeinden bei neuen Gattinnen, mit denen sie allerdings
wohl kaum glücklicher lebten. Aber der Verlust des größten
Teiles der männlichen Jugend hing wie das Damoklesschwert über
den Häuptern der Gyei und befestigte sie in dem löblichen Beschluß,
den sie nunmehr gefaßt. So kam es, daß sie ihre gefährliche
Überlegenheit in Angriff und Verteidigung, die sie einst über
die Männer besaßen, verloren, wie es zu gehen pflegt, wenn man
irgendwelche Fähigkeiten brach liegen läßt. Aber auch jetzt
noch täte mir jeder Ana herzlich leid, der den verzweifelten Versuch
wagen sollte, festzustellen, ob das männliche Geschlecht nicht doch
dem weiblichen überlegen sei.
Seit jenem Vorfall, den ich berichtete,
datieren eine Reihe einschneidendster Änderungen in den Gebräuchen
der Ehe, die gewiß den Männern etwas zum Vorteil gereichen.
Sie verpflichten sich jetzt nur auf drei Jahre zu einer Ehe, und am Ende
des dritten Jahres steht es einem jeden
Teil frei, sich von dem anderen
zu trennen und jemand anderen zu heiraten. Nach zehn Jahren hat der Ana
das Recht, sich eine zweite Gattin zu nehmen und der ersten zu erlauben,
sich auf ihren Wunsch zurückzuziehen. Solche Regeln sind aber jetzt
tote Buchstaben geworden, denn
Ehescheidungen und Polygamie sind
äußerst selten, und die Ehefrage scheint einigermaßen
gelöst bei diesem absonderlichen Volke. Die Gyei, trotz ihrer großen
physischen und geistigen Überlegenheit über den Mann, sind doch
im allgemeinen sehr entgegenkommend aus Angst vor
Scheidung oder einer zweiten Gattin,
und die Männer sind bei diesem Volke derartige Gewohnheitsmenschen,
daß sie jegliche Veränderung ihres automatischen Lebensablaufs
und ihrer in einen sozialen Mechanismus eingespannten Lebensroutine von
vornherein auszuschalten suchen.
Noch ein weiteres sehr eigentümliches
Recht haben sich die Gyei bei diesem Volke gesichert, und wer weiß,
ob dies nicht auch die unbewußte, verborgene Triebkraft so vieler
Frauenrechtlerinnen auf Erden sein mag. Die Gyei nehmen nämlich für
sich das Recht in Anspruch, um den Mann zu werben, während dies bei
uns doch wohl umgekehrt ist. So ein Phänomen wie eine alte Jungfer
gibt es also in diesem merkwürdigen Lande nicht, denn es ist sehr
selten, daß eine Gy ihren unbedingten Willen in dieser Hinsicht nicht
durchsetzt. Wie scheu, zurückhaltend und spröde der Mann, den
sie umwirbt, auch sein mag, so bringt ihre Ausdauer, ihre Überredungskunst,
und wenn alles nicht hilft, ihre Überlegenheit in der Anwendung der
mächtigen Naturkräfte des Vrilstabes den Mann endlich doch sicher
dahin, seinen Nacken unter das kaudinische Joch zu beugen. Ihre wissenschaftlichen
Argumente für ein derartiges Verhältnis unter den Geschlechtern,
das die Tyrannei des Mannes auf Erden in ihr Gegenteil verkehrt, sind allerdings
logisch und werden durchschnittlich mit einer solchen Überzeugungskraft
vorgetragen, daß sie einer unparteiischen Prüfung wohl wert
wären. Sie argumentieren nämlich, daß von Natur die Frau
ein viel mehr zur Gemeinsamkeit neigendes Wesen sei, daß ihre Gedanken
und Lebensnotwendigkeiten von diesen Dingen viel weitgehender bestimmt
würden und daß sie selbst daher der werbende Teil sein müßten.
Dagegen sei der Mann eine scheue und zum Zweifel veranlagte Kreatur, ein
unverbesserlicher Eigenbrötler, der wirklich zu oft dem egoistischen
Wunsche nach Einsamkeit nachgäbe; auch meinen sie, daß der Mann
zur Eroberung einer Frau völlig untalentiert sei, kurz, daß
er von Natur zu den Kreaturen gehöre, die überrumpelt und dann
in sicherem Gewahrsam gehalten sein sollten.
Was auch immer über diesen
Punkt gesagt werden mag, das System scheint recht günstig für
den Mann. Denn er hat die Gewißheit, daß die Frau nun auch
wirklich an ihm hängt. Je spröder und zurückhaltender er
sich zeigt, um so stärker wird das Bestreben der Gattin, sich seiner
zu
vergewissern. Auch kann er unter
dieser Konstellation von vornherein sehr günstige Ehebedingungen stellen,
um sich, wenn auch kein segensreiches, so doch wenigstens ein friedliches
Leben zu sichern. In der Tat, trotz ihrer bedenklichen Überlegenheit
an Geist und Kräften, sind die Gyei die liebenswürdigsten, versöhnlichsten
und glücklichsten Gattinnen, wie sie wohl kaum auf der Erde zu finden
sind.
11. KAPITEL
Ich war anfangs doch furchtbar verwirrt,
als ich meinen menschlichen Verstand mit der Tatsache aussöhnen wollte,
daß es auch jenseits der Erdoberfläche noch Welten gäbe,
und daß diese von Wesen bewohnt seien, die, wenn auch von anderer
Organisation, doch in Gegenden lebten, wo die Hypothesen unserer höchsten
Gelehrsamkeit ein Leben für völlig unmöglich erklären.
Stimmen doch zum Beispiel die meisten Geologen und Philosophen darin überein,
daß, wenn auch die Sonne der Urquell der Wärme ist, doch auch
je tiefer wir unter die festen Substanzen der Erde hinunterdringen, dort
die Hitze sich ständig vergrößert. Nun, vielleicht weil
die Gegenden jener Menschheit, bei der ich mich aufhielt, sich unmittelbar
unter der Erdoberfläche erstreckten, jedenfalls erschien mir die Temperatur
als dem organischen Leben noch angemessen, und es war auch die Hitze nicht
derart stark, wie sie den Schätzungen unserer Gelehrten nach sein
müßte, nicht viel wärmer als etwa Südfrankreich oder
der Süden Italiens. Und nach allen Berichten, die ich hier empfing,
waren sogar noch in tieferen Bereichen der inneren Erde, wo nach unserer
Meinung nur Feuersalamander sich aufhalten, allüberall Wesen der verschiedensten
Art. Natürlich würde ich niemals wagen, Tatsachen zu behaupten,
die im Widerspruch zu den Hypothesen unserer erhabenen Fachwissenschaft
stehen. Und leider konnte auch Zee mir das Problem nicht erklären.
Sie erlaubte sich nur die Vermutung, daß unsere Gelehrten die Struktur
des Erdinnern vielleicht doch nicht ausreichend kennen, vielleicht auch
von den Unregelmäßigkeiten, Strömungen und der Atmosphäre
da drunten nichts wüßten und sich von den mannigfaltigen Wirkungen
der Wärme kein rechtes Bild machen könnten. Sie gab andererseits
zu, daß es Tiefen des Erdinnern gäbe, wo ein so organisiertes
Leben wie das ihre unmöglich sei, auch nicht in dem umfassenderen
Sinne, wie es die Vrilya verstünden; obgleich ihre eigenen Gelehrten
wohl wüßten, daß auch in solchen Regionen und Sphären
stets irgendein Lebensprinzip sein müsse, wenn es auch ein nur seelisches
oder rein geistiges sei. Sie sagte: «Wo immer Gott Raum schafft,
da erfüllt er ihn auch mit Wesen. Er liebt nur, was Wohnstatt für
Leben und Wesen ist.»
Sie fügte jedoch hinzu, daß
die Temperatur und das Klima gar manche Veränderungen erfahren hätten
durch die geschickte und bewußte Beherrschung des Vril, und daß
man all diese Naturprozesse mit ihm erfolgreich zu beeinflussen verstünde.
Sie versuchte mir dann ein zartes,
die Lebenserscheinungen anregendes
Medium zu erklären, das sie Lai nannte und das ich in Gedanken mit
den ätherischen Kräften des Oxygen verglich, wie sie ein irdischer
Forscher einst lehrte. In diesem Medium sind all jene Kräfte enthalten,
die sonst unter dem Namen des Vril
zusammengefaßt werden. Sie
versicherte, daß wo auch immer dieses Medium verbreitet werde, in
ihm genügend Kräfte des Vril vorhanden seien, welche die Umgebung
und Temperatur derart beeinflussen, daß das Lebensprinzip sich in
der Substanzwelt verkörpern kann.
Dann erklärte sie mir, die
Naturwissenschaft vertrete bei ihnen die Ansicht, daß ob nun
aus Samen dem Erdboden entsprossen, oder durch die fliehenden Vorfahren
an diese Stelle verpflanzt jedenfalls hier alle Pflanzen und jegliche
Vegetation zu den jetzigen Formen durch die Wirkung des künstlichen
Lichts umgestaltet und herankultiviert worden seien. Sie sagte auch, daß,
seit das Vrillicht alle übrigen Lichtarten ersetzt habe, die Farbe
der Blumen weit schöner und das Wachstum der Pflanzenwelt viel üppiger
geworden sei.
Ich überlasse es denen, die
sich darin für maßgeblich halten, diese Gedanken zu Ende zu
denken.
12. KAPITEL
Dieses seltsame Volk hat eine Religion,
die, was man auch dagegen sagen mag, doch bedeutsame Werte vereinigt. Erstens
glauben dort alle Menschen auch an die Religion, zu der sie sich öffentlich
bekennen. Zweitens befolgen sie wirklich die Regeln, welche ihr freiwilliger
Glaube ihnen vorschreibt. Sie sind
einig in der Verehrung eines göttlichen Schöpfers und Erhalters
des alles umfassenden Kosmos. Sie schreiben der alles durchdringenden Kraft
des Vril die Eigenschaft zu, daß durch sie zu dem Urquell alles Lebens
und Wesens jeder Gedanke gelange, den ein lebendes Wesen je fassen kann.
Und obgleich sie nicht bestreiten, daß ein Erleben des Göttlichen
allem Lebendigen innewohne, so meinen sie doch, daß der Mensch sich
als das einzige Geschöpf darstellt, dem die Fähigkeit gegeben
wurde, diese Wahrheit durch Gedanken zu fassen und bewußt mit dieser
Erkenntnis zu leben. Auch halten sie dafür, daß dieses Privileg
dem Menschen nicht umsonst gegeben ward, also daß Gebet und Dank
an ein göttliches Wesen gelangen und zur Entwicklung des menschlichen
Wesens vonnöten sind.
Ihre Kulthandlungen sind teils öffentlich,
teils auch geheim. Da man mich nicht als ein Wesen von ihrer Art ansah,
so ließ man mich nicht in den seltsamen Tempel hinein, wo der öffentliche
Gottesdienst zelebriert wird. Man sagte mir nur, daß der Dienst hier
der Zeit nach sehr kurz ist und die Zeremonie ohne Prunk vollzogen wird.
Es ist ein Lehrsatz des religiösen Lebens der Vrilya, daß eine
ernste Hingebung an die geistige und Absonderung von der physischen Welt
doch nicht aufkommen kann, wenn die Öffentlichkeit uns umgibt, und
daß alle anderen Versuche nur zu Fanatismus oder Scheinheiligkeit
führten.
Sie sagen, daß in lange vergangenen
Zeiten man bei ihnen noch vielbändige Bücher und Abhandlungen
über das Wesen der Gottheit geschrieben habe, auch über die Glaubensbekenntnisse
und das Maß ihres Wohlgefallens vor Gott. Aber all das habe nur zu
so erhitzten und unwürdigen Begriffsspielereien geführt, daß
nicht nur der Frieden der Gemeinschaft, sondern auch der einzelnen Menschen
vergiftet wurde, ja, man habe im Laufe des Begriffeschmiedens schließlich
die Gottheit gar selber hinwegdisputiert oder sie mit den Leidenschaften
und Unvollkommenheiten menschlicher Philosophen bekleidet. «Denn»,
sagte mein Gastgeber, «da der Verstand eines irdischen Wesens nicht
das Wesen des Unendlichen fassen
kann, so erniedrigt er Göttliches oft zu den Grenzen des eigenen Verstandes.»
Deshalb gab man in späteren Zeiten alle philosophischen Begriffsspaltereien
in diesen Dingen auf, und wenn man sie auch nicht gerade verbot, so verfielen
sie schließlich
von selbst, weil kein Mensch sich
mehr fand, der sie angehört oder gar gelesen hätte.
Die Vrilya sind sich dessen bewußt,
daß der Mensch, nachdem die Pforte des Todes durchschritten ist,
in einen höheren geistigen Zustand hinübergeht. Über die
Lehre von Lohn und Strafe hegen sie nicht die sonst üblichen kindlichen
Vorstellungen, vielleicht kommt es ihnen dabei
zugute, daß bei ihnen auch
im Leben die Begriffe von Gut und Böse durch das Fehlen der Versuchung
zum Verbrechen und der Standard ihrer Lebensweise so anders geartet sind,
daß die sonst üblichen Unterscheidungen dafür nicht mehr
ausreichen. Das Verhältnis der verschiedenen
menschlichen Qualitäten ist
bei ihnen im ganzen viel aus geglichener, weil ihr Leben von vorneherein
einen anderen Standpunkt von Moralität mit sich bringt. Auch haben
sie eine besondere Anschauung von der wirklichen Fortdauer alles Lebens,
die wir im folgenden nun zu schildern
versuchen.
13. KAPITEL
Während die Vrilya, wie ich
schon sagte, alles nur philosophisch Begriffliche von der Erkenntnis des
Wesens der Gottheit streng fernhalten, haben sie doch, wie mir scheint,
jenes ewige Rätsel vom Dasein des Guten und Bösen gelöst,
das dem philosophierenden Verstand unserer eigenen Welt noch zu lösen
unmöglich war. Sie lehren, daß wo auch immer aus dem Wesen des
Ewigen Leben entsprungen sei, dieses Leben, und sei es auch noch so schwach,
aus der Welt nie mehr ausgelöscht werden könne. Denn es gehe
in ewigem Werdegang stets in neue Gestaltungen über, sei auch nicht
nur auf diesen einen Planeten beschränkt (worin sie sich von anderen
Deutungen der Wiedergeburtslehre wohl unterscheiden).
Das Bewußtsein der eigenen
Identität behalte das Lebewesen durch Geburten und Tode und knüpfe
so jedes vergangene Leben mit dem künftigen Leben zusammen, ja sei
sich im Innern bewußt eines harmonisch ansteigenden Fortschritts.
Denn sie sagen, daß ohne die solchergestalt sich vollziehende stete
Entwicklung für die klare Vernunft und Erkenntnis die Verwirklichung
einer vollkommenen reinen Gerechtigkeit niemals verstanden und wahrhaft
durchschaut werden könne. Ungerechtigkeit würde jedoch nur aus
folgenden Ursachen kommen: Mangel an einer Erkenntnis des Guten, Mangel
an Wohlwollen, Mangel an Macht, das Gute zum Siege zu führen. Doch
weil Gott diesen Mangel an Weisheit und Willen zum Guten und den Mangel
an Macht der Erfüllung nicht wolle, so gibt seine hohe Gerechtigkeit
uns auch die Möglichkeit künftiger Wiedergeburt, ja, sie fordert
sogar dieses Fortleben der Menschen, als auch anderer Wesen in der alles
umfassenden Welt. Es sei eine irrige Annahme menschlicher Köpfe, daß
Gott sich nur in dem Rahmen von Naturgesetzen auswirke und dadurch das
Werk seiner Hände so mächtig mache, daß es das schöpferische
Prinzip selbst in Fesseln lege. Einenoch viel mehr aus beschränkter
Unwissenheit stammende Ansicht sei es, Gott habe sein eigenes Wesen nicht
auch in den Myriaden gestalteter Formen in den übrigen Naturreichen
verwirklicht, sondern nur dem menschlichen Wesen allein vorbehalten. Diese
Unterscheidungen seien nicht wahr in der Anschauung göttlichen Wirkens.
Das beseelte lebendige Wesen werde durch die Verwandlung der Jahrtausende
erhalten, und wenn es auch Tode erleide, so sei doch die Geburt zu neuem
Leben gegeben. Da nun das Innere des wiedergeborenen Wesens das Bewußtsein
der Identität sich im künftigen Leben bewahre wenn auch
die Erfüllung des göttlichen Wesens in uns noch außerhalb
unserer Erkenntniskräfte verbleibe , so haben wir doch das Recht,
an die Ewigkeit und Allgemeinheit dieser Wahrheit zu glauben, was nicht
möglich sein würde, wenn dieWelt nur den Naturgesetzlichkeiten
unterworfen wäre. So allein werde Vollkommenheit in der Erkenntnis,
Vollkommenheit in der Liebe zum richtigen Wollen, Vollkommenheit in der
Macht des Vollbringens erlangt.
Wie fremd solcher Glaube auch diesem
und jenem erscheinen mag, so hat er doch mancherlei Vorzüge. So führt
er im sozialen Leben auch zu vernünftigen sozialen Gedanken, läßt
die Jagd nach dem Reichtum und nach weltlichen Ämtern nicht zu und
bewirkt eine harmonische Milde und Ausgeglichenheit in den Beziehungen
der Menschen untereinander, sowie eine Fürsorge für alle lebende
Kreatur. Nur selten sieht sich die Gemeinschaft dann zum Töten lebendiger
Geschöpfe gezwungen. Und obgleich dieser Glaube, daß das Quälen
eines Tieres oder das Zerstören von Leben gesühnt werden müsse,
vielleicht vielen befremdend erscheint, so gibt er dem Ernsten doch wirklich
zu denken.
Mir war es erstaunlich, daß
jenseits unserer Erdoberfläche sich noch Wesen befinden, die das Licht
einer besseren Erkenntnis bewahrten, die von den göttlichen Werten
wissen, die das Wesen des Guten und Bösen und den Gang jener ewigen
Gerechtigkeit über Zeit und Raum hinaus
richtig erkannten.
Ich werde später darauf noch
zurückommen, wie die geistigen Anschauungen und sozialen Systeme dieser
befremdlichen Menschheit es ermöglichten, die verschiedensten und
sich anscheinend widersprechenden Variationen philosophischer Lehren und
Thesen doch harmonisch zu einem Ganzen zu verschmelzen und im täglichen
Leben zu verwirklichen, die bei unseren Philosophen noch im wütendsten
Gegeneinander umkämpft, von Zeit zu Zeit fallengelassen, dann wieder
aufgegriffen und abwechselnd als allein seligmachend oder als weltzerstörerisch
durch die Disputationen gezerrt werden.
Vorerst will ich meine Betrachtung
über die religiösen Anschauungen der Vrilya, die von der ewigen
Erhaltung des menschlichen Wesens handeln, mit,Gedanken beschließen,
die einem Werke des berühmten Zoologen Louis Agassiz entnommen sind,
das mir erst später bei Nieder
schrift meiner Erinnerungen an die
Erlebnisse bei dem Volke der Vrilya in die Hände fiel, wo dieser irdische
Forscher sagt: «Die Beziehungen, in denen die Individualitäten
lebender Wesen zueinander stehen, sind so geartet, daß man sie eigentlich
immer schon als genügenden Beweis
dafür hätte ansehen können,
daß kein lebendiger Organismus jemals entstehen kann, ohne daß
ein bewußter Wille hierzu den ersten Antrieb gegeben hat. Dies sagt
uns vor allem, daß in jeglichem Lebewesen ein Funke jenes übersinnlichen
Lebensprinzipes sich auswirkt, das erst im Menschen sich als geschlossene,
höhere Einheit verwirklicht und somit diesen über das Tierreich
erhebt. Ja, dieses schöpferische Lebensprinzip existiert ohne Zweifel,
und ob man es nun in Vernunft, Verstand oder Instinkt aufsucht, stets wird
es sich in allen Arten von lebenden Wesen durch eine Summe eindeutigster
und harmonisierender Phänomene beweisen. Sind auf ihm doch die höchsten
Betätigungen seelischer Art ebenso basiert, als auch gerade diejenigen
Differenzierungen, die jedes solche Wesen von den anderen unterscheiden.
Fast alle Begründungen, die für die Unsterblichkeit jeder menschlichen
Seele sprechen, stützen sich auf die Fortdauer dieses ewigen Lebensprinzipes
in einem jeglichen dieser Wesen. Muß ich noch sagen, daß ein
zukünftiges Leben, in dem der Mensch all die Früchte seiner geistigen
und moralischen Fortschritte und seiner Erkenntnis der Harmonien des Weltalls,
die er im Leben erworben hat, wieder verlieren müßte, ihn zu
unersetzlichen ewigen Verlusten verdammen würde? Und dürfen wir
also nicht doch einen harmonischen Zusammenklang aller Welten und der darin
lebenden Wesen in der Gegenwart ihres Schöpfers als die höchste
Erfüllung im Jenseits betrachten?»
14. KAPITEL
Die Familie meines Gastgebers zeigte
mir eine fürsorgliche Aufmerksamkeit, die in der Liebenswürdigkeit
und Zuvorkommenheit seitens der Tochter einen Gipfel erreichte. Auf ihren
Vorschlag hin vertauschte ich die unschönen Kleider, die ich noch
von der Erdoberfläche her trug, mit den Kleidungsstücken, wie
sie den Vrilya eigen sind, mit Ausnahme jener künstlichen Flügel,
die sie ja, wenn sie nicht fliegen, auch als kleidsamen Mantel tragen.
Aber da viele von ihnen bei alltäglichen
Beschäftigungen die Flügel ablegten, so erregte ich mit meiner
Flügellosigkeit kein weiteres Aufsehen und stach nicht zu sehr von
meiner Umgebung ab, konnte also die Stadt besuchen, ohne zuviel unliebsame
Neugierde zu erregen. Außer der Familie meines Gastgebers ahnte gewiß
niemand, daß ich aus der oberen Welt kam, und man hielt mich nur
für irgendeinen barbarischen Halbwilden, den Aph-Lin bei sich aufgenommen
hatte.
Die Stadt war verhältnismäßig
groß. Das zugehörige Land dagegen nicht viel größer
als etwa der Besitz eines englischen oder ungarischen Edelmannes. Alles
war bis zu den angrenzenden Felsen in vollendeter Weise kultiviert, nur
ein kleines Gehege von gebirgiger Weide hatte man
menschlicherweise für einige
Arten unschädlicher Tiere noch frei gelassen, die man aus Liebe zur
Tierwelt, nicht nur zum menschlichen Nutzen, dort zahm hielt. Diese Fürsorge
für die Erhaltung der Tiere geht so weit, daß es einen besonderen
Staatsfonds gibt, der dazu dient, die über
handnehmenden Jungtiere in entferntere
Gegenden, meist neu errichtete Kolonien, zu verbringen. Eigenartigerweise
vermehren sich diese Tiere jedoch nicht so stark wie diejenigen, die wir
nur zum Schlachten uns züchten. Es kam mir der Gedanke, als ob die
Natur diejenigen Geschöpfe,
die keinen Wert mehr für den
Menschen besitzen, langsam in seiner Umgebung von selbst auslösche.
Es ist ein alter guter Brauch unter
den verschiedenen Staaten der Vrilya, daß man immer zwischen zwei
Staaten einen Streifen gänzlich neutralen und unbebauten Landes frei
läßt. Bei der Gemeinde, in der ich lebte, bestand dieser Streifen
aus wilden, für den Fußgänger unbetretbaren Felsen, welche
aber von diesen fliegenden Menschen leicht überwunden werden, sei
es mit Flügeln oder in kleinen lenkbaren Luftschiffen, auf die ich
noch zu sprechen komme. Später hat man auch Straßen für
Fahrzeuge mit Hilfe der Vrilkräfte durch die Felsen gebahnt. Diese
Straßen waren immer von jenem künstlichen Licht erleuchtet,
das von den umliegenden Gemeinden der Vrilya versorgt wurde. Ein lebhafter
Handel ging über die Gebirge hinweg. Charakteristisch ist, daß
die höchsten Preise gegeben werden für Vögel, die zum vielstimmigen
Singen in Chören und symphonischen Harmonien angelernt sind, denn
sie sind schwer zu erlangen und zeichnen sich auch durch ihr herrliches
Gefieder vor den anderen aus. Für ihre Ausbildung sind besondere Lehrer
erforderlich, die in der Kenntnis der sphärischen Harmonien bewandert
sind und welche die Fähigkeit dieser Vögel auf einen unbegreiflichen
Grad der Vollkommenheit steigerten. Neben diesen singenden Geschöpfen
besitzen die Vrilya keine anderen Lieblingshaustiere, außer einigen
den Salamandern ähnlichen Kreaturen, die als Hausnarren viel zur Belustigung
beitragen und mit ihrem tragikomischen Mienenspiel in den Gärten den
Kindern zum Ergötzen gehegt werden. Hunde und Pferde kennt man nicht,
obgleich Zee, dieses Phänomen an Gelehrsamkeit, mir erzählte,
daß es ähnliche Kreaturen bei den nicht zu dem Stamme der Vrilya
gehörigen Völkern noch gäbe. Sie sagte, daß gerade
diese Tiere nach der Entdeckung der Vrilkräfte langsam ausstarben,
weil durch die
Mechanisierung aller Arbeit solche
Tiere für den Menschen ganz überflüssig geworden sind. Durch
die Erfindung des Fliegens der Menschen sei das Pferd jetzt als Lasttier
ganz unbrauchbar, und mit dem Wegfall der Feindseligkeit unter den Menschen
sei das Halten von bissigen Hunden ja zwecklos. Nun war wirklich diese
Gegend so felsig, daß ein Pferd seinen Zweck nicht erfüllt hätte,
und in der Landwirtschaft gebrauchte man als Lasttiere Gemsen. Die felsige,
ungangbare Umgebung mag diese Menschheit wohl vor allem für den Gedanken
der Erfindung von Flügeln und Luftschiffen angeregt haben.
Die Stadt selbst war so ausgedehnt
dadurch, daß ein jedes Haus von den herrlichsten Gärten umschlossen
war.
Die stattliche Hauptstraße,
in der mein Gastgeber Aph-Lin wohnte, mündete in einen weiten Platz,
der vom Hause des Rates der Weisen und den Verwaltungsgebäuden umgeben
war. Eine herrliche Fontäne jenes selbstleuchtenden Fluidums (das
ich mit Naphta bezeichne, weil ich seine wahre Zusammensetzung nicht kenne),
erhob sich inmitten des Platzes. Alle diese Gebäude erweckten einen
Eindruck von lastender Schwere, der mich an die Architektur frühester
Zeiten erinnerte. Um ein jedes Stockwerk herum liefen große Balkone,
oder besser gesagt Gartenterrassen, die von Säulen getragen, mit den
prächtigsten Blumen bepflanzt und von den seltsamen singenden Vögeln
bewohnt wurden.
Von dem Hauptplatz aus liefen die
prächtig mit künstlichem Lichte erleuchteten Straßen und
erstreckten sich bis zu den mächtigen Felsen. Meine Besuche in der
Stadt durfte ich niemals allein unternehmen, sondern hatte Aph-Lin oder
seine Tochter als stete Begleiter. Bei diesem Volke ist der freie Verkehr
unter den Geschlechtern nicht durch eine spitzfindige Konvention unnatürlich
gemacht.
Die Geschäfte und Läden
sind nicht so zahlreich und bunt, und werden von Kindern bedient, die zwar
verständnisvoll und höflich, doch nie aufdringlich sind. Der
eigentliche Inhaber solcher Geschäfte ist selten zugegen und scheint
kaum mit der Sorge um geschäftliche Dinge seine
Zeit zu verbrauchen, auch wählt
man sich bei den Vrilya eine solche Beschäftigung unabhängig
von jeglichem Zwang und aus eigenem Antrieb. Ja, einige der reichsten Leute
unter den Vrilya bedienten in solchen Geschäften aus Liebhaberei,
gibt es doch, wie ich schon sagte, weder
Amtswürden dort, noch Titulatur,
und darum ist jede Art von Beschäftigung im sozialen Leben stets gleich
hochgeachtet. So zum Beispiel kaufte ich meine Sandalen beim Bruder des
Staatsregenten, des Tür, und dieser Laden unterschied sich in nichts
von einem solchen in Bond Street oder Broadway zu New York. Dieser Mann
war dabei zweimal so wohlhabend als der Staatsregent und besaß einen
prächtigen Landsitz.
Allerdings sind diese Menschen andererseits,
sobald ihre Kindheit vorbei ist, ein schrecklich mechanisiertes und temperamentloses
Volk. Ob dies nun Folge eines Entwicklungsstadiums des menschlichen Geistes
schlechtweg oder einer vom mechanisierten äußeren Leben diktierten
Lebensanschauung sein mag, immerhin halten sie gleichmäßigen
Ablauf und Ruhe für den Idealzustand irdischen Daseins.
Aber, wenn man durch philosophische
Dogmen die Impulse zum Handeln gänzlich verurteilt, die aus dem individuellen
Triebleben des einzelnen kommen, so wundert mich nicht, daß man dann
in das Extrem völliger Apathie verfällt. Im gewöhnlichen
Leben ziehen sie oft das Zufußgehen
dem Fliegen vor. Jedoch zur Erholung
und beim Umherschweifen fliegen sie lieber, was dann meist zu jenen prächtigen
Luftspielen führt, die ich vorhin beschrieb. Auch wenn sie ihren Landsitz
aufsuchen, der stets in luftigen Berghöhen liegt, oder wenn sie, besonders
in der Jugend,
nach entfernteren Gegenden reisen,
dann benützen sie als Beförderungsmittel nur ihre Flügel.
Wer einmal seine Flügel zu
benutzen versteht, kann, wenn auch nicht die Geschwindigkeiten der schnellsten
Vögel, so doch mit Leichtigkeit etwa dreißig Meilen in der Stunde
zurücklegen und dieses Flugtempo fünf bis sechs Stunden ununterbrochen
durchhalten. Aber das zur
Trägheit im späteren Alter
recht hinneigende Volk der Ana liebt keine schnellen Bewegungen oder sportlichen
Leistungen. Vielleicht auch, weil ihre Ärzte sie daran durch die Maßregel
hindern, die bei uns ja ständig betont wird, daß man nur bei
geregelter Atmung der Poren gesund sei;
weshalb sie sich regelmäßig
durch besonders bereitete Bäder behandeln, die den römischirischen
bei uns etwas ähnlich sind, aber dort mit wohlriechenden und auch
heilenden pflanzlichen Kräutern und Säften bereitet sind.
Wichtig als Heilmittel ist ihnen
ganz besonders ein Vrilbad, durch das sie in regelmäßigen Zeitabständen
ihre Körper stärken und stählen. Als ich es einmal versuchte,
erinnerte es mich an die Wirkungen der Wässer von Gastein, deren belebende
Wirkungen unsere Gelehrten der Elektrizität zuschreiben möchten.
Doch ist die Wirkung noch eine andere und von schwerwiegendstem Einfluß
auf den menschlichen Organismus. Die Vrilya wissen ja überhaupt, daß
dieses Fluidum Vril, wenn mit richtiger Kenntnis verwendet, als ein wichtiger
Lebenserhalter sich darstellt. Doch, wenn im Übermaß angewandt,
schadet es dem gesunden Organismus ebenso leicht und schwächt die
Lebenskraft. Wohl fast für alle Erkrankungen greifen sie zu der Hilfe
des Vril, das in richtiger Dosis die Natur unterstützt und dem Körper
im Wiederherstellen seiner organischen Ordnung behilflich ist.
In einer besonderen Art sind sie
Freunde eines wirklichen Luxus, aber ihr Luxus ist stilvoll und unschuldig.
Man könnte sagen, sie leben in einer Atmosphäre von harmonischen
Tönen und Düften. Jeder Raum enthält zahlreiche Instrumente,
die eine sanfte melodische Tonwelt erzeugen,
die dem Weben der sphärischen
Harmonien vergleichbar ist. Diese Menschen haben sich derart an die tönende
Umgebung gewöhnt, daß sie selbst im Gespräch und im einsamen
Denken dadurch niemals gestört sind. Nein, sie sind sogar fest überzeugt,
daß der Mensch, wenn er eine mit Tönen verwobene Luft atmet,
sich die Funktionen des Denkens und Lebens erleichtert.
Im Genuß lehnen sie tierisches
Fleisch und berauschende Getränke durchweg ab, doch kultivieren sie
ihre Mahlzeiten sehr und bewahren in all ihren Ausschweifungen stets eine
stilvolle Fröhlichkeit. Ihre Vorstellung eines glücklichen Lebens
erstrebt gar nicht Höchststeigerung eines einzelnen Augenblicks, vielmehr
dauernde Erregung eines beschaulichen, heiteren Lebens. Dies verstehen
sie nun durch den glücklichen Stil ihres Wesens sich in Gemeinschaftlichkeit
wirklich zu sichern.
Ihre Schädelbildung unterscheidet
sich wesentlich von den mir auf der Erde bekannten Rassen. Ich möchte
sie für eine auf unzählige Zeitalter zu berechnende Höherentwicklung
einer brachyzephalen Schädelform halten, im Vergleich zu dem dolichozephalen
Typus, jener vorsintflutlichen Kopfform, die bei uns auf der Erde jetzt
am häufigsten vorkommt und der keltische Schädel genannt wird.
Die Stirn ist nicht so zurückstehend
wie beim Kelten, sondern ausholend und nach vorne gewölbt, der Kopf
ist vor allem oben in der Mitte stärker ausgebildet, und dafür
kleiner am Hinterkopf, wo die Phrenologen die tierischen Organe vermuten.
Ein Phrenologe würde also wohl sagen, bei den Vrilya seien die Organe
der Schwere, der Zahl, des Tones, der Harmonie, der Ordnung sehr stark
entwickelt; das Organ des Konstruktiven sei viel stärker ausgebaut
als das der Schwärmerei. Die Grundlagen der moralischen Qualitäten,
wie Gewissen und Nächstenliebe, sind sehr entwickelt; Leidenschaft
und Kampflust gering; Anhänglichkeit groß, auch das Organ der
Gewalt (insoweit sie der Überwindung von Hindernissen dient) ist hervorragend,
aber doch weniger stark als das des Mitleids. Ihre Liebe zur Nachkommenschaft
hat mehr den Charakter des Sicheinfühlens und der Hilfsbereitschaft
gegenüber Wesen, die des Schutzes und der Hilfe bedürfen, als
des tierischen Ursprungs der Liebe. Ich begegnete niemals einer Person,die
wirklich häßlich oder mißgestaltet gewesen wäre.
Die Schönheit ihrer Gesichtszüge beruht gar nicht etwa besonders
auf Symmetrie, sondern vielmehr auf der Beherrschtheit des Antlitzes, das
bis ins hohe Alter hinein keine Falten und Furchen zeigt, aber jenen Ausdruck
aufrichtiger Güte trägt, der eben nur durch die Selbstbeherrschung
und das Freisein von Furcht jeder Art sich erwerben läßt. Diese
majestätische Güte war es, die in einem gewöhnlichen Erdenbewohner
wie mir, der an die Verzerrungen einer leidenschaftlich kämpfenden
Menschheit gewöhnt ist, ein Gefühl der Erniedrigung, Scham und
Furcht auslöste. Es ist der Gesichtsausdruck, mit dem Künstler
die Halbgötter, Engel und Genien bildnerisch zu gestalten lieben.
Die Männer sind bei den Vrilya
natürlich ganz bartlos; dagegen kann man das von den älteren
Gyei nicht immer sagen. Ich war erstaunt darüber, daß bei diesem
Volke die Hautfarbe nicht bei allen die gleiche ist, wie ich sie vorhin
beschrieb, sondern es gab da noch schönere, welche die
Blauäugigkeit und das goldblonde
Haar unserer nordeuropäischen Typen mit der bronzenen Tönung
der Hautfarbe unserer südlichen Menschen vereinten. Wie man sagte,stammt
dies von den Mischehen her, die mit entfernteren Völkern der Vrilya
geschlossen wurden. Man befürwortete solche Mischehen unter den Völkern,
doch wiederum grundsätzlich nur mit solchen, die durch die Generationen
hindurch sich in der Beherrschung des Vril gleiche Fähigkeiten erwarben.
Auf Völker, denen die Meisterschaft über die Vrilkräfte
fehlte, sah man voll Mißachtung und voll Mitleid herab, etwa wie
der Bürger New Yorks auf Mulatten und Neger.
Ich lernte von Zee, die viel gelehrter
war als die männlichen Geschöpfe ihrer Umgebung, daß man
die Überlegenheit der Vrilya den ungewöhnlichen Hindernissen
zuschrieb, die ihnen von der Natur bei der ersten Entwicklung der Rasse
entgegengestellt wurden. «Denn», sagte sie, «immer müssen
bei den Kämpfen in der Entwicklung die befähigtsten Wesen aus
der Masse herausgelöst werden. Die Natur arbeitet letztlich nur für
die Auserlesenen! Auch bei unserer Rasse wurden so in der Entwicklung bis
zur Entdeckung des Vril nur die hierfür bestorganisierten Menschen
erhalten, und in unseren Traditionen gibt es ein Buch, welches glauben
läßt, daß wir einst aus Regionen hierherkamen, die der
Schilderung Ihrer Welten entsprechen. Dies geschah durch ein heftigeres
Ringen mit der Natur, wie es unsere Ahnen erlebten, um eine auserlesene
Menschheit zu bilden, die bestimmt ist, in der anderen Welt zukünftig
wieder zu erscheinen, um die morschen und niedergehenden Rassen, die jetzt
dort leben, von der Bildfläche zu verdrängen.»
Aph-Lin und Zee führten viele
persönliche Gespräche mit mir über die politischen und sozialen
Verhältnisse unserer Welt auf der Erdoberfläche, deren Menschheit,
wie Zee so philosophisch deduzierte, einst durch die Ankunft der Vrilya
ausgelöscht werden würde. Ich bemühte mich
wirklich sehr, in meinen Erzählungen
unsere Welt in ihren Fähigkeiten und Eigenschaften so glänzend
als möglich zu schildern, und versuchte dabei nicht derart zu schwindeln,
daß meine Zuhörer es von vornherein als Schönfärberei
zu entdecken vermöchten und trotzdem, immer sahen sie sich gezwungen,
die Institutionen unserer glorreichsten, zivilisiertesten Völker mit
den dekadentesten Sorten ihrer Völker vergleichen zu müssen,
die man als hoffnungslos wildester Barbarei verfallen betrachte, und von
denen man nur erwarten könne, daß sie Schritt um Schritt einem
völligen Chaos und Zusammenbruch zueilen. Meine Zuhörer stimmten
daher von neuem darin überein, daß man ihren Mitmenschen nur
ja vorerst jegliche Kenntnis von jenen Welten auf der Erdoberfläche
verbergen und verheimlichen müsse; beide fühlten sehr menschlich
und schauderten vor dem Schicksal zurück, so viele Millionen von Kreaturen
der Vernichtung zueilen zu sehen, ja die Schilderung meiner
Welt, so schön ich sie färbte,
betrübte sie nur. Umsonst zählte ich all unsere großen
Männer auf, die mir gerade in den Kopf kamen Lyriker, Philosophen,
Parlamentarier, Generäle und stachelte die Vrilya an, dem etwas
ähnliches an die Seite zu stellen.
«Ach», sagte Zee mit
einer engelgleichen Milde, «diese wenigen hervorragenden Ausnahmen
mit ihrem himmelweiten Abstand von der Masse der Allzuvielen, das gerade
ist ja das sicherste Zeichen einer unrettbar verfallenden Menschheit. Denn
das letzte Ziel aller irdischen Entwicklung besteht gerade im Überwinden
jenes Abstandes, der nur zum Kampf Aller gegen Alle hinführt. Welche
Regierungsmaßnahmen man dann noch ergreift, das ist ganz belanglos.
Vergrößert sich jener Abstand zwischen den ganz Wenigen und
den Vielen zu sehr, so ist das Ende der persönlichen Freiheit gekommen,
was für eine Freiheit dabei in den Gesetzesparagraphen noch stehen
mag. Auch die allgemeine Möglichkeit ruhiger Arbeit verschwindet,
ohne die eine geistige und physische Entwicklung unmöglich ist.
Die grundlegende Ansicht der Vrilya
hingegen sei die, daß je mehr wir das gesamte Leben demjenigen Geiste
auch in irdischer Wirklichkeit anpassen können, wie das geistige Leben
nach dem Tode geartet ist, desto mehr wird es möglich sein, auch im
irdischen Leben die göttlichen Weltenziele einst zu verwirklichen,
und je mehr wir uns hier schon den Anforderungen geistiger Welten anpassen,
um so leichter wird uns später der Übergang werden. Ist doch
alles, was wir jetzt schon vom Leben der göttlichen Wesen und der
durch die Todespforte gegangenen Seelen wissen, ein Beweis dafür,
daß das Austilgen von egoistischer Einstellung und verzehrender Leidenschaft,
von Geiz, Ehrgeiz und
Händelsucht hierfür Voraussetzung
ist. So scheint uns als notwendig deshalb ein Leben voll betrachtender
Ruhe, das aber nicht ohne die Impulse der geistigen Kräfte und der
individuellen Befähigung jedes einzelnen abläuft, stets ohne
Zwang, ja, durch den Austausch von Sympathien erheitert, ein Leben, das
die Atmosphäre von Rache und Haß, von Furcht, Kampf und Rivalitäten
nicht zuläßt.
Das sind die politischen und sozialen
Verhältnisse, wie sie die Vrilya zu erreichen veranlagt sind. Sie
sehen, wie gänzlich sich diese Zustände unterscheiden von denjenigen
der doch recht unzivilisierten Nationen, von denen Sie kommen.
Es muß bei Ihnen ja notwendig
zu einer systematischen Fortdauer ewiger Sorgen, Ängste und leidenschaftlicher
Kämpfe ausarten, die mit der Zeit statt besser nur schlimmer, bedrohlicher
anwachsen.
Bei uns gibt es ein Volk»,
sagte sie, «das zwar an Zivilisation unter den Vrilya steht, jedoch
unter den wilden Barbaren das mächtigste ist und seine Regierungsform
für die beste politische Errungenschaft menschlicher Weisheit hält,
die von den anderen Nationen unbedingt nachgeahmt werden müsse. Diese
Staatsform nennt man ,KoomPosh', es ist die Regierungsform der Unwissenden,
nach dem kindlichen Prinzipe gedacht, daß im Staate die Mehrheit
regieren müsse. Diese Staatsidee sieht das Heil darin, daß eine
jede Partei um die Mehrheit wetteifert, was natürlich nur zu einem
Dauerzustand übelster Leidenschaft führt Kampf um den Vorrang
an Macht, um Erlangung der Staatsgelder oder um Volksgunst und andere Dinge
von solcher Art. Es ist scheußlich, zu sehen, wie bei dieser Staatsform
die Rivalität der Parteien dahin führt, daß der eine den
anderen beschimpft, verleumdet, betrügt, und wie sich selbst noch
die besten und harmlosesten dieser Parteimenschen gegenseitig ohne Gewissensbisse
oder Scham niederkämpfen.»
«Vor einigen Jahren»,
sagte Aph-Lin, «besuchte ich ein derartiges Volk, aber ihr Elend
und ihre Würdelosigkeit wurde mir nur noch widerlicher dadurch, daß
sie ständig davon redeten, wie herrlich weit sie es doch gebracht
hätten und sich mit phrasenhaftem Wortschwall als eine glorreiche
Nation gegenüber den anderen Völkern betitelten.
Und leider gibt es keinerlei Hoffnung,
dieses Volk, das übrigens recht dem Ihrigen gleicht, je zu bessern,
da die ganze Psychologie dieser Menschen in solcher Richtung sich abwärts
entwickelt. Eine ihrer Begierden besteht beispielsweise darin, ihr Gebiet
nur um jeden Preis zu vergrößern, was ja mit der fundamentalen
Wahrheit in Widerspruch steht, daß jede Gemeinschaft nur bis zu einem
organisch gegebenen Höchstmaß an Umfang noch lebensfähig
ist. Und je mehr sie ein Staatssystem ausbauen, in dem einzelne Demagogen
sich nur durch hitzige Kämpfe und geschwollene Worte an der Spitze
von Millionenmassen erhalten, desto mehr brüsten sie sich gar: ,Da
seht ihr, durch welche ausnehmend glänzenden Vertreter einer im Verhältnis
so kleinen Nation wir die Richtigkeit unseres politischen Systems beweisen!'»
«In der Tat», sagte
Zee abschließend, «wenn die Weisheit des menschlichen Lebens
doch wohl darin besteht, dieses irdische Leben nach den Anforderungen geistiger
Welten soviel als eben möglich zu regeln, wie es unsere Anschauung
sagt, dann gibt es kaum eine falschere staatliche Ordnung als diejenige,
welche die Fortdauer ewiger Parteikämpfe und Streitereien unter den
Sterblichen systematisch noch fördert. Auch verstehe ich nicht, wie
durch Glaubensbekenntnisse, die solche Zustände zulassen, man sich
für jene Zeit vorbereiten will, die man in der Unsterblichkeit dann
zu verbringen beansprucht. Im Gegenteil, Menschen, die ihre irdische Zeit
mit so aller Göttlichkeit feindlichen Dingen verbringen, werden für
das wahre Wesen der Göttlichkeit später niemals Verständnis
finden und sich gewißlich noch sehnen, zurückehren zu dürfen
in die Welt der parteiischen Kämpfe.»
15. KAPITEL
Den Vrilstab habe ich so oft erwähnt,
daß man gewiß eine genauere Beschreibung von mir erwartet.
Leider kann ich nicht alles sagen, denn man hat mir dort niemals gestattet,
ihn selber auszuprobieren, aus Furcht, daß meine Unwissenheit zu
den schrecklichsten Katastrophen führen
könnte. Soviel ich sah, ist
es ein hohler Metallstab, der am Handgriffe mancherlei Tasten und Sprungfedern
hat, durch die seine Wirkung aufs genaueste reguliert, verstärkt,
geschwächt oder auch völlig in den Funktionen verändert
wird so daß er also durch die eine Wirkensart heilt, durch
eine andere zerstört durch das eine Verfahren zersprengter Felsen,
durch das andere ändert er die Zusammensetzung von Dämpfen
auf die eine Art beeinflußt er den leiblichen Organismus, auf die
andere gar die Verstandeskräfte und das Bewußtsein.
Er wird für gewöhnlich
bequem nach Art eines Spazierstockes getragen, aber es gibt Vorrichtungen,
durch die er beliebig verlängert oder verkürzt werden kann. Wenn
er zu bestimmten Zwecken verwendet wird, so liegt der obere Teil fest in
der Handfläche, während Zeige und Mittelfinger die Tasten bedienen.
Doch man versicherte mir, daß seine Wirkung durchaus nicht bei allen
Individualitäten die gleiche sei, sondern je nach der inneren Verwandtschaft
des menschlichen Trägers zu den Vrilkräften recht verschieden,
auch veränderlich je nach den Triebkräften, die zur betreffenden
Handlung Veranlassung geben. Einige wären fähiger im Zerstören,
andere im Heilen usw., alles hänge also von der Selbstbeherrschung
und Willensstärke des mit den Vrilkräften arbeitenden Menschen
ab.
Sie haben die Erfahrung gemacht,
daß der volle Gebrauch der Vrilkräfte nur durch die bei der
Geburt mit ins Leben gebrachten Begabungen möglich sei, das heißt
durch die mit der Geburt überkommene Organisation und daß
ein weibliches Kind von vier Jahren, das bei der Vrilyarasse
zur Welt kommt, mit diesem Stab,
auch wenn er zum ersten mal in seine Hand gelegt wird, Taten ausführen
kann, die der geschickteste Mechaniker, wenn ohne die Vrilfähigkeiten
geboren, selbst durch lebenslanges Studium und Experimentieren nicht zustandebringt.
Nicht alle diese Stäbe sind gleich kompliziert. Man gibt Kindern zuerst
einfacher konstruierte als diejenigen, welche dann von Erwachsenen verwendet
werden. Auch nimmt man beim Kind auf seine besondere Befähigung und
Beschäftigung Rücksicht. Die mit der Zerstörung gefährlicher
Dinge betrauten Kinder erhalten also dafür geeignete Vrilstäbe.
Bei den Gattinnen und Müttern ist die Zerstörungskraftanlage
in den Stäben meist weggelassen, hingegen sind die Heilkräfte
dann besser ausgebaut. Ich wünschte, ich könnte Eingehenderes
über dieses Instrument zur Leitung des Vrilfluidums sagen, soviel
ist jedoch gewiß, seine Konstruktion ist über alles Maß
vollkommen und seine Wirkungen sind überwältigend.
Ich muß noch berichten, daß
diese Menschen gewisse Einrichtungen erfunden haben, mittels deren das
Vrilfluidum sogar über allergrößte Entfernungen auf die
Dinge hindirigiert werden kann, die man zerstören will. Fünfhundert
bis sechshundert Meilen sind hierfür eine Kleinigkeit. Die mathematischen
Kenntnisse und das Raumgefühl dieser Leute sind so stark entwickelt,
daß nach den Angaben eines Beobachters im Luftschiffe jedes Mitglied
der zentralen Vrilkräfteverwaltung einwandfrei jedes Hindernis auf
das exakteste abschätzen, die Schußrichtung der zerstörenden
Kräfte genau dirigieren und die Stärke des nötigen Kraft
aufwands sicher bestimmen kann, so daß man zum Beispiel in einer
Zeit, deren Kürze ich gar nicht für berechenbar halte, eine Riesenstadt
selbst von der doppelten Größe Londons in Staub und Asche verwandeln
kann.
Gewiß, diese Menschen sind
Meister in der Beherrschung der Mechanismen — wunderbar in der Entdeckung
und Verwertung mechanischer Dinge. Ich durchwanderte eines Tages mit meinem
Gastgeber und seiner Tochter das große öffentliche Altertumsmuseum,
das in einer Abteilung des Rates der Weisen gelegen ist und in welchem
Geräte als komische Überbleibsel und kindliche Experimente einer
vergangenen, völlig unwissenden und dilettantischen Wissenschaft längst
vergangener Zeiten als Kuriositäten aufbewahrt sind, mit denen wir,
wie ich gestehen muß, uns jetzt noch als geniale Erfindungen einer
Neuzeit brüsten, die es in allem so herrlich weit gebracht habe. In
einer Abteilung hatte man als besonders primitiven Plunder Rohre aufgestapelt,
die eine barbarische Urzeit mittels Kugeln und Pulver zur Zerstörung
von Leben verwendet hatte, was mich im stillen an unsere modernen Kanonen
und Gewehre erinnerte, ja es lagen dort sogar noch genialere Erfindungen
als wir sie je auf diesem Gebiete gemacht haben, achtlos beiseite geworfen.
Mein Gastgeber sprach von diesen
Dingen mit verächtlichem Lächeln, etwa so wie unsere Artillerieoffiziere
jetzt über die Bogen und Pfeile der Chinesen spötteln. In einer
anderen Abteilung des Altertumsmuseums waren Modelle von Fahrzeugen und
Schiffen aufgestellt, die man einstmals durch Dampf getrieben hatte, schließlich
auch ein Luftballon nach Art irgendeiner unserer primitiven Konstruktionstypen.
«Das», sagte Zee mit einem Anflug von nachsichtigem Mitleid,
«sind die schwächlichen Versuche unserer halbwilden, barbarischen
und rohen Vorväter, die Natur zu bewältigen, bevor sie den allerersten
Gedanken von der Existenz der Naturkräfte des Vril zu begreifen begannen.»
Dieses junge GyMädchen war
ein prächtiges Exemplar ihrer so stattlichen Rasse. Ihre Gesichtszüge
waren vollkommen, denn nie habe ich oben in meiner Welt ein so völlig
fehlerloses, ehrfurchtgebietendes weibliches Antlitz gesehen, aber die
Beschäftigung mit gewissen fachwissen
schaftlichen Studien hatte ihrem
Gesicht andererseits jenen Ausdruck verliehen, wie er für abstrakte
Verstandesmenschen charakteristisch ist, so daß man den Eindruck
einer unpersönlichen Härte empfindet. Diese Härte konnte
sogar recht beängstigend werden, wenn man ihre breiten Schultern und
ihre kräftige Gestalt dazu in Betracht zog. Sie war groß, sogar
für eine Gy, und vermochte eine Kanone ebenso leicht zu veranlassen,
sich vom Boden zu erheben, als wie ich mit einer Taschenpistole hantiere.
Zee erweckte nun in mir eine beklemmende Furcht eine Furcht, die
noch stieg, als wir eine Abteilung des Museums besuchten, die Modelle von
Instrumenten enthielt, welche mit Vrilkräften arbeiten. Denn hier
brachte sie, nur durch gewisse Manipulationen mit ihrem Vrilstabe, große
und schwere Gegenstände in Bewegung, und zwar aus beträchtlicher
Entfernung und ohne direkte Berührung. Mir war, wie wenn sie ihren
Willen auf dieselben übertrug und sie völlig ihren Absichten
und Befehlen unterwarf. Sie setzte auf diese Weise komplizierte Mechanismen
aus weiter Entfernung in Bewegung, hielt die Bewegungen an oder änderte
sie, bis nach einer erstaunlich kurzen Zeitspanne die verschiedensten vorher
noch rohen Substanzen in symmetrische, vollkommene und kunstvolle Dinge
verwandelt waren. Jene Wirkungen, welche dasjenige, was wir Galvanismus,
Magnetismus usw. benennen, bei uns nur auf Muskeln und Nerven auszuüben
vermag, alle solche Phänomene brachte hier die junge Gy durch einige
kleine Bewegungen ihres Vrilstabes auch bei Rädern und Triebwerken
lebloser Mechanismen hervor.
Über diesen gewaltigen Einfluß
auf die unbelebte Natur sprach ich meinen Begleitern das höchste Erstaunen
aus, denn ich gestand, daß in meiner Welt ich nur solche Phänomene
erlebt hätte, wo lebendige Wesen auf andere lebende Organismen einen
seltsamen Einfluß ausübten, der bisher jedoch niemals einwandfrei
erklärt worden sei da sagte Zee, die sich für derartiges
mehr interessierte als ihr Vater, ich möchte ihr doch einmal meine
Hand vorzeigen, und als sie ihre eigene Hand daneben legte, lenkte sie
meine Aufmerksamkeit auf recht wesentliche Unterschiede in Charakter und
Gestalt. Erstens einmal ist der Daumen bei den Gyei (und wie ich später
bemerkte, bei allen Menschen dieser Rasse) viel stärker entwickelt,
länger und größer als bei uns. Der Unterschied zwischen
der Ausbildung ihres und meines Daumens war so groß, wie der Abstand
zwischen dem meinigen und dem eines Gorilla. Zweitens ist die innere Handfläche
und deren Struktur viel entwickelter als bei uns, der Tastsinn an der Haut
viel empfindlicher, ihre Wärmestrahlung auffallend viel größer.
Am bemerkenswertesten ist ein sichtbarer, stark ausgebildeter Nerv,
welcher sich unmittelbar unter der
Haut hinzieht, der vom Handgelenk dem Ballen des Daumens entlangläuft
und sich an den Wurzeln des Zeige und Mittelfingers in diese hinein gabelförmig
verzweigt. «Mit Ihrer primitiven Fingerausbildung», sagte die
philosophische junge Gy, «und ohne diesen Nerv, den Sie bei jedem
Angehörigen meiner Rasse mehr oder weniger an den Händen entwickelt
finden, werden Sie gar keine oder höchstens eine sehr unvollkommene
Macht über das Fluidum der Vrilkräfte ausüben können;
aber schließlich war dieser Nerv auch an den Händen unserer
frühesten Vorväter noch nicht entwickelt und ist es bei unseren
barbarischen, halbwilden Stämmen noch heute nicht. Er hat sich bei
uns langsam im Laufe der Generationen herausgebildet und ist erst durch
den immer umfassender werdenden willkürlichen Gebrauch der Vrilkräfte
völlig entwickelt worden. Deshalb ist es durchaus möglich, daß
im Verlaufe von ein bis zwei Jahrtausenden ein solches Organ auch bei jenen
höher entwickelten Individuen Ihrer Menschheit sich bilden wird, die
sich solcher höchsten Wissenschaft widmen, durch welche man tiefere
Einblicke tut in die Geheimnisse aller Naturkräfte, von denen die
Vrilkraft ein Beispiel ist.
Aber wenn Sie immer von der ,Materie'
als von einem Etwas sprechen, das an sich träge und bewegungslos sei,
denke ich oft, ob Ihre Eltern und Lehrer wohl auch so ahnungslos von diesen
Dingen sind, nicht zu wissen, daß keine der Substanzen im Kosmos
träge und bewegungslos
ist: Daß die kleinste Substanzeinheit
ständig in innerer oder auch äußerer Bewegung und Verwandlung
befindlich und von ständig sich ändernden Kräften durchdrungen
ist, von denen Wärme die dem Menschen am leichtesten fühlbare,
Vril aber die umfassendste, und wenn richtig erkannt und verwendet, die
mächtigste Kraft ist.
So hat der Kräftestrom, der
von meinem Willen seine Impulse erhält und von meiner Hand in bewußter
Weise geleitet wird, eigentlich nur jene Wirkung, daß er die beweglichen
Kräfteprozesse, welche sich in allen Substanzen, so träge und
ruhig sie dem Unwissenden auch erscheinen
mögen, ständig vollziehen,
in willkürlicher Weise verändert, in ihrer Bewegung beeinflußt,
verlangsamt, beschleunigt oder verstärkt. Wenn ein Stück Metall
auch nicht aus eigenem Willensimpuls seine Lage verändern kann, so
kann es doch durch die ihm eigene innere Kräftestruktur
und Beweglichkeit leicht dem Willen
eines Wesens unterworfen und zu beliebigen Bewegungen veranlaßt werden;
hier genügt schon ein richtig geleiteter Kraftstrom des Vril, der
es dem Willen ganz ebenso unterwirft, wie wenn irgendein sichtbares Etwas
die Veranlassung gibt. Das Metall ist durch die seelischen Kräfte,
die darauf übertragen werden, derart in Tätigkeit zu versetzen,
daß man beinahe meinen könnte, es tue dies alles von selbst.
Ohne diese Kräfte könnten unsere Automaten nicht die Dienerschaft
gänzlich ersetzen. »
Diese Vorführungen und Belehrungen
von seiten der Gy flößten mir zuviel Ehrfurcht ein, als daß
ich gewagt hätte, mit ihr darüber zu disputieren. Ich entsann
mich einer Anekdote aus meinen Kindheitsjahren, daß ein Weiser einst,
als er mit einem römischen Kaiser in Wortstreit geriet, plötzlich
die Hörner einzog, und als der Kaiser ihn drob erstaunt fragte, ob
er denn gar nichts mehr zu erwidern wisse, da sagte er: «Nein, Cäsar,
mit einem Denker, der zugleich über fünfundzwanzig Legionen gebietet,
ist es unweise, zu disputieren.»
Obgleich ich im stillen noch dachte,
daß, was auch immer die wahrhaftige Wirkung des Vril auf Materie
sei, unsere heutige Fachwissenschaft sicher die Unlogik und Unmöglichkeit
dieser Dinge trotz allem zu beweisen unternommen hätte, war mir andererseits
allerdings außer Zweifel, daß Zee jedem der Mitglieder unserer
Akademien der Wissenschaften mit der größten Leichtigkeit den
gelehrten Schädel zerstört hätte. Im übrigen dachte
ich, weiß jeder Mann, daß es nutzlos ist, sich mit Frauen in
Streit einzulassen über Dinge, die man besser zu verstehen glaubt;
aber erst mit einer um einen Kopf größeren Gy über die
Geheimnisse der Vrilkräfte zu disputieren, wäre dasselbe, wie
wenn man sich in der Wüste mit einem Sandsturm in Verhandlungen einlassen
wollte.
Unter den verschiedenen Abteilungen,
die dem Gebäude des Rates der Weisen angegliedert waren, interessierte
mich am meisten diejenige, welche der Archäologie der Vrilya gewidmet
war und eine größere Sammlung alter Porträts enthielt.
Die Farben und stofflichen Grundlagen waren von so dauerhafter Art, daß
selbst Gemälde, welche Zeiten entstammten, die den ältesten Annalen
der Chinesen entsprachen, noch völlig frisch in der Farbe erhalten
waren. Bei Betrachtung dieser Sammlung fiel mir zweierlei auf: Daß
die Bilder, die sechs bis sieben Jahrtausende alt waren, sich als künstlerisch
sehr viel wertvoller zeigten als Gemälde, die den letzten drei Jahrtausenden
entstammten.
Auch daß die ersteren Bilder
mehr der unsrigen Welt und den europäischen Typen ähnelten. Einige
ganz frühe Bilder zeigten Köpfe, wie sie die italienischen Künstler
nach Art eines Tizian malten, es waren Gesichter, aus denen noch Tücke
und List, Kummer und Sorge sprachen, deren Furchen durch Leidenschaften
wie von eisernen Pflügen tief eingegraben erschienen. Das waren noch
Köpfe von Menschen, die in Kampf und Streit aufwuchsen, bis die Entdeckung
der verborgenen Kräfte des Vril den Charakter des Lebens so völlig
veränderte, Gesichtszüge von Männern, die gleich uns in
der oberen Welt, um der Macht oder des Ruhmes willen sich untereinander
bekämpft hatten.
Auf den späteren Bildern zeigte
sich in den Gesichtern der Einfluß der durch die Vrilentdeckung bewirkten
Umwälzung, ja, mit einer jeden Generation wurde das Antlitz nun ruhiger
und klarer, und diese Klarheit stach schrecklich ab von den Gesichtern
einer hastenden, leidenschaftsverzehrten Menschheit. Andererseits wurden,
während die Gesichter selbst eine Entwicklung zur Schönheit und
Großzügigkeit zeigten, die künstlerischen Fähigkeiten
der porträtierenden Maler mit der Zeit immer matter und einförmiger.
16. KAPITEL
Da den Vrilya jeder Anblick unserer
Himmelskörper versagt ist und sie sich infolgedessen in der Festsetzung
von Tag und Nacht nicht nach den kosmischen Gesetzmäßigkeiten,
sondern nur nach der eigenen Willkür zu richten gezwungen sind, so
gelangten sie auch zu einer anderen Zeiteinteilung ihres Lebens als wir
auf der Erdoberfläche. Mit Hilfe meiner Uhr, die ich glücklicherweise
noch bei mir trug, konnte ich leicht die Unterschiede in den Zeitbegriffen
erkennen. Ich muß die sehr interessanten Schlußfolgerungen,
die sich aus einem derart veränderten
Zeitbegriff für alle Dinge
ergeben, einem größeren Werk vorbehalten, das ich, wenn das
Leben es mir gestattet, einst über die besondere Wissenschaft, Literatur
und Erkenntnis der Vrilya zu schreiben gedenke. Hier begnüge ich mich
mit der Feststellung, daß in bezug auf die Dauer
ihr Jahr nur ganz wenig von dem
unsrigen abweicht, jedoch ist die Einteilung dieses Jahres in Unterabschnitte
eine völlig andere. Ihr Tag (der das einschließt, was wir «Nacht»
benennen) besteht aus zwanzig Stunden unserer Zeitrechnung, anstatt vierundzwanzig,
und infolgedessen
umfaßt das Jahr eine größere
Anzahl von Einzeltagen.
Diese zwanzig Stunden des Tages
teilen sie nun in folgende Abschnitte ein: Acht Stunden, genannt die «Stillen
Stunden», sind der Ruhe gewidmet; weitere acht Stunden, die «Ernste
Zeit» genannt, werden zu den Beschäftigungen des Lebens und
Forschens verwendet; die restlichen vier Stunden, genannt die «Leichte
Zeit», dienen der Festlichkeit, der Unterhaltung, dem Sport, dem
Vergnügen, je nach Fähigkeit und Geschmack. Nun gibt es ja bei
diesen Menschen überhaupt keine Nacht. Denn sowohl in den Straßen
wie in der ganzen Landschaft bis zum Horizonte herrscht zu allen Zeiten
die gleiche Helligkeit. Höchstens innerhalb ihrer Häuser dämpfen
sie das allgemeine künstliche Licht während der Stillen Stunden
etwas herab. Aber sie haben eine merkwürdige Abneigung gegen völlige
Finsternis, deshalb wird das Licht niemals gänzlich gelöscht.
Für Musik sind sie besonders
empfindsam. Die Tonwelt, welche zu allen Zeiten des Tages von den Türmen
der öffentlichen Gebäude erzeugt wird und sich vermengt mit den
tönenden Harmonien, die den einzelnen Häusern und Weilern der
Landschaft entströmen, übt eine wohltuende,
feierlich ruhige Wirkung aus. Während
der Stillen Stunden ist diese Tonwelt so herabgedämpft, daß
sie nur dem wachen Ohre vernehmbar wird.
Es gibt auch keinen Wechsel der
Jahreszeiten, die Atmosphäre schien mir dort, wo ich lebte, meist
gleichmäßig warm, wie ein italienischer Sommer, und eher angenehm
feucht als zu trocken. Eine vormittagliche Stille wechselt oft ab mit heftigen
Winden aus den felsigen Schluchten.
Wie auf den goldenen Inseln antiker
Dichtungen säen und ernten sie zu gleicher Zeit, denn die älteren
Pflanzen tragen noch Blüten und Früchte, wenn die jüngeren
schon wieder keimen.
Aber was mich an ihrer Zeiteinteilung
am meisten erstaunte, das war die Steigerung ihrer durchschnittlichen Lebensdauer
auf Erden. Ich fand im allgemeinen, daß ihnen eine viel längere
Lebensfrist eingeräumt ist als uns auf der Erdoberfläche. Was
für uns siebzig Jahre, sind ihnen hundert. Auch ist dies nicht der
einzige Unterschied, denn wie wenige von uns bleiben wirklich siebzig Jahre
am Leben, wohingegen bei ihnen nur wenige vor dem hundertsten Lebensjahr
sterben. Und sie erfreuen sich einer unverwüstlich erscheinenden Gesundheit
und Kraft, was doch auch die Grundlage für ein gesegnetes Leben gibt.
Dazu trägt vielerlei bei: keine
Möglichkeit alkoholischer Trunksucht, eine der Natur angepaßte
Ernährung, auch die Gleichmäßigkeit ihrer geistigen Arbeit,
die von keiner Hastigkeit oder Leidenschaft krank gemacht wird.
Alle diese und ähnliche Ursachen
tragen zur Verlängerung des Lebensalters und zur Verstärkung
der Lebenskraft bei, wenn auch vieles noch von der besonderen Organisation
dieser Rasse herrühren mag. Sie erzählen selbst, daß in
lange vergangenen Zeiten, als sie noch in staatlichen
Verhältnissen lebten, die etwa
unserem jetzigen Zustand entsprechen, wo ein jeder den anderen durch Parteikämpfe
niederringt, auch die Lebensdauer der Menschen bei ihnen viel kürzer
gewesen sei und die allgemeine Veranlagung zu bösartigen Krankheiten
stärker. Doch im Laufe der Entwicklung, so berichten sie, wurde die
Lebensdauer all gemein immer länger und sei jetzt im Anwachsen, seit
die Entdeckung der die Lebenserscheinungen wesentlich fördernden und
die Krankheiten ausmerzenden Naturkräfte des Vril ständig ausgebaut
wurde. Bei ihnen gibt es kaum Ärzte, die dies Handwerk beruflich ausüben,
sondern man überläßt diese Tätigkeit hauptsächlich
Frauen, die eine besondere Hinneigung zu den Heilkräften zeigen, und
die dann auch die sehr selten notwendigen chirurgischen Fälle behandeln.
Ihre Zerstreuungen und Vergnügungen
bestehen vor allem, während der diesen Dingen gewidmeten Zeiten des
Tages, im beflügelten Aufsteigen in die Regionen der Atmosphäre
und den herrlichen Spielen im Fliegen, wie ich sie vorher beschrieb.
Es gibt auch Opern und sogar Theater,
in denen Stücke gespielt werden, die mich allerdings etwas an die
chinesischen Volksdramen erinnerten Dramen, deren Inhalt in lange
vergangenen Zeiten spielt und in denen unsere traditionellen Vorschriften
über klassischen Stil aufs empörendste vergewaltigt werden; so
zum Beispiel treten im ersten Akt Menschen als Kinder auf, die im zweiten
Akt als Erwachsene erscheinen, und ähnliches. Diese Stücke waren
alle noch in früheren Epochen verfaßt. Sie erschienen mir fürchterlich
langweilig, doch man wurde wenigstens
überrascht durch die kompliziertesten
Mechanismen, durch eine Art possenhaften Humors, durch einzelne poetische
Steigerungen von dramatischer Stärke, die mir allerdings an bildhaften
Redewendungen überreich vorkamen.
Die Zuhörerschaft, die natürlich
zur Mehrzahl aus Frauen bestand, schien von den Vorstellungen wirklich
begeistert, was mich bei dieser sonst so majestätischen und zurückhaltenden
Rasse erstaunte, bis ich bemerkte, daß die Schauspieler ihrem Alter
nach meist zur heranwachsenden
Jugend gehörten und also die
Eltern eigentlich nur kamen, um ihren schauspielernden Kindern eine Freude
zu machen.
Ich erwähnte schon, daß
die Dramen alle aus dem Alter tum dieser Rasse entstammten. Es ist auffallend,
daß in den letzten Generationen keinerlei neues Kunstwerk, eigentlich
überhaupt keine wirklich produktive künstlerische Arbeit mehr
zustandegebracht worden war. Das ist es eben, es herrschte gewiß
kein Mangel an Geschriebenem und Gedrucktem, man hatte natürlich auch
so etwas wie Tageszeitungen, aber alles war ausschließlich auf das
Mechanische eingestellt, man berichtete nur noch von neu erfundenen technischen
Dingen oder machte Anzeigen
über den Handel und Geschäftliches
kurz, alles war nur auf das Praktische und Mechanische hingerichtet. Hie
und da beschrieb wohl noch ein Kind irgendein Abenteuer, oder eine junge
Gy kleidete ihre Gefühle in lyrische Dichtungen; aber alles dies war
fern einer schöpferischen Produktivität, und außer Kindern
und jungen Mädchen gab es eigentlich niemanden, der es gelesen hätte.
Am interessantesten waren von den literarischen Erzeugnissen noch Beschreibungen
wirklich erlebter Abenteuer und Reisen in fremde Gebiete, wie sie von jungen
Auswanderern
niedergeschrieben und von den Zurückbleibenden
auch mit einem gewissen sensationellen Interesse gelesen wurden.
Ich konnte Aph-Lin meine Bedenken
nicht verhehlen, daß eine Gemeinschaft, in der einerseits die mechanischen
Wissenschaften einen so großen Aufschwung genommen hätten, und
die in der staatlichen Ordnung viele Dinge verwirklicht hätte, welche
die politisierenden Philosophen auf der Erdoberfläche nach jahrzehntelangem
Hinundher diskutieren als unerreichbare Visionen abgetan haben, doch
andererseits überhaupt keine
ihrer Zeit entsprechende Literatur zustande gebracht hätte, obgleich
doch die Sprache in bezug auf Wortreichtum, Schlichtheit, Kraft und Wohlklang
so sehr hoch entwickelt sei.
Darauf antwortete mein Gastgeber
das Folgende: «Bedenken Sie nur, daß die Art von Literatur,
wie sie bei Ihnen üblich ist, ganz unvereinbar wäre mit der nach
Ihrer Ansicht so vollkommenen Staatsform, von der Sie meinen, daß
wir sie erreicht hätten. Wir haben nun endlich, nach Jahrhunderten
des Kampfes, eine Regierungsform gefunden, mit der wir zufrieden sind,
die keine Möglichkeiten für ehrgeiziges Strebertum mehr bietet,
da es bei uns weder Ämter noch einträgliche Posten zu erhaschen
gibt. Es würde also gewiß niemand jene Gattung von Literatur
lesen, die mit Theorien über soziale oder politische Verbesserungsideale
angefüllt ist, und weil es nicht gelesen würde, schreibt es auch
niemand mehr. Wenn wirklich einmal einem Mitglied der Gemeinschaft unser
Zusammenleben zu ruhig ist, so stiftet er nicht bei uns Unruhe um jeden
Preis, sondern wandert lieber seinerseits aus. Diese ganze Sorte von Literatur
(und nach den Altertumsbibliotheken muß sie früher von erschreckendem
Umfang gewesen sein), welche sich mit abstrakten Theorien über politische
Themata herumschlägt, ist also bei uns völlig ausgerottet. Dann
gab es in früheren Zeiten unendliche Schreibereien über die subtilsten
Attribute der Gottheit, auch Abhandlungen über das Für und Wider
eines Lebens nach dem Tode. Aber wir erkennen ja alle einmütig diese
zwei Wirklichkeiten an, nämlich daß es ein göttliches
Wesen, und daß es das Leben
nach dem Tode gibt, und wir sind uns darüber klar, daß, selbst
wenn wir uns unsere Finger blutig schreiben wollten, wir durch diese Betätigung
ganz gewiß keine Erkenntnis von der Art des Lebens nach dem Tode
oder Erfahrungen über die Eigenschaften des göttlichen Wesens
erlangen. Deshalb ist eine diesbezügliche Art von Literatur ebenfalls
bei uns längst ausgestorben, und das ist ein wahrer Segen. Denn in
jenen Zeiten, wo man noch glaubte durch Bücherschreiben über
diese Dinge etwas erreichen zu können, kam man nur zu dem einzigen
Resultat ewiger Streitereien und gegenseitiger Quälerei.
Ein dritter Zweig von Literatur
bestand in früheren Zeiten aus historischen Abhandlungen über
Schlachten und Revolutionen, aus den Epochen, wo die Ana noch in großen,
verworrenen Gemeinschaften zusammenlebten und jeder den Ehrgeiz hatte,
seine Macht über den anderen nur um jeden Preis zu vergrößern.
Vergleichen Sie damit unsere jetzige vernünftige Einteilung, die sich
nun schon seit Jahrhunderten völlig bewährt hat. Wir haben also
keine solchen Ereignisse mehr zu berichten. Von den Einzelmenschen aber
kann man ja nur erzählen, wie sie geboren wurden, wie sie glücklich
lebten und wie sie starben.»
Ich fragte: «Gibt es bei Ihrem
Volke denn gar keine Gruppen von Menschen mehr, welche von derartigen Liebhabereien
oder meinetwegen auch derartigen Sünden beseelt sind, daß sie
zu solchen Dingen wie künstlerischer Produktivität und Poesie
veranlagt wären, und gibt es
nicht doch vielleicht Einzelne oder
Gemeinschaften, in denen Künste und Dichtung noch geehrt oder ins
Leben gerufen werden?»
Er aber antwortete mir: «
Solche Menschen gibt es allerdings nur noch bei entfernteren Stämmen,
bei den von uns zivilisiert zu nennenden Völkern kommen sie nicht
mehr auf, und wir rechnen sie jedenfalls nicht mehr zu unserem eigenen
Volkstypus. Sie finden ihren dramatischen Stoff nur bei den Barbaren und
den Völkern mit den verworrenen Verhältnissen, die in mittelalterlichen
Staatsformen leben.
Ihre Existenz ist nur möglich
bei Völkern, wo Kampf und Streit und ein ewiger Wechsel herrscht,
die nicht nur mit anderen Völkern, sondern auch untereinander noch
ringen.
Sie sind gegliedert in Stämme,
bei denen Kampf und oft Mord zum Leben gehören und wo noch Ungleichheiten
unter den Menschen herrschen, die wir niemals verstünden, wenn nicht
die Geschichte uns lehrte, daß wir auch einst durch solche Zustände
von Unwissenheit und Barbarei durchgegangen sind. Können Sie sich
denken, daß Geschöpfe dieser Art, nur mit elenden Waffen versehen,
die aus eisernen Rohren ein Pulver verschießen, wie Sie solche in
unserem Altertumsmuseum finden, sogar mehr als einmal einen Volksstamm
der Vrilya bedrohten, der in
ihrer Nachbarschaft wohnt, weil
sie auf ihre Dreißig-MillionenBevölkerung pochen, und der Nachbarstamm
nur fünfzigtausend umfaßt, und das Ganze nur um einiger Handelsbedingungen
willen, welche sie die Unverschämtheit haben als Gesetze der Zivilisation
zu bezeichnen ? »
«Aber dreißig Millionen
sind doch eine furchtbare Übermacht gegen nur fünfzigtausend!
»
Mein Gastgeber schaute mich verblüfft
an und erwiderte: «Fremdling, Sie haben vergessen, daß der
bedrohte Volksstamm zu den Vrilya gehört; und dieser wartet nur auf
die Kriegserklärung, um ein halbes Dutzend von Kindern mit der Aufgabe
zu betrauen, die ganze feindliche Bevölkerung mit dem Vril von der
Erde zu tilgen.»
Von diesem Gespräch an empfand
ich doch mehr Sympathie mit den «Halbwilden», als mit den Vrilya,
und ein Schauer des Entsetzens durchlief mich.
Auch erinnerte ich mich jetzt all
der glorreichen Weissagungen über die Amerikaner und daß Aph-Lin
sogar diese als Halbwilde bezeichnete. Als ich meine Selbstbeherrschung
wiederzufinden vermochte, fragte ich, ob es nicht irgendeine Möglichkeit
der Überfahrt gäbe, damit ich eines jener halbwilden und verwegenen
Völker mit Sicherheit aufsuchen könne.
«Mit Beherrschung des Vril
könnten Sie sicher zu Lande oder auch durch die Lüfte die uns
befreundeten und benachbarten Stämme besuchen. Aber ich kann nicht
für Ihre Sicherheit bei den Barbaren garantieren, bei denen gesetzliche
Zustände herrschen, wo ein jeder nur durch
Schädigung des anderen lebt
und wo man in den Ruhestunden nicht einmal ohne Gefahr seine Haustüre
geöffnet lassen darf.»
Hier wurde unsere Unterhaltung durch
das Eintreten Taes unterbrochen, welcher kam, uns zu erzählen, daß
er beauftragt sei, jenes riesige Ungetüm zu entdecken und zu vertilgen,
dem ich bei meiner Ankunft begegnet war.
Er habe ihm seit seinem letzten
Besuch bei mir ständig aufgelauert, und hätte schon zu glauben
begonnen, daß mich meine Sinne getäuscht, oder daß das
Ungetüm sich durch die Felsen zu seinesgleichen zurückgezogen
habe, als er auf einmal die Spuren seiner Anwesenheit entdeckte,
weil an den Ufern des Sees große
Strecken Weide auf das schlimmste verwüstet waren. «Ich bin
sicher», sagte Tae, «daß es sich in den Tiefen des Sees
verborgen hält.» Und zu mir gewendet, fügte er hinzu: «Deshalb
dachte ich, daß es Ihnen sicher Spaß machen würde, mich
zu begleiten und dabei zu sein, wie wir solche unliebsame Besucher vernichten.»
Als ich mir das Gesicht dieses jugendlichen Knaben betrachtete und mir
gleichzeitig die überwältigende Größe des Ungetüms
ins Gedächtnis rief, dessen Vernichtung er als ein Vergnügen
mir vorschlug, da befiel mich ein Schaudern für diesen Knaben, und
noch mehr für mich selbst, der ich ihn bei solchem Abenteuer begleiten
sollte.
Aber meine Neugierde, die zerstörenden
Wirkungen dieses schrecklichen Vril zu erleben, wohl auch meine Scham,
mich in den Augen eines Kindes als ängstlich zu zeigen, bestimmten
mich zu einer Zusage. Ich dankte also Tae für seine rührende
Fürsorge um meine Belustigung und
erklärte ihm mein Entzücken,
mich an einem so liebreizenden Abenteuer, wie es die Zerstörung eines
Ungetüms sei, zu beteiligen.
17. KAPITEL
Tae und ich verließen die
Stadt. Wir schwenkten zur Linken von der Hauptstraße ab und wanderten
durch die Felder. Die feierliche, wunderbare Schönheit dieser bis
zum Horizonte durch unzählige Lampen künstlich erleuchteten Landschaft
fesselte meinen Blick aufs neue und machte mich zeitweise zu einem unaufmerksamen
Zuhörer meines Begleiters.
Auf unserem Weg sahen wir die verschiedensten
Landwirtschaftsarbeiten, alle durch Maschinen verrichtet, die mir unbekannt
waren und die zum größten Teil sogar hübsch aussahen. Denn
bei diesem Volk wird ja Kunst überhaupt nur noch für Nützlichkeitszwecke
betrieben und
beschränkt sich daher auf die
Ausschmückung und Stilisierung von nützlichen Mechanismen. Diese
Stämme sind zudem so reich an kostbarsten Metallen und Edelsteinen,
daß sie solche an den gewöhnlichsten Dingen verschwenderisch
anbringen. Ihre Hinneigung zu allem Nützlichen veranlaßt sie,
alle Werkzeuge zu verschönern und ihre bildnerische Kraft in diese
befremdliche Richtung zu lenken.
Zu allen Dienstleistungen, gleichviel
ob in oder außer dem Hause, werden ausschließlich menschenähnliche
Automaten verwendet, die ihre Aufträge derart geschickt ausführen
und so weitgehend auf die Vrileinflüsse reagieren, daß man manchmal
glauben möchte, sie hätten selbständiges Leben, Es war oft
kaum möglich, die automatischen Figuren, welche offenbar die kompliziertesten
Bewegungen großer Maschinen leiteten und überwachten, von mit
Verstandeskräften begabten Menschen zu unterscheiden.
Während wir unseren Weg fortsetzten,
erregten die lebhaften und treffenden Aussprüche meines Begleiters
meine Aufmerksamkeit. Die Kinder dieses Stammes sind geistig auffallend
früh entwickelt, vielleicht weil sie in so jugendlichem Alter schon
mit den Aufgaben betraut werden, die
bei uns nur der Erwachsene erfüllt.
In der Tat, im Gespräch mit Tae hatte ich das Gefühl, in Gesellschaft
eines welterfahrenen, mir überlegenen Mannes meines Alters zu sein.
Ich fragte ihn, ob er wisse, in
wieviele Gemeinden das Geschlecht der Vrilya eingeteilt sei. «Nicht
genau», sagte er, «weil die Ausdehnung dadurch wächst,
daß die Überzahl jedes Jahr auswandert.» «Aber»,
sagte ich, «wenn nun jährlich eine Anzahl die Heimat verläßt
und sich irgendwo auf unbebautem Lande ansiedelt, so können diese
wenigen, selbst wenn sie viele Maschinen mitnehmen, doch kaum genügen,
um den Boden urbar zu machen, um Städte zu bauen und den Luxus der
verlassenen Heimat zu ersetzen.»
«Sie irren. Alle Stämme
der Vrilya stehen hierüber in ständiger Verhandlung und vereinbaren
alljährlich, welche Anzahl von Auswanderern jeder Stamm stellt, um
den Anforderungen zu genügen. Dann wählt man das urbar zu machende
Land aus, sendet Pioniere mit Vril voraus, welche einfach ganze Felsengebirge
wegsprengen und einebnen, Wasser vertreiben und Häuser zusammenfügen,
so daß wenn die Auswanderer kommen, sie ihre Wohnstatt und ein Land,
das bewirtschaftet werden kann, schon vor finden. Unser Gefahrdienst als
Kinder macht uns Lust zu
allen Reisen und Abenteuern. Auch
ich werde auswandern.»
«Wählen sich die Auswandernden
denn stets nur vorher unbewohnte und brachliegende Gegenden?»
«Meistenteils, weil es unser
Prinzip ist, nichts zu zerstören, außer wo es für unser
Leben unbedingt notwendig ist. Natürlich können wir uns nicht
in Ländern niederlassen, wo schon Vrilya wohnen; und wenn wir kultiviertes
Land anderer Rassen einnehmen wollen, so müssen wir erst die bisherigen
Einwohner völlig vertilgen. Hie und da kommt es vor, daß wir
einen lästigen, streitsüchtigen Barbarenstamm zum Nachbarn bekommen,
der noch die Regierungsform des KoomPosh hat und gegen uns kriegerisch
wird. Dann natürlich wird dieser Feind unserer Wohlfahrt einfach zerstört,
denn man kann nicht mit Völkern zusammenleben, die so einfältig
sind, ihre Regierung ständig zu ändern, wie es beim KoomPosh
der Fall ist.»
«Ihr Urteil ist sehr streng»,
erwiderte ich. «Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich
auf der Erdoberfläche selbst der Bürger eines KoomPosh bin und
daß ich stolz darauf bin.»
«Jetzt wundere ich mich nicht
mehr», meinte Tae, «Sie so fern Ihrer Heimat zu sehen. Was
war Ihr Geburtsland denn, bevor es zum KoomPosh wurde?»
«Auch eine Niederlassung von
Auswanderern nach Art der Ihrigen , aber insoweit von der Ihren verschieden,
als wir zuerst abhängig blieben vom Mutterland; dann schüttelten
wir dieses Joch ab und wurden, mit ewigem Ruhm gekrönt, ein KoomPosh,
Amerika!»
«Ewiger Ruhm? Wie lange hat
dieser KoomPosh bis jetzt existiert?»
«Etwa hundert Jahre.»
«Also nach unseren Begriffen
ein einziges Lebensalter, das ist doch eine recht junge Gemeinschaft! In
weniger als weiteren einhundert Jahren wird Ihr KoomPosh verfallen sein!»
«Nun», rief ich, «die
ältesten Staaten unserer Welt auf der Erdoberfläche verlassen
sich so fest auf seine Dauerhaftigkeit, daß sie ihm alle seine staatlichen
Einrichtungen nachahmen. Und die gewiegtesten Diplomaten der alten Staaten
sagen sogar, daß, ob es nun angenehm ist oder
nicht, die unvermeidliche Entwicklung
aller alten Staaten doch zum KoomPoshSystem hinführen müsse.»
«Der alten Staaten?»
«Ja, der alten Staaten!»
«Die haben wohl zu wenig Bevölkerung
für ein sehr großes zu bebauendes Land?»
«Im Gegenteil, ihre Bevölkerung
ist viel zu groß im Verhältnis zum kleinen Gebiet ihres Landes.»
«Ach so! Alte Staaten
in der Tat! So alt, daß sie altersschwach werden, wenn sie nicht
ihren Bevölkerungsüberfluß bald wegschicken können
wie bei uns, sterbensalt!»
«Tae, ich halte es unter meiner
Würde, mit einem Knaben Ihres Alters überhaupt zu disputieren.
Ich habe allerdings Nachsicht mit Ihnen, weil Ihnen die Bildung mangelt,
wie man sie bei uns in einem KoomPosh erhält.»
«Und ich meinerseits»,
erwiderte Tae mit jenem sanften und dabei doch erhabenen Ausdruck, wie
er seine Rasse stets kennzeichnet, «habe nicht nur Nachsicht mit
Ihnen, weil Sie nicht bei den Vrilya erzogen sind, sondern bitte Sie sogar,
mir den Mangel an Respekt vor den Sitten und Ansichten eines so liebenswürdigen
Tish zu verzeihen.»
Ich hätte schon früher
bemerken sollen, daß mein Gastgeber und seine Familie mich gewöhnlich
«Tish» nannten, als höfliche, ja als Lieblingsbenennung,
die bildlich einen kleinen halbwilden Barbaren, wörtlich einen kleinen
Salamander bezeichnet. Die Kinder geben diese Bezeichnung besonders gern
ihren gezähmten Salamandern, mit denen sie in den Gärten herumspielen.
Währenddessen hatten wir die Ufer eines Sees erreicht, und Tae machte
Halt, um mir zu zeigen, wie die umliegen den Felder verwüstet waren.
«Unser Feind hält sich
jetzt sicher im Wasser auf», meinte Tae. «Schauen Sie doch,
wieviele Fische sich an das Ufer geflüchtet haben. Sogar die großen
Fische mit den kleinen gemeinsam, die sie sonst immer auffressen, alles
vergißt seine gewohnten Instinkte bei der Gefahr eines gemeinsamen
Feindes. Dieses Reptil muß zur Gattung der Riesensalamander oder
Riesenkrokodile gehören, eine Art Ungetüm, das mehr verschlingen
kann als irgendein anderes, und man sagt von ihm, daß es zu den wenigen
Gattungen scheußlichster Weltbewohner gehöre, die seit dem Auftreten
von Menschen auf Erden noch leben. Der Heißhunger eines Riesensalamanders
ist unersättlich er frißt wahllos alles Pflanzliche und
Tierische, was ihm in den Weg kommt. Nur für das leichtfüßige
Hochwild sind seine Bewegungen etwas zu langsam. Sein Lieblingsfressen
ist aber einer von uns, wenn er uns unbemerkt überfallen kann; deswegen
vernichtet man ihn wiederum, wo immer er in unserem Gebiet auftaucht. Man
berichtet, daß zur Zeit unserer Vorväter das Land von diesen
Tieren überfüllt war, und daß, solange Vril unbekannt war,
ihm gar viele zum Opfer fielen. Erst mit der Entdeckung dieser Naturkräfte
wurde man solcher Tiere Herr. Seit wir das Vril beherrschen, vernichten
wir alle uns feindliche Kreatur in der Welt! Doch noch manches Mal kommt
so ein Ungeheuer aus den unerforschten und wilden Gebieten herüber,
und ich erinnere mich, wie sich eines dieser Ungetüme einst auf eine
junge Gy stürzte, die hier gerade in diesem See badete. Wäre
sie am Land und mit ihrem Stabe bewaffnet gewesen, würde sich das
Ungetüm niemals herangewagt haben, denn, wie alle Kreatur, hat auch
das Reptil einen eigenartigen Naturinstinkt, der es vor jeder Annäherung
an den Träger der Vrilkräfte warnt. Wie es die Tiere sogar ihren
Jungen beibringen, diese Gefahr zu vermeiden, das lassen Sie sich von jemand
anderem aufklären, ich weiß es nicht. Solange ich hier stehen
bleibe, wird das Ungeheuer jedenfalls sein Versteck nicht verlassen; aber
wir werden es jetzt hervorlocken.»
«Wird das nicht sehr schwierig
sein?»
«Aber gar nicht! Sie setzen
sich einfach hier auf dieses Felsstück einige Meter vom Ufer
entfernt , während ich mich zurückziehe. Sehr bald wird das Ungeheuer
Sie sehen oder wittern, und wenn es merkt, daß Sie kein Vrilträger
sind, sich auf Sie losstürzen, um Sie zu verschlingen.
Sobald es dann genügend aus
dem Wasser herausgestürzt ist, wird es meine Beute.»
«Wollen Sie damit sagen, daß
ich die Lockspeise dieses scheußlichen Ungetüms sein soll, das
mich wie ein Nichts in seinen Rachen hineinschlürfen könnte?
Ich bitte doch, diesen Sport zu unterlassen!»
Dieser Knabe lachte. «Fürchten
Sie nichts», meinte er, «sitzen Sie nur still.» Aber
anstatt seinem wahnsinnigen Befehl Folge zu leisten, machte ich einen Sprung
und wollte schleunigst entfliehen.
Da berührte Tae leicht meine
Schulter; er bohrte nur seinen Blick fest in mein Auge, und ich mußte
wie angewurzelt sofort stehen bleiben. Alle Willenskraft schwand mir. Beherrscht
von dem Blicke des Knaben, folgte ich ihm zu dem bezeichneten Felsblock
und setzte mich schweigend
darauf.
Viele Leser werden einmal Phänomene
der Hypnose oder des Magnetismus, gleichviel ob echte oder unechte, gesehen
haben. Kein Kundiger dieser seltsamen Kraft hatte bisher je den geringsten
Einfluß auf meine Person auszuüben vermocht. Und doch war ich
jetzt nur eine willenlose Maschine unter dem Willen dieses schrecklichen
Knaben. Er dagegen breitete ruhig seine Flügel aus, schwebte in die
Lüfte und ließ sich in einiger Entfernung auf der Höhe
eines Hügels im Gebüsch nieder.
Ich war allein. Mit einer irrsinnigen
Angst und gesträubten Haaren stierte ich mit den Augen auf den See,
wie festgebannt. Es mochten zehn bis fünfzehn Minuten vergangen sein
mir waren es Weltalter , als sich die bisher ruhige Wasseroberfläche,
grell leuchtend unter den unzähligen Lampen, in der Mitte zu bewegen
begann. Gleichzeitig wurde durch das Rauschen, Plätschern und die
heftigen Kreisbewegungen der am Ufer versammelten Fische das Nahen des
Ungetüms drohend verkündet. Ich beobachtete ihre rasende Flucht,
wobei einzelne vor Angst sogar
auf das Ufer hinstürzten. Eine
lange, schwarze, wellenförmige Furche bewegte sich durch das Wasser
heran, näher und immer näher, bis der grausige Kopf eines
Ungetüms aus den Wassern herauftauchte der Rachen gähnte
und fletschte die gewaltigen Zähne, und die düsteren
Augen starrten lüstern und
gierig auf die Stelle, wo ich unbeweglich gefesselt saß. Jetzt setzte
es seine wuchtigen vorderen Füße auf das Ufer, jetzt wankte
seine keuchende, massige Brust heran, auf den Flanken bedeckt mit schuppigen
Panzern und in der Mitte mit einer runzligen Haut
von schmutzigen Giftfarben; jetzt
war der ganze gewaltige Leib dieses Ungetüms aus dem Wasser, endlos
lang vom Kopf bis zum Schwanz. Noch ein großer Schritt dieser widerwärtigen
Füße mußte es an den Punkt bringen, wo ich saß,
nur eine Sekunde lag noch zwischen mir und dem entsetzlichsten Tod
es hob den gewaltigen Fuß und da fuhr ein Blitzstrahl durch die Luft,
traf das Ungetüm und umhüllte es mit feurigem Nebel, in kürzerer
Zeit als der Mensch ein einziges Mal zum Atemholen gebraucht.
Als der Dunst sich verzog, da lag
eine schwarze, verkohlte, dampfende Masse, ein riesiger Haufen, vor mir,
aber alle äußeren Formen der früheren Gestalt waren weggebrannt,
und die Überreste zerfielen sichtbar und schnell in Asche und Staub.
Sprachlos blieb ich noch auf meinem Felsblock sitzen, Eiseskälte durchschauerte
mich und ein neues unsagbares Gefühl von Furcht. Aber die Furcht wandelte
sich nunmehr in Ehrfurcht.
Die Hand des Knaben legte sich auf
meinen Kopf der Schrecken verließ sogleich meinen Körper
ich stand auf. «Sie sehen, wie spielend die Vrilya ihre Widersacher
zerstören», sagte lächelnd der Knabe. Dann ging er munter
zum Ufer hin, betrachtete vergnügt die verdampfenden
Überreste des entsetzlichen
Ungetüms und meinte ruhig:
«Ich habe schon größere
Monstren dieser Art zu töten gehabt, aber niemals hatte ich soviel
Spaß dabei. Immerhin, es ist ein Riesensalamander; wie viele Leiden
anderer Geschöpfe muß er zu seinen Lebzeiten verursacht haben!»
Dann warf er die armseligen Fische,
die vor Angst auf das Ufer gesprungen waren, ins Wasser und gab sie so
ihrem natürlichen Elemente zurück.
18. KAPITEL
Wir wanderten zur Stadt zurück.
Tae schlug einen Umweg vor, um mir zu zeigen, was ich, um einen verständlichen
Ausdruck zu wählen, die Abreisestation nennen will. Von dort treten
Reisende und Auswanderer ihre Fahrten an. Ich hatte bei früherer Gelegenheit
einmal den Wunsch geäußert, deren Fahrzeuge zu sehen. Es gab
zweierlei Art, die eine für Landreisen, die andere für Luftreisen.
Die ersteren waren von den verschiedensten Größen und Formen,
einige nicht größer als ein gewöhnlicher Wagen bei uns,
andere waren bewegliche Häuser mit einem
Stockwerk und mehreren Zimmern,
die mit dem bei den Vrilya gewohnten Luxus und aller Bequemlichkeit aus
gestattet waren.
Die Luftfahrzeuge waren aus leichteren
Substanzen gefertigt, sahen natürlich ganz anders aus als unsere primitiven
Luftfahrzeuge, sie glichen mehr unseren Schiffskörpern und Vergnügungsjachten
auf See, hatten verschiedene Steuervorrichtungen und vor allem riesige
Flügel. Im
Zentrum wurde ein Mechanismus durch
Vril in Bewegung gehalten. Wurden doch alle Fahrzeuge zu Land, zu Wasser
und in der Luft durch diese allmächtigen Naturkräfte fortbewegt.
Hier möchte ich gleich eine
Tatsache erwähnen, die mich anfangs recht seltsam berührte. Ich
sagte schon, daß alle Arbeit, soweit solche außer durch Mechanismen
überhaupt noch von Menschenhand ausgeführt werden muß,
bei den Vrilya von den Kindern vor dem heiratsfähigen
Alter verrichtet wird. Alle solche
Arbeiten bezahlt der Staat, und zwar mit einem unvergleichbar viel höheren
Gegenwert als bei uns in Amerika. Ihrer Ansicht nach soll jedes Kind, ob
Knabe oder Mädchen, wenn das heiratsfähige Alter erreicht und
damit diese Arbeitsperiode des Lebens beendet ist, genug zu einem unabhängigen
Auskommen für das weitere Leben verdient haben. Ebenso wie jedes Kind,
unabhängig von den Verhältnissen der Eltern, irgendeinen derartigen
Jugenddienst absolvieren muß, so werden auch alle ihrer Altersstufe
und ihrer Arbeitsart ent
sprechend bezahlt. Wo Eltern oder
Freunde es vorziehen, ihre Kinder im eigenen Dienst zu verwenden, da müssen
sie einen entsprechenden Betrag in den öffentlichen Fonds einzahlen,
gleich dem Betrag, den die im allgemeinen Dienste arbeitenden Kinder erhalten,
und diese Summe wird dem Kinde dann nach Vollendung der Dienstperiode ausgehändigt.
Diese Einteilung ist immerhin so geartet, daß sie den Gleichheitsbegriff
in vernünftiger Weise durchführt.
Denn man kann eigentlich sagen,
daß hier in der Gemeinschaft die Kinder die Demokratie bilden, die
Erwachsenen aber die Aristokratie.
Die auserwählte Weltgewandtheit
und Kultur des Lebens, wie sie den Vrilya charakteristisch ist, die Großzügigkeit
ihrer Einstellung, die unumschränkte Selbstherrlichkeit, mit der ein
jeder von ihnen seinen persönlichen Anschauungen nach leben und seinen
individuellen Beschäftigungen nachgehen kann, der vollendete Stil
ihres häuslichen Lebens, wobei keiner dem anderen in Wort oder Tat
zu mißtrauen braucht, das macht sie gleichsam alle zu Gliedern eines
großen und edlen Ordens. Ja, die Vrilya sind eine wirkliche Gemeinschaft
von
Edelleuten, wie sie sich der geistige
Schüler eines Plato oder Sidney als das Ideal einer aristokratischen
Republik denken möchte.
19. KAPITEL
Seit der geschilderten Expedition
gegen das Ungeheuer kam Tae nun des öfteren, mich zu besuchen. Er
hatte Gefallen an mir gefunden, das ich herzlich erwiderte. Da er noch
nicht ganz zwölf Jahre alt war und daher den Kursus wissenschaftlicher
Studien, mit dem die Kindheit in diesem
Lande abschließt, noch nicht
begonnen hatte, stand ich geistig nicht so tief unter ihm wie unter den
älteren Gliedern seines Geschlechts, auch den Gyei und vor allem Zee.
Da die Kinder der Vrilya so viele
wichtige Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten tragen, sind sie meistens
nicht kindisch. Aber Tae besaß trotz seines Wissens einen so spielerisch
frohen Humor, wie er meist nur für ältere wirklich geniale Persönlichkeiten
charakteristisch ist. Er
mochte wohl durch meine Gesellschaft
die gleiche Veranlassung zu einer fröhlichen Heiterkeit haben, wie
sich ein Knabe des gleichen Alters bei uns auf der Erdoberfläche an
dem närrischen Spiel mit jungen Hündchen oder zahmen Äffchen
ergötzt. Es amüsierte ihn, mir die Fähigkeiten
seiner Rasse zu lehren, wie einer
meiner Neffen seinem Pudel das Gehen auf den zwei Hinterbeinen oder das
Springen über den Stock beibringt. Ich gab mich gern zu solchen Experimenten
her, nur hatte ich leider nicht soviel Erfolg als der Pudel.
Mit großem Eifer versuchte
ich anfangs die Flügel zu gebrauchen, welche die allerjüngsten
Kinder bei den Vrilya mit der gleichen Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit
zu gebrauchen wissen, als die Kinder bei uns ihre Arme und Beine. Aber
meine ersten Versuche mit dem Fliegen
waren derart von blauen Beulen und
Quetschungen begleitet, daß ich das Ganze voll Verzweiflung wieder
aufgab.
Diese Flügel sind, wie ich
schon sagte, sehr groß, reichen herab bis zu den Knien und werden
in Ruhestellung so zusammengelegt, daß sie einen kleidsamen Mantel
abgeben.
Sie werden angefertigt aus den Federn
eines gigantischen Vogels, der in den felsigen Höhen dieses Landes
viel vorkommt die Farbe ist meistens weiß, zuweilen mit rötlichen
Streifen. An den Schultern sind sie mit leichten, aber haltbaren metallenen
Gelenken befestigt. Wenn sie ausgebreitet werden, dann gleiten die Arme
durch hierfür bestimmte Schlingen, und das Ganze bildet nunmehr ein
geschlossenes, sich selbst stützendes Glied des Körpers.
Werden die Arme gehoben, so strömt
Luft durch mechanische Vorrichtung in ein röhrenförmiges Gebilde,
dessen Inhalt durch Bewegung der Arme reguliert werden kann, derart, daß
der Körper wie von einem Schwimmgürtel leicht getragen wird.
Die Flügel sowie auch diese Gebilde sind voller Vril. Und wenn der
Körper nun aufwärts steigt, so scheint er gleichsam seiner Schwerkraft
benommen. Ich fand es leicht, mich vom Boden zu heben, ja, wenn ich die
Flügel ausbreitete, war es kaum möglich, nicht aufzufliegen,
aber dann kam die Schwierigkeit und die Gefahr. Denn ich besaß keinerlei
Fähigkeit, diese Flügel recht zu gebrauchen, obgleich ich bei
meiner eigenen Rasse als besonders geschickt und erprobt in kühnen
Versuchen galt, auch bin ich ein ausgezeichneter Schwimmer.
Hier vermochte ich aber beim Fliegen
nur die einfältigsten und verkehrtesten Dinge zu machen. Ich war in
der Gewalt der Flügel, nicht ihr Herr. Meine Flügel gehorchten
mir durchaus nicht, und als ich durch eine heftige Muskelanstrengung, sowie,
sagen wir es offen, durch eine Kraftleistung, die man nur in der Angst
fertigbringt, ihre steigenden Schwingungen anzuhalten versuchte, indem
ich sie fest an den Körper zog, da schien es, als ob die mich durch
die Lüfte tragenden Kräfte Flügel und Gürtel verließen,
und wie ein Ballon, dem die Luft plötzlich entweicht, stürzte
ich abwärts zur Erde. Nur ein krampfhaftes Flattern errettete mich
davor, in Stücke zerschmettert zu werden, aber nicht vor einem schweren
Absturz, durch den ich betäubt und mit Beulen bedeckt war.
Ich würde trotzdem meine Versuche,
zu fliegen, nicht eingestellt haben, wenn die gelehrte Zee es mir nicht
dringend geraten oder vielmehr befohlen hätte. Sie hatte mich stets
wohlwollend bei meinen Flugversuchen begleitet, und nur weil sie bei dem
letzten Absturz gerade unter mir flog und ich mit meiner flatternden Masse
zuerst auf ihre ausgebreiteten Flügel fiel, wurde ich davor bewahrt,
mir das Genick auf dem Dach einer Pyramide zu brechen, von der aus wir
aufgeflogen waren.
«Ich sehe», sagte sie,
«daß Ihre Versuche vergebens sind. Nicht etwa weil die Flügel
oder ihr Zubehör fehlerhaft sind, noch weil Ihr eigener Körper
derart verbaut oder mißgestaltet wäre, sondern deshalb, weil
Ihrem Organismus durchweg die Fähigkeit des Fliegens verloren ist.
Sie müssen bedenken, daß die feine Wechselbeziehung zwischen
menschlicher Willenskraft und dem Vrilfluidum, die bei den Vrilya nunmehr
vollkommen ausgebildet ist, auch den ersten Entdeckern noch vollständig
fehlte und nicht einmal im Verlauf einer Generation ganz zu erwerben
war. Sondern sie wurde allmählich
verstärkt, wie ja auch andere Rassenmerkmale, und immer vollkommener
von den Eltern auf die Kinder vererbt, so daß sie jetzt bei uns schon
im Instinkt liegt. Jedes Kind unserer Rasse lernt nun ebenso intuitiv und
von selbst sowohl Gehen wie Fliegen. Es gebraucht die ihm gegebenen künstlichen
Flügel mit der gleichen natürlichen Sicherheit, wie derVogel
die seinigen, die ihm angeboren sind.
All das habe ich nicht genügend
bedacht, als ich Ihnen diese Versuche erlaubte, die mir wertvoll waren,
weil ich Sie gern zum Begleiter gehabt hätte. Ich werde dieses Experiment
aber einstellen. Denn Ihre Person beginnt mir von Herzen teuer zu werden.»
Bei den letzten Worten nahm die
Stimme der Gy eine Klangfarbe an, die mich mehr beängstigte als der
vorhergehende Absturz beim Fliegen.
Da ich gerade von Flügeln spreche,
möchte ich noch einer eigenartigen Sitte Erwähnung tun, die mir
in ihrem Ideengehalt sehr bedeutungsvoll scheint. Eine Gy fliegt nämlich
immer nur so lange, als sie Jungfrau ist. Sie nimmt teil an allen Unternehmungen
und Vergnügungen in den
Luftsphären, ja, sie fliegt
sogar häufig allein in die fernen und wilden Regionen der sonnenlosen
Welt. In der Kühnheit und Höhe ihres Aufstieges in die Lüfte
und in der Schönheit ihrer Bewegungen übertrifft sie dann leicht
das andere Geschlecht. Aber vom Tage der Hochzeit ab fliegt sie nicht mehr
bis zum Ende des Lebens.
Als Zees Stimme sich nun vorhin
veränderte und ich ob dieser Veränderung ahnungsvoll schauderte,
schwebte Tae, der uns beim Fliegen begleitete und wie ein Knabe viel mehr
Belustigung an meinen zappelnden Luftstürzen als irgendein Mitgefühl
mit meinen Ängsten und Nöten
empfand, mit seinen ausgebreiteten
Flügeln hoch über uns in der klaren, durchleuchteten Luft. Und
als er die letzten Worte der Gy vernahm, da lachte er laut und rief ihr
herunter: «Wenn der kleine Barbar nicht das Fliegen lernt, Zee, kannst
du ihn ja auch unten begleiten. Nur lege vorher
dann deine Flügel ab.»
20. KAPITEL
Seit einiger Zeit hatte ich schon
in meines Gastgebers kluger und mächtiger Tochter ein Gefühl
des Wohlwollens und Beschützens bemerkt, welches eine allwissende
Vorsehung dem weiblichen Geschlechte der Menschheit sowohl auf der Erdoberfläche
als auch anderwärts verliehen hat.
Aber bis vor kurzem hatte ich dies
jener besonderen Vorliebe für Liebkosungen zugeschrieben, die meist
den Frauen jeden Alters mit den Kindern gemeinsam ist. Jedoch mußte
ich nun zu meinem Kummer bemerken, daß Zee mich mit ganz anderen
Gefühlen zu betrachten beliebte, als sie Tae für mich hegte.
Aber diese Entdeckung flößte mir keineswegs jenes Wohlbehagen
ein, welches die Eitelkeit eines Mannes bei der schmeichelhaften Würdigung
seiner persönlichen Vorzüge durch das schöne Geschlecht
für gewöhnlich empfindet; ganz im Gegenteil, ich betrachtete
dies mit Schaudern. Und doch war Zee eigentlich von allen Gyei dieser Rasse
die klügste und stärkste, ja, sie genoß sogar den Ruf,
auch die liebenswürdigste zu sein und war allgemein sehr beliebt.
Der Wunsch zu helfen, Beistand zu leisten, zu beschützen, zu bemuttern,
schien ihr ganzes Wesen zu erfüllen. Obgleich Unglück, insoweit
es von Laster und Not herrührt, im Gemeinschaftsleben der Vrilya fast
nicht mehr vorkam, so hat doch noch kein Weiser im Vril eine Kraft entdeckt,
die alle Sorge aus dem Leben verbannen könnte; und wo auch immer Beschützung
erforderlich war, da erschien Zee, um auch Schutz zu bringen. Ihre bevorzugten
Flüge waren die nach den äußersten Grenzen des Landes,
wo ja Kinder angestellt waren, um die Ausbrüche böser Naturkräfte
niederzukämpfen oder gefährliche Bestien zu zerstören; dann
war sie stets bei der Hand, um die Kinder vor Gefahren zu warnen, die ihre
Klugheit voraussah, oder Katastrophen zu verhindern.
Wie oft habe ich ihr von meinem
Balkon oder dem hängenden Garten vor meinem Fenster zugeschaut, wie
sie mit ihren glänzenden Flügeln sich in die Lüfte erhob
und wie dann plötzlich eine große Schar Kinder, als sie ihrer
vom Lande her ansichtig wurden, ihr mit der übermütigsten
Freude entgegenschwebten und sie
lustig umgaben, so daß sie bald völlig zum Mittelpunkt von fliegendem
Spiel und Vergnügen wurde. Wenn ich außerhalb der Stadt zwischen
Felsen und Tälern mit ihr wanderte, so entdeckten die Elche und Hirsche
sie schon von weitem und kamen herbei, um sich von ihrer Hand streicheln
zu lassen und dann wieder fortzuspringen, wenn ein Naturlaut, den beide
verstanden, die Tiere entließ.
Es ist Sitte für die unverheirateten
Gyei, auf der Stirn ein Band oder einen Kronreif zu tragen, der mit opalähnlichen
Steinen geschmückt ist, die entweder in bestimmter Weise zu vier Punkten
oder auch wie sternartige Strahlen angeordnet sind. Für gewöhnlich
ist kein Glanz zu sehen,
wenn jedoch Vril damit in Berührung
kommt, so entsteht eine züngelnde Flamme, die zwar Licht ausstrahlt,
aber doch nicht nach Art der feurigen Flammen brennt. Dies dient ihnen
vor allem als Auszeichnung bei den Feierlichkeiten. Auch können sie
solches Licht, wenn sie die von
Menschen künstlich beleuchtete
Landschaft verlassen, verwenden, um die Finsternis ihrer Umgebung von sich
aus zu erleuchten.
Was auch immer der wahre Grund dafür
sein mag, jedenfalls erfüllte das Bewußtsein, daß ich
in Zee eine persönliche Leidenschaft für meine Person erregt
hatte, mich mit Schrecken; vielleicht war es Angst vor ihren Vollkommenheiten,
ihren geheimnisvollen Naturkräften oder vor der unübersteiglichen
Grenze zwischen ihrer und meiner Rasse. Vielleicht entsprang aber auch
die Angst wie ich offen gestehen muß aus der irdischen
und sehr unedlen Furcht vor den Gefahren, in die ich durch ihre Anwandlungen
kommen konnte.
Dürfte ich denn nur für
einen Augenblick glauben, daß die Eltern und Freunde dieses hervorragenden
Wesens ohne Verachtung und Abscheu an die Möglichkeit einer Verbindung
zwischen ihr und einem halbwilden Barbaren auch nur denken könnten?
Zee konnten sie dann aber nicht
bestrafen, nicht zurückhalten,
denn ein Zwang wird untereinander ja niemals gestattet. Aber sie konnten
leicht dieser Angelegenheit ein rasches Ende bereiten durch einen Blitzstrahl
von Vril gegen meine Person.
Unter diesen beängstigenden
Umständen war mein Gewissen und mein Ehrgefühl wenigstens frei
von Selbstvorwürfen. Ich hielt es für meine Pflicht, wenn Zee
ihre Nachstellungen fortsetzen sollte, dies meinem Gastgeber anzuvertrauen,
natürlich mit all der Zartheit, die ein Gentleman anzuwenden pflegt,
wenn er einem anderen die Gunstbezeugungen mitteilt, durch die ein weibliches
Wesen seine Persönlichkeit auszuzeichnen beliebt. Nur auf diese Weise
konnte ich mich von dem Verdachte fernhalten, ein Mitverschworener in den
Absichten Zees zu sein. Vielleicht
konnte auch mein weiser Gastgeber
einen Ausweg aus diesem gefahrvollen Dilemma entdecken. Bei diesem Entschluß
folgte ich dem gewöhnlichen Instinkt eines zivilisierten und moralischen
Menschen der Oberwelt, der, wenn er auch irren kann, doch im allgemeinen
den rechten Weg vorzieht in allen den Fällen, wo es sichtlich gegen
seine Neigungen, seine Interessen und seine Sicherheit wäre, den falschen
zu wählen.
21. KAPITEL
Man wird bereits bemerkt haben,
daß Aph-Lin einen allgemeinen, uneingeschränkten Verkehr zwischen
mir und seinen Landsleuten keineswegs wünschte. Obwohl er sich auf
mein Versprechen, niemals irgend jemandem von meiner wirklichen Herkunft
zu erzählen, und mehr noch auf das
Versprechen der anderen verließ,
mich nicht darüber zu befragen, so fühlte er sich doch nicht
sicher genug, ob ich mich auch beim Verkehr mit Fremden immer würde
gegen deren Neugierde wehren können. Deshalb war ich bei Ausgängen
niemals allein. Ich wurde stets entweder von
einem Mitglied der Familie oder
von meinem jugendlichen Freunde Tae begleitet. Bra, Aph-Lins Gattin, verließ
selten die Gärten, die das Haus umgaben, sondern liebte es sehr, uralte
Literatur zu lesen, die noch etwas Romantisches und Abenteuerliches hatte,
was man in den Werken der dortigen neueren Literatur nicht mehr findet,
während jene alten Bücher mehr ein Leben schilderten, wie wir
es täglich oben auf der Erdoberfläche führen, durch unsere
vielfarbigen Sorgen, Sünden und Leidenschaften belebt, Bilder, die
ihr das bedeuteten, was für uns die reizvollen Märchen von Tausend
und einer Nacht sind. Neben dieser Liebhaberei hatte Bra noch gar mancherlei
Pflichten als Herrin des größten Privathauses dieser Stadt.
Sie ging täglich durch sämtliche Zimmer, um zu sehen, ob die
Automatendienerschaft und die tausenderlei übrigen Mechanismen noch
in Ordnung seien; und daß die zahlreichen Kinder, die Aph-Lin in
seinen privaten oder öffentlichen Funktionen beschäftigte, sich
dabei auch wohlfühlten. Damit half sie ihrem Gatten in seiner Tätigkeit
als Chef der Verwaltung des künstlichen Lichtes im Staate. Ihre zwei
Söhne vollen deten ihre Erziehung im Kolleg der Gelehrten.
Diese beiden Brüder waren meist
im häuslichen Leben meine Gesellschafter, ging ich hingegen aus, so
begleitete mich Aph-Lin oder seine Tochter. Nach den ehrenwerten Beschlüssen,
die ich gefaßt hatte, begann ich Ausreden oder Entschuldigungen zu
erfinden, wenn Zee allein mit mir ausgehen wollte. Eines Tages erhaschte
ich eine Gelegenheit, als diese wissenserfüllte Weiblichkeit eine
Vorlesung am Kolleg der Gelehrten absolvierte, um Aph-Lin zu bitten, er
möge mir doch einmal seinen Landsitz zeigen.
Da dieser ziemlich entfernt lag,
Aph-Lin das Zufußgehen nicht leiden mochte, und ich dagegen alle
Versuche des Fliegens mit Flügeln aufgegeben hatte, so begaben wir
uns an unser Ziel in einem jener entzückenden Luftschiffe, die meinem
Gastgeber gehörten. Ein achtjähriges Kind steuerte den Apparat.
Wir lehnten uns behaglich in die
weichen Kissen zurück, und ich fand diese Art des Fliegens herrlich
angenehm und luxuriös.
«Aph-Lin», begann ich,
«ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie um die Erlaubnis
bitte, auf eine kurze Zeit verreisen zu dürfen, um auch einmal andere
Stämme und Gemeinden Ihrer erhabenen Rasse kennenzulernen. Ich möchte
vor allem gern jene Nationen besuchen, die Ihre Einrichtungen nicht durchgeführt
haben und die Sie als wilde Barbaren betrachten. Es würde mich nämlich
sehr interessieren, die etwaigen Unterschiede zwischen diesen und den Rassen
wahrzunehmen, die wir in der Welt auf der Erdoberfläche für die
zivilisiertesten halten.»
Aph-Lin erwiderte: «Es ist
leider ganz unmöglich, daß Sie dorthin allein reisen. Selbst
unter den Vrilya würden Sie schon großen Gefahren ausgesetzt
sein. Gewisse Abweichungen in Körperfarbe und Gestalt, und ganz besonders
das eigenartige Phänomen, daß Sie haarige Büschel
auf Ihrer Oberlippe und auf den
Backen haben, dies alles läßt sofort erkennen, daß Sie
weder von uns, noch von einer der entferntesten wilden Rassen abstammen
können. Das würde aber in jeder Vrilyagemeinde, die Sie besuchen,
stets das Interesse des Kollegs der Gelehrten erregen, und es würde
ganz von dem persönlichen Temperament dieser gelehrten Herren abhängen,
ob man Sie entweder höflich empfängt wie bei uns, oder aber,
ob man Sie sofort für wissenschaftliche Zwecke bei lebendigem Leibe
auseinanderschneidet, viviseziert. Ich kann Ihnen sogar das Folgende verraten:
Als der Tür Sie zum erstenmal hier in dieses Haus brachte und als
Tae Sie durch eine Berührung in Bewußtlosigkeit versetzte, um
von den Anstrengungen der Erlebnisse auszuruhen, während dieser Zeit
berieten die Gelehrten über Sie, und die Ansichten waren geteilt,
ob Sie ein harmloses Tier oder eine gefährliche Bestie seien. Nun
untersuchte man während der Bewußtlosigkeit Ihre Zähne,
und diese Zähne bewiesen deutlich, daß Sie nicht nur grasfressend,
sondern sogar fleischfressend sind.
Fleischfressende Tiere in Ihrer
Größe werden aber grundsätzlich zerstört, da sie von
gefährlicher und raubgieriger Natur sind. Unsere Zähne sind,
wie Sie zweifellos bemerkt haben werden, nicht wie diejenigen von Kreaturen,
welche Fleisch essen. Es wird allerdings von Zee und anderen Gelehrten
behauptet, daß, als unsere Rasse in vergangenen Urzeiten noch vom
Fressen des Fleisches lebendiger Tiere sich nährte, auch die Zähne
diesem Zwecke entsprochen haben müssen. Doch selbst wenn dem so ist,
haben sie sich jedenfalls seither durch Kultivierung und Vererbung geändert
und der menschlichen Nahrung angepaßt, die wir jetzt genießen.
Es gibt allerdings noch Barbarenstämme, die natürlich auch äußerlich
in den entsprechenden, halb tierischen, wilden und verworrenen Zuständen
leben, die noch wie die Raubtiere Fleisch essen.
Im Verlauf dieses Disputes unserer
Gelehrten wurde es jedenfalls vorgeschlagen, Sie lebendig auseinanderzuschneiden,
zu vivisezieren. Nur weil Tae sich für Sie einsetzte und weil der
Tür dagegen war, gemäß unserer Sitte, Leben stets zu schonen,
außer wo Zerstörung für das Allgemein wohl unbedingt notwendig
ist, wurden Sie zu mir geschickt, der ich als der wohlhabendste Mann die
Pflicht habe, Fremdlingen Gastfreundschaft zu gewähren. Es stand dann
in meinem Gutdünken, zu entscheiden, ob Sie ein Fremder seien, den
man gefahrlos zulassen könne, oder auch nicht. Hätte ich es abgelehnt,
Sie aufzunehmen, so wären Sie rettungslos dem Kolleg der Gelehrten
verfallen gewesen, und was man dort mit Ihnen getan hätte, das wage
ich gar nicht auszudenken.
Abgesehen von der gleichen Gefahr
also, können Sie irgendwo anders auch zufällig einem vierjährigen
Kind begegnen, das gerade in den Besitz seines Vrilstabes gelangt ist,
und dieses Kind kann leicht durch Ihr absonderliches Aussehen derart erschreckt
werden, daß es im Schreck des Augenblicks Sie in Staub und Asche
verwandelt. Sogar Tae hätte beinahe das gleiche getan, als er Sie
zum erstenmal sah, wäre er nicht rasch durch seinen Vater daran gehindert
worden. Deshalb können Sie unmöglich allein reisen. Aber mit
Zee zusammen würden Sie sicher sein, und sie würde Sie gewiß
auf einer Rundreise durch die von den Vrilya bewohnten Gegenden, jedoch
nicht zu den wilden Stämmen, begleiten. Ich kann sie ja gleich einmal
fragen.»
Da nun der Hauptzweck meiner abenteuerlichen
Reise darin bestand, Zee zu entfliehen, schrie ich hastig: «Nein,
bitte, tun Sie das nicht! Ich gebe meine Absicht auf. Sie haben mir die
Gefahren so schrecklich geschildert, daß ich nicht mehr reisen will.
Auch könnte ich es kaum verantworten, daß eine junge Gy von
der reizenden Art Ihrer lieblichen Tochter in fremde Regionen reisen sollte,
ohne einen besseren Beschützer zu haben, als einen Halbwilden von
meiner unbedeutenden Kraft und Gestalt.»
Aph-Lin ließ jenen sanften,
zischenden Laut hören, welcher der stärkste Ausdruck von Gelächter
ist, den sich ein Erwachsener bei dieser Rasse erlaubt. Dann meinte er:
«Verzeihen Sie meine unhöfliche plötzliche Heiterkeit bei
einer so ernsthaft gemachten Bemerkung meines Gastes.
Aber die Idee ist zu komisch, daß
Zee, die so gern andere beschützt, daß sie den Beinamen die
,Beschützerin' erhielt, ihrerseits einen Schutzherrn sogar gegen etwaige
männliche Attacken benötigen sollte. Unsere Gyei reisen, solange
sie unverheiratet sind, ganz allein auch zu anderen Stämmen, um zu
sehen, ob sie dort jemand finden, der ihnen besser behagt, als die zu Hause.
Zee hat schon drei derartige Reisen unternommen, aber bisher noch nicht
den Gegenstand ihrer Wahl entdeckt.»
Hier bot sich endlich die Gelegenheit,
welche ich suchte, und ich sagte, starr vor mich hinblickend und mit zitternder
Stimme: «Wollen Sie mir versprechen, mein gütiger Gastgeber,
mir zu verzeihen, wenn das, was ich sagen werde, Sie verletzen sollte?»
«Sprechen Sie nur die volle
Wahrheit, dann kann sie mich ja nicht beleidigen, und wenn doch, so wäre
es an Ihnen, zu verzeihen, nicht an mir.»
«Nun denn, so seien Sie mir
behilflich, Sie zu verlassen. Wenn ich auch gern noch viel mehr von den
Wundern Ihres Landes gesehen hätte und noch länger an dem glücklichen
Leben Ihrer Rasse teilnehmen möchte, lassen Sie mich trotzdem zu meiner
eigenen Rasse zurückehren.»
«Ich fürchte, es gibt
dringende Gründe, warum ich dies nicht vermag. Auf jeden Fall nicht
ohne die Erlaubnis des Tür, und der wird es sicherlich niemals gestatten.
Denn Sie sind nicht ohne Geist und könnten (obgleich ich das persönlich
nicht hoffe) die Stärke der Ausbildung von Zerstörungskräften
bei Ihrer Rasse verheimlicht haben; dann aber könnten Sie uns über
kurz oder lang in Gefahr bringen. Und wenn der Tür nur den leisesten
Argwohn dieser Art hegt, so würde es natürlich seine unweigerliche
Pflicht sein, entweder Sie selbst zu vernichten, oder Sie wenigstens für
den Rest Ihres Lebens in eine Höhle zu sperren. Aber warum wünschen
Sie denn überhaupt eine Gemeinschaft zu verlassen, bei der man, wie
Sie selbst zu bemerken beliebten, so viel glücklicher lebt als bei
Ihnen?»
«Ach, Aph-Lin, meine Antwort
ist einfach. Ich befinde mich in einer solchen Situation, daß ich
leicht ohne mein eigenes Verschulden ihre Gastfreundschaft verraten könnte.
Denn, infolge einer jener seltsamen
Launen, die in unserer Welt für das weibliche Geschlecht sprichwörtlich
wurden, und von denen anscheinend selbst eine Gy nicht ganz frei ist, könnte
es Ihrer anbetungswürdigen Tochter einfallen, mich, der ich doch nur
ein barbarischer Halbwilder bin, plötzlich als einen zivilisierten
Menschen zu betrachten und und und —»
«Sie als Gatten zu begehren»,
half mir Aph-Lin nach, immerhin ohne merkliche Anzeichen von Verblüffung
oder Entsetzen.
«Wie Sie sagen.» «Das
wäre allerdings ein Unglück», sprach mein Gastgeber nach
einer kurzen Pause voller Nachdenklichkeit, «und ich muß gestehen,
daß es sehr recht von Ihnen war, mich in dieser Richtung zu warnen.
Es ist, wie Sie wissen, nichts Außergewöhnliches, daß
eine Gy in solchen Dingen Kaprizen zeigt, die für andere grillenhaft
erscheinen. Aber es gibt ja auch keine Macht, durch welche man eine junge
Gy zwingen könnte, die Richtung ihrer Launen zu ändern. Selbst
wenn wir uns mit ihr in Dispute darüber einlassen wollten, so lehrt
uns doch eigentlich schon die Erfahrung, daß sogar der gesamte versammelte
Rat der Weisen es wohl niemals erreichen würde, ihre Ansicht in diesen
Dingen zu ändern. Aber ich habe insbesondere Angst für Ihre Person,
denn eine solche Heirat würde deshalb gegen das Wohl der Gemeinde
verstoßen, weil die aus einer solchen Ehe entspringenden Kinder die
Rasse verderben würden; ja, solche Kinder könnten sogar mit Zähnen
fleischfressender Tiere zur Welt kommen, und das würde man hier niemals
gestatten. Außerdem, Zee kann man natürlich von nichts abhalten,
aber Sie, als Halbwilden, könnte man leicht zerstören. Ich kann
Ihnen also auch nur den Rat geben, ihren Werbungen Widerstand zu leisten.
Vielleicht erzählen Sie ihr, daß sie Ihnen völlig uninteressant
ist, das passiert ja häufig. Oder auch, viele Männer entrinnen
bei uns einer Frau, indem sie eine andere heiraten. Vielleicht versuchen
Sie dieses Mittel?»
«Nein doch, ich kann ja auch
keine andere Gy heiraten, ohne das Wohl der Gemeinde zu gefährden
durch die Möglichkeit, daß ich fleischfressende Kinder großziehe.»
«Das ist allerdings wahr.
Alles was ich Ihnen also sagen kann, und ich sage es mit der Rücksicht,
die ich einem ,Tish' und meinem Gast schulde, ist offengestanden dies:
Wenn Sie nachgeben, werden Sie in Staub und Asche verwandelt. Ich muß
es Ihnen überlassen, den geschicktesten
Weg zu Ihrer Selbstverteidigung
zu entdecken. Vielleicht sagen Sie Zee, sie wäre häßlich.
Eine solche Versicherung hilft manchmal. So, nunmehr sind wir bei
meinem Landsitz angelangt.»
22. KAPITEL
Ich muß gestehen, daß
meine Unterhaltung mit Aph-Lin mich arg bedrückte, insbesondere die
unumwundene Art, mit der er seine Unfähigkeit erklärte, mich
gegen die Kaprizen seiner Tochter schützen zu können, und wie
er den Gedanken kurzweg behandelte, daß ihre Liebesfackel
meine allzu verführerische
Person in Staub und Asche umwandeln könne. Dies alles dämpfte
mein Vergnügen an der Besichtigung des Landsitzes meines Gastgebers
etwas herab.
Erstaunlich waren vor allem die
Mechanismen, welche die gesamte landwirtschaftliche Arbeit verrichteten.
Das Wohngebäude wich in seinem Äußern stark ab von dem
massiven und düsteren Stadtpalais Aph-Lins, das den Felsen glich,
aus denen die Stadt selbst erbaut war. Die Mauern des Wohnhauses hier auf
dem Lande waren aus eng aneinanderstehenden Bäumen gebildet, während
die Zwischenräume von einer durchscheinenden Substanz erfüllt
waren, die hier die Glasscheiben ersetzt. Alle diese Bäume waren in
voller Blüte, was eine berauschende, stilvolle Stimmung erweckte.
Im Tor wurden wir durch mehrere menschenähnliche Automaten empfangen,
die uns auf unsere Zimmer geleiteten. Dies waren Räumlichkeiten, wie
sie sich meine schwelgerische Phantasie in vergangenen heißen Sommernächten
nicht herrlicher träumen konnte,
eigentlich mehr wie eine Laube gestaltet,
halb Zimmer, halb Garten. Die Wände bestanden aus einem Wirrsal verschlungener
Blumen und Blüten. Die fensterähnlichen Öffnungen zeigten
Ausblicke von einer märchenhaften und üppigen Schönheit
auf Felsen und Seen, Park und Gewächshäuser voll der seltensten
Blumen. An den Seiten des Zimmers waren Blumenbeete, dazwischen verstreut
eine Fülle von weichen Kissen zum Ausruhen. In der Mitte entsprang
eine Fontäne jenes flüssigen Lichtes, das ich anfangs für
Naphta hielt. Es schillerte und es strahlte in einer rosigen Farbe und
erhellte gar köstlich den Raum. Rings um die Fontäne war ein
Teppich von weichem Moos, das nicht grün, sondern von ruhigem, tiefem
Gelb war, einer bisher nie gesehenen Farbe, die das Auge noch mehr ausruhen
ließ als das Grün unserer Oberwelt. In den Park wegen konnte
man farbenprächtigen Singvögeln lauschen, welche vielstimmig
und in symphonischen Harmonien sangen, wie man es ihnen dort ja zu lehren
verstand. Diese Szenerie war wirklich reizvoll für jeden einzelnen
Sinn.
Musik, Düfte und Farbenpracht
klangen hier in vollkommenster Harmonie ineinander. Eine wollüstige
Ruhe lagerte über allem. Welch ein köstlicher Ort für eine
reizende Liebschaft, dachte ich, wenn der andere Teil weniger furchtbar
mit Frauenrechten und männlichen Naturkräften
ausgestattet wäre. Aber wenn
man dann an eine Gy dachte, die so gelehrt und von so mächtiger Statur
war wie Zee, nein! Auch wenn ich nicht jeden Augenblick fürchten müßte,
in Staub und Asche umgewandelt zu werden, selbst dann würde ich gewiß
nicht von ihr geträumt haben in
dieser Umgebung, so geschaffen für
phantastische Träume. Die menschlichen Automaten erschienen wieder
und reichten uns einige Gläser, gefüllt mit prächtigen Kräuter
Essenzen, welche bei den Vrilya eine harmlosere Art von Wein abgeben.
«Das ist wirklich ein reizender
Landsitz», sagte ich, «und ich verstehe einfach nicht, warum
Sie nicht viel lieber hier als inmitten der düsteren Stadt wohnen.»
«Da ich für die Verwaltung
des künstlichen Lichtes im Staate verantwortlich bin, muß ich
hauptsächlich in der Stadt leben und kann nur zeitweise hier herauskommen.»
«Aber da Ihr Amt, wie Sie
sagten, keine Ehren einträgt, und sogar einige Mühe macht, warum
übernehmen Sie es dann eigentlich?»
«Ein jeder von uns unterwirft
sich freiwillig den Anweisungen des Tür. Wenn er sagt, es sei wünschenswert,
daß Aph-Lin die Verwaltung des Lichts übernimmt, so gibt es
für mich kein Zaudern. Aber jetzt, nachdem ich dies Amt eine Zeitlang
durchgeführt habe, sind mir die Lasten, die ich vorher recht wenig
schätzte, wenn auch nicht gerade angenehm, so doch erträglich
geworden. Man gewöhnt sich doch sehr rasch an alles. Wie Sie
sehen, gibt es sogar noch Leute, die ihren Widerwillen gegen Staatsämter
so weit überwinden, daß sie den obersten Verwaltungsposten im
Staate annehmen. Aber keiner würde sich hierzu bereit finden, wenn
er nicht seine individuelle Handlungsfreiheit im übrigen völlig
behielte.»
«Und wenn man nun seinen persönlichen
Willen für falsch hält?»
«Das kann gar nicht vorkommen,
denn alles wird bei uns harmonisch nach den Gesetzmäßigkeiten
undenklicher Zeiten geregelt.»
«Wenn nun das Staatsoberhaupt
stirbt oder sich zurückzieht, wie steht es denn dann mit der Nachfolge?»
«Derjenige, der dieses Amt
viele Jahre lang innegehabt hat, ist am geeignetsten, sich seinen Nachfolger
selber zu wählen.»
«Dann wählt er aber doch
sicher stets seinen Sohn?»
«Nein, fast niemals, denn
das wird er doch seinem Sohn nicht antun, ihm ein hohes Staatsamt aufzuhalsen.
Wenn der Tür in der Wahl eines Nachfolgers zum Staatsoberhaupt zögert,
weil er nicht gern einem Freunde etwas so Böses antun will, dann erfolgt
die Wahl durch drei Männer
des Rates der Weisen. Aber im allgemeinen
sind wir der Ansicht, daß das Urteil eines einzelnen in entscheidenden
Dingen immer treffsicherer und auch besser ist als das Urteil von mehreren,
und wenn sie noch so klug sind. Denn es gibt höchstwahrscheinlich
unter mehreren doch immer Uneinigkeit, und wo Uneinigkeit ist, da mischen
sich sofort die Triebe und Leidenschaften mit in das Urteil. Das geringste
Urteil eines einzelnen, der von vornherein so gestellt ist, daß er
kein Motiv zum Falschwählen hat, ist immer noch besser, als das Urteil
irgendeiner Mehrheit, die stets auch eine Menge von Motiven zum Falschwählen
mit sich bringt.»
«Dann stehen Sie aber auf
dem entgegengesetzten Standpunkt in staatlichen Dingen als wir auf der
Erdoberfläche.»
«Nun, sind Sie denn in irgendeinem
Ihrer Staaten mit der Regierung zufrieden?»
«Nein, sicher nicht, die Regierung,
welche der Mehrheit gefällt, mißfällt natürlich stets
allen anderen.»
«Dann ist unser System besser
als das Ihrige.»
«Mag sein, daß es für
Sie besser ist. Andererseits könnte bei uns ein Mensch nicht
in Staub und Asche verwandelt werden, wenn ein weibliches Wesen ihn zur
Ehe zwingen will; und da ich nun einmal ein Barbar bin, so sehne ich mich,
in meine Heimatwelt zurückehren zu können.»
«Fassen Sie Mut, mein lieber
kleiner Gast. Schließlich kann Zee Sie ja doch nicht zur Ehe zwingen.
Sie kann Sie höchstens dazu verführen. Lassen Sie sich eben nicht
verführen! Kommen Sie, wir wollen meine Besitzung ein wenig anschauen.»
«Mein jüngster Sohn hat
ein großes Vergnügen daran, unser Besitztum zu vermehren»,
erzählte Aph-Lin, als wir die Wirtschaftsgebäude durchschritten,
«deshalb wird er alle diese Ländereien einst erben, die den
größten Teil meines Besitzes ausmachen. Meinem ältesten
Sohne würde ein solches Erbteil nur große Mühe und Kummer
verursachen.»
«Gibt es bei Ihnen viele Söhne,
die das Erben eines großen Vermögens als eine schreckliche Bürde
ansehen?»
«Gewiß, es gibt sogar
nur wenige unter den Vrilya, welche nicht so denken. Denn nach Ablauf des
Kindheitsalters legt man bei uns sehr viel Wert auf Ruhe und Zurückgezogenheit.
Ein großes Vermögen lenkt aber die Aufmerksamkeit auf uns bei
der Wahl zu den Staatsämtern,
die doch niemand gern annimmt, andererseits,
wenn er wählt, nicht gut ablehnen kann.»
Nach dieser Unterredung suchte ich
nochmals auf unser früheres Thema zurückzukommen, aber mein Gastgeber
umging es geschickt und beorderte unser Luftschiff. Während unserer
Luftfahrt begegneten wir Zee, welche, da sie uns bei ihrer Rückehr
vom Kolleg der Gelehrten nicht
zu Hause fand, ihre Flügel
sofort auseinandergebreitet hatte und auf der Suche nach uns herumgeflogen
war. Ihr sehr kluges, aber für mich wenig anziehendes Gesicht hellte
sich auf, als sie mich sah und, neben dem Luftschiff auf ihren riesigen
ausgebreiteten Flügeln einherschwebend, sagte sie vorwurfsvoll zu
Aph-Lin: «Ach Vater, es war unrecht von dir, das Leben unseres Gastes
zu gefährden, in einem Luftfahrzeug, an das er doch so gar nicht gewöhnt
ist. Er hätte durch eine unvorsichtige Bewegung sehr leicht über
Bord fallen können.»
Mild entgegnete er: «Zee,
der Tish war in keiner Gefahr, und ich bin überzeugt, daß er
sehr gut auf sich selbst acht haben kann.»
Sie erwiderte: «Ich hätte
lieber, daß er mir die Sorge für ihn überließe.»
Sie warf mir einen vorwurfsvollen
Blick zu, bewegte ihre Flügel und flog nach Hause. «Ich hätte
wenigstens in den Gefahren, denen mich Ihre
eigene Tochter aussetzt, auf die
Hilfe meines Gastgebers gerechnet», sagte ich bitter zu diesem.
«Ich half Ihnen, so gut ich
konnte. Wenn man einer Gy in solchen Dingen Schwierigkeiten bereitet, so
reizt sie das nur, es nun gerade zu tun. Sie duldet keine Ratschläge
zwischen Wille und Ziel.»
23. KAPITEL
Als wir zu Hause angelangt waren,
gab Aph-Lin an einige der bei ihm beschäftigten Kinder den Auftrag,
eine Anzahl Freunde zu einem Fest einzuladen, das er während der «
Leichten Stunden » zu Ehren eines verstorbenen nahen Verwandten veranstalten
wolle. Es war die größte und
heiterste Gesellschaft, die ich
während meiner ganzen Anwesenheit bei dieser Rasse erlebte.
Das Gastmahl wurde in einem mächtigen
Saal abgehalten, der besonders für große Festlichkeiten in diesem
Stadthause diente. Die ganze Festlichkeit trug einen anderen Charakter
als bei uns und erinnerte mich sehr an die luxuriösen Gastmähler
zu den Zeiten des römischen Kaiserreichs. Man saß nicht um eine
einzige große Tafel, sondern an zahlreichen kleineren Tischen, deren
jeder für acht Gäste gedeckt war. Man ist hier der Ansicht, daß
eine größere Anzahl keine rechte Unterhaltung führen kann
und die Freundschaftlichkeit des Beisammenseins nur beeinträchtigt.
Wie ich schon erzählte, brechen diese Menschen niemals in lautes Gelächter
aus, sondern der melodische Klang ihrer Stimmen an den verschiedenen Tafeln
war das Symbol einer harmonischen, heiteren Unterhaltung. Da sie keine
betrunkenmachenden Getränke genießen und eine wohltuende, stilvolle
und wählerische Speisenfolge einhalten, so dauerte das Mahl selbst
nicht zu lange. Die Tafeln verschwanden im Fußboden, und nun begannen
musikalische Darbietungen, aber nur für solche, die es liebten. Viele
von den jungen Leuten schwangen sich mit
ihren Flügeln in die Lüfte,
denn der Saal war unbedeckt, und vollführten die reizendsten Lufttänze.
Andere wieder schlenderten durch die Räume, um einen Blick auf die
Altertümer und Sammlungen zu werfen, oder gruppierten sich zu einem
seltsamen Spiel, das ich als Schachspiel zu acht Personen bezeichnen könnte.
Ich versuchte, mich unter die Gäste zu mischen, wurde aber an der
zwanglosen Teil nahme in ihrer Unterhaltung durch die ständige Begleitung
von einem der Söhne meines Gastgebers behindert, die mich vor verfänglichen
Fragen beschützen sollten. Aber die Gäste nahmen glücklicherweise
nur wenig Notiz von mir, man hatte sich nachgerade an meinen absonderlichen
Anblick gewöhnt, und so erregte ich kaum mehr die Neugierde. Zu meinem
größten Entzücken mied mich Zee sichtlich, vielleicht um
dadurch meine Eifersucht rege zu machen.
Sie beschäftigte sich ostentativ
mit einem sehr hübsch aussehenden jungen Mann, an dem ich die Sitte
dieses Landes sehr gut beobachten konnte, wie er bescheiden die Augen niederschlug,
wenn er von einem weiblichen Wesen angeredet wurde, und sehr zurückhaltend
und sogar scheu war, etwa so wie es bei uns umgekehrt bei den jungen Mädchen
in zivilisierten Ländern, außer in England und Amerika, Sitte
ist. Er schien sichtbarlich auf die Werbungen der jungen Gy einzugehen,
und ich wünschte sehnlichst, daß er es doch ja tun möchte,
da ich mehr und mehr von dem Gedanken entsetzt wurde, in Staub und Asche
verwandelt zu werden, nachdem ich die Schnelligkeit, mit der dies möglich
ist, bei der Tötung des Ungetüms an einem so anschaulichen Beispiel
erfahren hatte. Ich amüsierte mich nun damit, auch die anderen jungen
Leute zu beobachten.
Ich hatte dabei die Befriedigung,
daß Zee nicht die einzige Verfechterin des wertvollsten Frauenrechts
war. Wohin auch mein Auge sich wandte, wohin mein Ohr lauschte, überall
schien mir die Gy stets der werbende Teil, während der junge An schüchtern
und zurückhaltend war. Die hübsche, unschuldige Miene, die ein
An zur Schau trug, wenn ihm der Hof gemacht wurde, die Geschicklichkeit,
mit welcher er eine jede direkte Antwort auf verfängliche Fragen vermied,
oder wie er die schmeichelhaftesten Komplimente, die man ihm machte, in
Scherz umwandelte, all dies würde dem kokettesten weiblichen Wesen
auf der Erdoberfläche sehr zur Ehre gereicht haben. In diesem Augenblicke
kam das Staatsoberhaupt, ein Herrscher, der sich übrigens hier gänzlich
ungezwungen bewegte, ohne durch ständige Ehrenbezeugungen oder Knickse
gestört zu werden, auf mich zu. Es war das erste mal, daß ich
diesen hohen Machthaber seit meinem einstigen Betreten seines Landes zu
sehen bekam, und als ich mich der Worte Aph-Lins erinnerte, daß dieser
Mann im Zweifel gewesen sei, ob man mich bei lebendigem Leibe sezieren
solle oder nicht, da kroch mir das Entsetzen durch den Leib beim Anblick
seines ruhigen Antlitzes. «Ich höre viel von Ihnen, Fremdling,
durch meinen Sohn Tae», sprach der Tür mich an und legte seine
Hand auf mein geneigtes Haupt; «er hängt sehr an Ihrer Gesellschaft,
und ich hoffe, daß die Sitten unseres Landes Ihnen nicht mißfallen.»
Ich stotterte eine unverständliche
Antwort, die eine Versicherung meiner unauslöschlichen Dankbarkeit
für das mir von dem Herrn Tür widerfahrene Wohlwollen und meine
Bewunderung seiner Landsleute ausdrücken sollte. Aber im Geiste sah
ich das Seziermesser vor meinen Augen blitzen, und das erstickte meine
wohlgesetzten Worte im Halse. Eine sanftere Stimme sprach mich nun an:
«Ich möchte den Freund meines Bruders begrüßen.»
Und als ich aufblickte, sah ich eine junge Gy vor mir, die etwa sechzehn
Jahre alt sein mochte; sie stand neben dem Staatsoberhaupt und betrachtete
mich mit sichtlichem Wohlgefallen. Sie war noch nicht völlig ausgewachsen
und deshalb etwa so groß wie ich selbst; dank dieser verhältnismäßig
zarten Gestalt sah ich in ihr die reizendste Gy, die ich bisher erblickt
hatte. Ich vermute, daß mein Gesichtsausdruck diesen Eindruck verriet,
denn er spiegelte sich wiederum in der Miene des Mädchens.
«Tae erzählte mir, daß
Sie noch nicht gelernt haben, die Flügel zu gebrauchen. Das ist schade,
wie hübsch wäre es, wenn ich ein wenig mit Ihnen spazieren fliegen
könnte.»
«Ach», entfuhr es mir,
«ich werde wohl leider niemals dieses Vergnügen genießen.
Zee versicherte mir, daß der richtige Gebrauch von Flügeln eine
angeborene Eigenschaft ist und daß Generationen vergehen würden,
bis ein Mensch meiner Rasse wie ein Vogel in den Lüften wird fliegen
können.»
«Lassen Sie sich das nicht
so schrecklich zu Herzen gehen», antwortete diese reizende Prinzessin,
«denn schließlich müssen Zee und ich auch eines Tages
auf das Fliegen verzichten. Vielleicht wird es uns dann sogar gut gefallen,
wenn der An auch keine Flügel trägt.»
Der Tür hatte uns unterdessen
verlassen und war in der festlichen Menge wieder verschwunden. Ich fing
an, mich im Gespräch mit Taes entzückender Schwester sehr wohl
zu fühlen, ja, ich schwang mich sogar zu dem sehr kühnen Kompliment
auf, ihr zu sagen, daß sicher kein An, der ihre Gunst genieße,
je seine Flügel benutzen werde, um von ihr fortzufliegen. Es ist derart
gegen die Sitte in diesem Lande, wenn ein An einer Gy solche entgegenkommenden
Dinge sagt, daß das junge Mädchen einen Augenblick gänzlich
verblüfft war. Immerhin schien sie durchaus nicht unangenehm berührt
zu sein. Sie erholte sich sehr schnell von ihrem Erstaunen und forderte
mich auf, sie in einen der weniger überfüllten Räume zu
begleiten, um dem Gesang der gelehrigen Vögel zu lauschen. Ich folgte
ihr natürlich auf dem Fuße nach, und so gelangten wir in ein
völlig verlassenes Zimmer. Eine Fontäne aus schillernden Lichtstrahlen
spielte in der Mitte des Raumes, während in ihrem Umkreise prächtige
Diwans zum behaglichen Sitzen einluden; in der einen Wand waren Käfige
eingebaut, aus denen mannig farbige Singvögel ihre einschmeichelnden
Chöre ertönen ließen. Die junge Gy ließ sich nieder
auf einem der Diwans, und ich setzte mich neben sie.
«Tae erzählte mir, daß
Aph-Lin von Ihnen und von seiner Familie verlangt hat, niemals über
das Land Ihrer Herkunft oder den Grund Ihres Hierseins zu sprechen.»
«Das hat er allerdings»,
sagte ich.
«Darf ich wenigstens, ohne
gegen dieses Verbot zu sündigen, fragen, ob die Gyei in Ihrem Lande
dieselbe helle Gesichtsfarbe haben wie Sie, und ob sie nicht größer
sind ? »
«Ich glaube nicht, liebe Gy,
daß ich das Verbot Aph-Lins übertrete, das mich zum Schweigen
verpflichtet, wenn ich eine so unschuldige Frage beantworte. Die Gyei in
meinem Lande haben eine viel schönere Gesichtsfarbe als ich und sind
für gewöhnlich um einen Kopf kleiner.»
«Dann können die Gyei
aber doch auch nicht so stark sein wie die Ana bei Ihnen? Vermutlich gleicht
die überlegene Beherrschung der Vrilkraft diesen Unterschied wieder
aus?»
«Sie besitzen gar keine Vrilkraft
bei uns, wie man sie hier kennt. Aber auch in unserem Lande sind sie sehr
mächtig, und ein An hat meist wenig Möglichkeiten zu einem glücklichen
Leben, wenn er sich nicht mehr oder minder von ihnen beherrschen läßt.»
«Dies Geständnis kam
bei Ihnen recht aus dem Herzen», sagte Taes Schwester in einem halb
betrübten, halb schalkhaften Tone, «Sie sind natürlich
verheiratet?»
«Nein gewiß nicht.»
«Auch nicht verlobt?»
«Auch nicht verlobt.»
«Ist es denn möglich,
daß sich keine Gy um Sie beworben hat ? »
«In meinem Lande ist es nicht
Sitte, daß die Gy sich bewirbt, das ist Sache des An bei uns.»
«Welch eine sonderbare Umkehrung
der Naturgesetze», sagte das Mädchen, «und welcher Mangel
an Bescheidenheit bei Ihrem Geschlecht! Aber Sie selbst haben sich nie
um eine Gy beworben, nie irgendeine bevorzugt?»
Ich geriet bei dieser offenherzigen
Art, mich auszufragen, beinahe in Verlegenheit, und erwiderte: «Verzeihen
Sie, ich glaube, wir beginnen Aph-Lins Verbot des Schweigens zu übertreten.
Ich kann Ihnen nur soviel erzählen, und dann bitte ich, mich gütigst
nicht weiter zu befragen; ich bewarb mich in der Tat einst um eine Gy,
und sie wäre gern einverstanden gewesen, aber die Eltern gestatteten
es nicht.»
«Eltern! Wollen Sie damit
ernstlich sagen, daß sich bei Ihnen die Eltern in derartige Angelegenheiten
hineinmischen ? »
«Gewiß tun sie das,
und zwar meistens.»
«In dem Land möchte ich
aber nicht leben», meinte die Gy, «doch ich hoffe, Sie gehen
niemals dahin zurück.»
Ich beugte schweigend mein schweres
Haupt, aber die Gy schlang ihre Arme um meinen Hals und sagte aufmunternd:
«Bleiben Sie doch hier und lassen Sie sich von mir lieben!»
Noch zittere ich, wenn ich daran
denke, was ich hätte antworten können, welchen Gefahren, in Staub
und Asche verwandelt zu werden, ich mich in diesem Augenblick hätte
leichthin aussetzen können als plötzlich das Licht der
Strahlenfontäne durch den Schatten von Flügeln verdunkelt wurde
und Zee durch das offene Fenster hereinfliegend sich direkt neben uns auf
den Boden herabsenkte.
Sie sprach kein Wort, sondern nahm
mich einfach mit ihrer ungeheuren Kraft bei der Hand, zog mich weg, wieeine
Mutter ihr unartiges Kind in die Ecke stellt, führte mich durch die
angrenzenden Zimmer in einen Korridor, von dem aus wir mittels eines die
Treppe ersetzenden Mechanismus in meinem Zimmer landeten. Dort angelangt,
berührte Zee meine Stirn mit ihrem Zeigefinger, meine Brust mit ihrem
Vrilstab und ich verfiel augenblicklich in den tiefsten Schlaf.
Als ich nach einigen Stunden wieder
erwachte und den Gesang der Vögel im Käfig hörte, kam mir
die Erinnerung an Taes Schwester, an ihre bildhübschen Augen und ihre
reizende Stimme. Und so unmöglich ist es für jemanden, der auf
der Erdoberfläche geboren und aufgewachsen ist, sich der Gedanken,
die so schmeichelhaft sind und zur Abenteuerlust anregen, zu erwehren,
daß ich gleich in der Phantasie die allertollsten Luftschlösser
baute.
Wenn ich auch einer halbwilden Menschheit
angehören mag so ungefähr war mein Gedankengang , es ist
jedenfalls klar, daß Zee nicht die einzige Gy ist, die von meiner
Persönlichkeit gefesselt wird. Offenbar liebt mich auch diese reizende
Prinzessin, die Tochter des absoluten Monarchen im Lande, dessen unumschränkte
Herrschaft diese Leute ja wohl nur hinter einer republikanischen Maske
verstecken.
Wäre die furchtbare Zee nicht
dazwischengekommen, so hätte die entzückende Königstochter
mir sicher noch von selbst ihre Hand angetragen. Und wenn auch Aph-Lin,
der ja nur ein Minister für Beleuchtung ist, mir mit völliger
Zerstörung gedroht hat, falls ich seine Tochter heiraten
sollte, so würde doch ein Herrscher,
dessen Wort allmächtig ist, sicher die Leute zwingen können,
ein Gesetz abzuschaffen, welches jede Heirat mit Ausländern verbietet,
was ja überhaupt schon im Widerspruch zu ihren vielgerühmten
Prinzipien steht.
Es läßt sich auch annehmen,
daß die eigene Tochter so viel Einfluß auf diesen König
haben wird, daß er mich vor der Zerstörung meiner leiblichen
Hülle bestimmt schützen würde, wozu mich Aph-Lin verdammt
sah. Und wenn dies alles gut ginge, wer weiß, ob dieser König
mich
nicht einst zu seinem Thronerben
ernennen würde. Warum nicht? Die meisten Leute bei diesem indolenten
Philosophengeschlecht wollen sich ja solche hohen Ämter nicht aufbürden.
Gewiß würden sie es sogar gern sehen, die höchste Gewalt
in die Hände eines so weltgewandten Fremden zu legen, der noch dazu
die andersgearteten und lebhafteren Sitten des Lebens kennt.
Und welche glänzenden Umwälzungen
würde ich in diesem Lande herbeiführen, wenn ich erst einmal
gewählt wäre! Wieviel mehr Abwechslung würde meine Kenntnis
von den Sitten der zivilisierten Völker der Erdoberfläche auch
in dieses Land mit seinem zwar angenehmen, aber doch für mich gar
zu einförmigen philosophischen Leben hineintragen! Ich bin zum Beispiel
ein großer Freund der Jagd. Neben der Kriegführung wäre
also das Abhalten großer Jagden meine angenehme Pflicht als König.
Welchen Reichtum an fremdartigem Wild birgt dieses Land! Wie
interessant wird es werden, Tausende
vorsintflutlicher Tiere zur Strecke zu bringen! Aber wie ? Dieses schreckliche
Vril werde ich ja allerdings mangels angeborener Fähigkeit vor erst
nicht beherrschen. Nein, aber mit einem unserer zivilisierten, sehr handlichen
Gewehre, das mir diese genialen Mechaniker sicher leicht werden anfertigen,
vielleicht sogar vervollkommnen können, damit wird es gehen; ja, ich
entsinne mich sogar, etwas Derartiges im Museum gesehen zu haben. Im übrigen,
als absoluter Herrscher würde ich das Vril einfach abschaffen und
verbieten, außer natürlich im Kriege! Apropos, der Krieg; es
ist völlig absurd, ein so intelligentes, reiches und wohlbewaffnetes
Volk nur auf ein verhältnismäßig so kleines Gebiet zu beschränken!
Diese Beschränkung ist doch
wirklich nur eine philosophische Grille, die zu der ehrgeizigen menschlichen
Natur einfach im Widerspruch steht, ähnlich wie dies bei uns auf der
Erdoberfläche von allerhand Pazifisten vergeblich versucht worden
ist. Natürlich würde man so moralisch und
anständig sein, nicht gegen
Nachbarstaaten Krieg zu führen, solange sie gleich gut und sorgfältig
bewaffnet sind wie man selbst. Aber wie wäre es mit der «kulturellen
Erschließung» jener Regionen, deren Rassen die Vrilwaffe noch
nicht besitzen und die in ihren demokratischen Einrichtungen ja Amerika
ziemlich ähnlich zu sein scheinen!
Man könnte unter Umgehung der
Vrilstaaten in solchen unbewaffneten Ländern einfallen, sich ihres
Gebietes bemächtigen und die eigene Herrschaft solcherart schließlich
bis in die fernsten Regionen ausdehnen, kurz, ein Reich gründen, in
dem die Sonne nie untergeht! (In meiner
Begeisterung vergaß ich sogar,
daß es in diesen Regionen überhaupt keine Sonne gibt, die untergehen
könnte.)
Was die phantastische Vorstellung
dieser Leute anbelangt, dachte ich weiter, daß keiner hervorragenden
Persönlichkeit Titel und Ruhm verliehen werden solle, bloß weil
Ehrenbezeugungen durch die Jagd nach ihnen zu Streitigkeiten führten,
die übelsten Leidenschaften ordentlich aufwühlten und den Frieden
in Krieg verwandelten eine solche Ansicht widerspricht aber doch völlig
nicht nur den Trieben des Menschen, sondern sogar auch den Trieben der
Tiere, denn selbst das Tier lechzt, wenn es gezähmt wird, nach handgreiflichem
Lob und Belohnung.
Welch ein Ruhm würde einem
Herrscher verliehen werden, welcher sein Reich so riesig vergrößerte!
Man würde mich bestimmt für einen Halbgott ansehen!
Ich überlegte in meiner Begeisterung
außerdem, wie ich am besten das ganze Leben hier nach demjenigen
einrichten könnte, das wir modernen Vertreter der Religiosität
auf der Erdoberfläche für das einzig richtige halten, wenn wir
es auch noch nicht gerade einer näheren Prüfung unterzogen haben.
Ich war mir klar darüber, daß es nach unserer aufgeklärten
Philosophie unbedingt notwendig sein wird, eine so anders geartete Religion,
wie sie hier herrschte, von Grund auf zu bekämpfen und auszurotten,
zumal deren mystischer Aberglauben doch zu unserer modernen Weltauffassung
und den sich daraus ergebenden praktischen Gesichtspunkten des Handelns
so sehr in Widerspruch stehe.
Als ich so über die vernünftige
Reformierung dieses Landes im Geiste der Welt auf der Erdoberfläche
nachsann, da fühlte ich auch, wie gern ich eigentlich meine geistigen
Kräfte in diesem Augenblick durch ein Glas WhiskySoda oder ein Fläschchen
Likör angefeuert hätte. Nicht daß ich
für gewöhnlich ein großer
Liebhaber geistiger Getränke bin, aber es gibt doch wirklich Zeiten,
wo solch ein kleiner Ansporn alkoholischen Geistes, unterstützt durch
eine gute schwere Zigarre, die Einbildungskraft belebt. Ja, sicher konnte
man aus den Kräutern und Früchten hier einen Saft ziehen und
daraus einen anregenden, prächtigen Wein oder Likör gewinnen;
dazu ein köstliches rotes Tatarbeefsteak, aus dem Fleisch dieser vorsintflutlichen
Tiere geschnitten! Übrigens, welch eine Beleidigung unserer
gelehrtesten Wissenschaft, daß man hier die Fleischnahrung ablehnt,
wo unsere aufgeklärtesten Mediziner Fleisch doch als ein in vieler
Hinsicht so anregendes Nahrungsmittel empfehlen! Kurz, man würde die
leibliche Grundlage des ganzen Lebens hier auf eine viel bessere und richtigere
Basis stellen. Außerdem werde ich natürlich, sobald ich ersteinmal
an die Herrschaft komme, statt der veralteten Dramen, die von kindischen
Amateuren gespielt werden, unsere modernsten Operetten und ein tüchtiges
Corps de ballet einführen, wofür man sicher unter den eroberten
Völkern junge Mädchen finden wird, die nicht so riesenhaft wie
die Gyei, nicht mit Vril bewaffnet sind und nicht unbedingt darauf bestehen,
daß man sie heiraten soll.
Ich war vollständig versunken
in solche und ähnliche politische, soziale und moralischsittliche
Reformen, die geeignet sein würden, diesem Volke der Unterwelt den
Segen der Errungenschaften unserer oberirdischen Zivilisation darzubringen
so daß ich erst durch ein plötzliches
Geräusch meine Augen aufschlug
und Zee in meinem Zimmer bemerkte.
Ich kam zu der Ansicht, daß
eine Gy, scheinbar den Frauenrechten entsprechend, ohne daß es für
unanständig gehalten wird, in das Zimmer eines An eintreten kann,
obgleich man einen An sicher im höchsten Grade für dreistund
unbescheiden halten würde, wenn er einfach das
Gemach einer Gy betritt, ohne vorher
um Erlaubnis gefragt zu haben. Glücklicherweise war ich noch in derselben
Kleidung, die ich beim Versinken in den unfreiwilligen Schlaf trug. Nichtsdestoweniger
war ich über ihren Besuch wütend, und fragte sie in strengem
Tone, was sie wolle.
« Sprechen Sie, bitte, etwas
sanfter, mein Lieber», sagte sie, «ich habe nicht geschlafen,
seit wir die Gesellschaft verließen.» «Ich kann mir gut
vorstellen, daß Ihr unglaubliches Betragen gegen mich, Ihres Vaters
Gast, hinreicht, um Sie schlaflos zu machen. Wo war die Zuneigung, die
Sie für mich zu empfinden behaupten, wo blieb überhaupt die Zuvorkommenheit,
deren sich Ihre Landsleute doch so rühmen, als Sie die Überlegenheit
an physischen Kräften, durch die Ihr Geschlecht hier das unsere übertrifft,
und als Sie diese furchtbaren Vrilkräfte in Ihren
Augen und Händen benutzten,
um mich vor allen versammelten Gästen, vor ihrer Königlichen
Hoheit, der Tochter Ihres Staatsoberhauptes einer derartig unangenehmen
Situation auszusetzen, mich wie ein unartiges Kind zu Bett zu bringen und
mich in Schlaf zu versenken, ohne meine Erlaubnis erst zu erfragen?»
«Sie sind sehr undankbar!
Glauben Sie, daß ich gleichgültig zusehen konnte bei den Gefahren,
denen die verwegenen Schwärmereien dieses jungen Kindes Sie ausliefern
würden?»
«Halt! Da Sie gerade auf Gefahren
zu sprechen kommen, darf ich mir vielleicht erlauben, Sie darauf aufmerksam
zu machen, daß die allergrößte Gefahr mir von Ihnen selbst
droht, oder wenigstens drohen würde, wenn ich auf Ihre Werbungen einginge.
Ihr Vater hat mir versichert, daß ich
dann hoffnungslos in ein Häufchen
Staub verwandelt werden müßte, mit derselben Harmlosigkeit,
als wenn ich das Ungetüm wäre, das Tae mit einem Blitzstrahl
seines Stabes zu Asche verbrannte.»
«Aber», sagte Zee, «dieses
Land ist ja nicht die ganze Welt, ich würde um Ihretwillen gern auf
dies Land und dies Volk verzichten. Wir könnten ja in irgendeine Gegend
fliegen, wo Sie sicher sind. Ich bin kräftig genug, Sie auf meinen
Flügeln über die Wüste zu tragen. Ich bin geschickt
genug, um Felsen spalten zu können,
um Täler herzustellen und uns darin ein Haus zu bauen. Oder wollen
Sie etwa gar zurückkehren in Ihre Oberwelt, wo doch ein scheußlicher
Witterungswechsel ist und nur diese dauernd veränderlichen Himmelskörper
leuchten, die nach Ihrer Beschreibung einen so unruhigen Charakter haben.
Sollten Sie dorthin wollen, so sagen Sie nur ein Wort, ich werde Ihnen
einen Rückweg erzwingen und Sie überallhin begleiten.»
Ich konnte nicht umhin, tief ergriffen
zu sein durch die offenherzige und selbstlose Anhänglichkeit, welche
durch solche Worte zum Ausdruck kam, und weil alles mit jener musikalischen
Stimme gesprochen war, die den rauhesten Worten einen wohltuenden Klang
verleiht. Nur einen
Augenblick fuhr mir der Gedanke
durch den Kopf, mit Zees Hilfe einen sicheren und schnellen Rückweg
in die Oberwelt zu gewinnen. Aber ein ebenso kurzes Nachdenken überzeugte
mich, wie rücksichtslos und ehrlos es doch wäre, eine solche
tiefe Ergebenheit damit zu vergelten, aus einem Lande und von einem Volke,
das mir so sehr gastfreundlich gewesen war, jemanden zu entführen,
für den meine Oberwelt gewiß eine Qual sein würde und für
dessen mehrgeistige Neigung ich mich nicht entschließen konnte, auf
eine mehr menschliche Neigung zu verzichten, die nicht
so hoch über meinem sündigen
Selbst stand. Mit diesem Gefühl der Pflicht gegenüber der Gy
verband sich auch ein Gefühl der Pflicht gegenüber meiner Rasse.
Konnte ich es wagen, in die Welt auf der Erdoberfläche ein Wesen
einzuführen, das mit so furchterregenden Fähigkeiten ausgestattet
ist, ein Wesen, das mit einer Bewegung seines Stabes in weniger als
einer Stunde ganz New York und seinen glorreichen KoomPosh in ein Häufchen
Staub umzuwandeln vermochte? Raubte man ihr aber den einen Stab, so würde
sie mit ihren Kenntnissen sofort einen zweiten anfertigen können,
und von den schreckenerregenden Naturkräften, mit welchen dieser Stabmechanismus
geladen wurde, war ihr ganzer Körper erfüllt! Konnte also jemand,
der für ganze Städte und Völkerschaften jener Welt auf der
Erdoberfläche eine drohende Gefahr darstellte, jemals ein sicherer
Lebensgefährte für mich sein, gar nicht zu denken an Fälle
von Meinungsverschiedenheit oder Eifersucht? Diese Gedanken, welche auszudrücken
es so vieler Worte bedarf, schossen mir rasch durch den Kopf und diktierten
meine Antwort.
«Zee», sagte ich in
dem sanftesten Tone, den ich anzuschlagen vermochte, und indem ich ihr
vorsichtig und zart die Hand küßte, «ich kann keine Worte
finden, um zu sagen, wie tief ich gerührt bin und wie hochgeehrt ich
mich durch eine so selbstlose und aufopfernde Zuneigung fühle. Ich
kann sie nicht besser erwidern als durch volle Aufrichtigkeit. Jedes Land
hat seine Sitten; die des Ihrigen machen eine Heirat zwischen uns zur Gefahr,
die des meinigen aber gleichfalls. Andererseits kann ich, obgleich ich
unter meinen Freunden für sehr tapfer gelte und es in bisher erlebten
Gefahren wohl auch war, mir doch nicht ohne einen Schauder des Entsetzens
Flitterwochen ausmalen, die sich in einer wüsten Einöde abspielen
müßten, im Kampf mit allen Naturgewalten des Feuers, des Wassers,
mit erstickenden Vulkanausbrüchen, auch mit der Möglichkeit,
daß, während Sie mit dem Spalten von Felsen oder dem Anzünden
künstlicher Beleuchtung beschäftigt sind, irgendein Krokodil
oder gar Riesensalamander, der dadurch in seiner Ruhe gestört wird,
mich wütend in seinen Rachen schlürft.
Ich, nur ein Halbwilder, verdiene
nicht die Liebe einer so schönen, so gelehrten und machtvollen Gy
wie Sie, denn ich kann sie auf keinem Gebiete erwidern.»
Zee richtete sich auf, wandte sich
um und ging zur Tür.
An der Schwelle blieb sie plötzlich
stehen und, wie wenn ihr ein neuer Gedanke gekommen wäre, drehte sie
sich um und fragte:
«Sie sagten vorhin, Sie wollten
ganz offen sprechen. Dann beantworten Sie mir auch diese Frage: Vielleicht
lieben Sie hier jemand anderen?»
«Nein, wirklich nicht!»
«Wohl auch nicht Taes Schwester?»
«Ich sah sie gestern abend
zum erstenmal.»
«Das ist keine Antwort. Glauben
Sie nur nicht, daß es etwa Eifersucht ist, wenn ich Sie vor folgendem
warne: Wenn die Tochter des Tür sich in Sie verlieben sollte und in
ihrer Ahnungslosigkeit ihrem Vater etwas Derartiges beichtet so wird
ihm als Staatsoberhaupt nichts anderes
übrigbleiben, als Ihre sofortige
Verwandlung in Asche zu verlangen, da er ja vor allem für das Staatswohl
verantwortlich ist, welches eine solche Ehe mit Ausländern bekanntlich
verbietet. Und für Sie gäbe es dann keine Möglichkeit zur
Flucht. Denn dieses junge Mädchen hat noch
nicht genügend Kraft, Sie auf
ihren Flügeln durch die Luft zu tragen, und nicht genügende Kenntnisse,
um Ihnen in der Wildnis eine Ruhestätte zu bauen. Glauben Sie mir,
daß ich Ihnen dies nicht etwa aus Eifersucht, sondern nur aus Freundschaft
sage!»
Mit diesen Worten verließ
sie das Zimmer. Als ich mir die ganze Situation ins Gedächtnis rief,
da verzichtete ich sogar darauf, den Thron der Vrilya zu besteigen und
unter meiner Herrschaft nach dem Muster unserer oberirdischen zivilisierten
Welt unsere politischen, sozialen und moralischen Reformen glorreich in
dieses neue Land zu tragen.
24. KAPITEL
Nach dieser Unterhaltung verfiel
ich in tiefe Nachdenklichkeit. Ich konnte das Leben dieses außergewöhnlichen
Volkes nicht mehr mit einer unbefangenen Neugierde beschaulich beobachten,
denn ich vermochte den Gedanken nicht mehr zu bannen, daß ich unter
Menschen weilte, die trotz ihrer Liebenswürdigkeit und Höflichkeit
es doch jeden Augenblick für notwendig halten konnten, mich zu zerstören.
Das friedliche und vorbildliche Leben dieser Leute, das mir, solange es
für mich neu war, als ein erstrebenswerter Kontrast zu den Kämpfen,
Leidenschaften und
Lastern der Welt auf der Erdoberfläche
erschienen war, konnte mich auf die Dauer mit seiner Gleichmäßigkeit
und Einförmigkeit auch nicht befriedigen. Sogar die ständige
Ruhe der Luft und des Klimas bedrückte mich. Ich sehnte mich nach
einem Wechsel, ja sogar nach einem Winter, nach Sturm und Finsternis. Ich
fühlte es jetzt: Wenn auch unsere Träume von Vollkommenheit in
rastloser Suche nach einem besseren, einem ruhigeren Zustande hinstreben,
sind wir doch als Sterbliche auf der Erdoberfläche gar nicht dafür
geeignet und reif, uns für längere Zeit an diesem ersehnten Zustande
wirklich zu freuen oder ihn zu genießen.
Nun hatte doch eigentlich dieses
Staatswesen der Vrilya nahezu alle Postulate unserer verschiedensten philosophischen
Meinungen in einem einzigen System wirklich vereinigt und durchgeführt.
Es war ein Staat, in dem kein Krieg mehr möglich war, ein Staat, in
dem die Freiheit eines jeden einzelnen bis zur Grenze der Möglichkeit
verwirklicht schien, ein Staat, in dem alle diese Streitigkeiten nicht
existieren, welche die Freiheit bei uns zum ständigen Spielball parlamentarischer
Parteikämpfe machen, ein Staat, in dem die Korruption, welche unseren
Demokratien den
Stempel aufdrückt, ebenso unbekannt
war als die Intrigen, welche die Throne der Monarchien ins Wanken bringen.
Gleichheit war nicht nur ein phrasenhaftes
Postulat, sondern Wirklichkeit. Die Reichen wurden nicht verfolgt, weil
man sie nicht beneidete. Eine Arbeiterklasse gab es nicht wie bei uns,
weil fast alle Arbeit von Mechanismen verrichtet wurde. Mechanische Erfindungen,
welche auf Prinzipien beruhen, die ich leider nicht anschaulich machen
kann, arbeiteten mit Naturkräften, die unendlich viel wirksamer und
leichter zu handhaben sind, als wir sie jemals aus Elektrizität oder
Dampf zu gewinnen vermochten.
Kinder konnten die noch übrigbleibenden
Handgriffe leicht beaufsichtigen, wurden dabei nicht einmal angestrengt,
sondern liebten sogar diese Beschäftigung als Spiel und Zeitvertreib.
Und diese Arbeit genügte, um einen allgemeinen Wohlstand zu erzeugen,
an dem jeder Mensch
teilnahm, so daß es überhaupt
keine Unzufriedenen gab.
Die Verbrechen, die in unseren Städten
überhandnehmen, faßten dort gar nicht Fuß. Es gab einen
Überfluß an Vergnügungen, aber sie waren stets unschuldiger
Art. Keine Möglichkeit zu Betrunkenheit und Schwelgereien, die zu
Krankheiten führen. Liebe existierte, und zwar heftig, aber sie ging
immer gut aus. Ehebrecher, Lasterhaftigkeiten und Prostitution waren so
unbekannte Phänomene, daß man, selbst um die Worte dafür
zu finden, eine veraltete Literatur von vergangenen Jahrtausenden zu Rate
ziehen müßte. Alle, die sich je mit dem Studium der philosophischen
Lehrmeinungen bei uns befaßten, wissen ja zwar, daß selbst
die Abweichungen vom zivilisierten Leben letztlich zur Realisierung bestimmter
Ideen beitragen können, auch wenn diese Ideen vorher noch so viel
verfochten, umstritten, bekämpft oder lächerlich gemacht worden
sind. Aber bei uns war die wirkliche Herbeiführung solcher idealer
Zustände teilweise zwar versucht, teilweise in phantastischen Büchern
verlangt worden, nie aber war man bisher zu irgendwelchen praktischen Resultaten
gelangt. Hier dagegen waren alle diese Schritte getan, und sogar noch viel
mehr.
Was schon Descartes verfocht, daß
nämlich das Leben des Menschen willkürlich verlängert werden
könne, wenn auch nicht zu ewigem Leben auf dieser Erde, doch bis zu
einem patriarchalisch hohen Lebensalter von etwa hundert Jahren, das war
hier Wirklichkeit geworden. Ja, dieser philosophische Traum war sogar übertroffen,
denn die Fülle gesundester Lebenskraft hielt bei diesem Volke in voller
Stärke bis zu einem Alter von über hundert Jahren an.
Mit diesem hohen Lebensalter war
also ein noch größerer Segen verknüpft der Segen
vollständiger Gesundheit. Die Krankheiten, soweit sie bei dieser Rasse
überhaupt noch auftraten, wurden durch die wissenschaftliche Anwendung
jener ebenso lebenserkraftenden wie lebenzerstörenden Naturkräfte,
die dem Vril innewohnen, mit Leichtigkeit beseitigt. Diese Idee ist ja
auch bei uns auf der Erdoberfläche nicht unbekannt, obgleich sie leider
meist nur von Enthusiasten oder Phantasten aufgegriffen worden ist und
von uns bisher nur mit so völlig unklaren und verschwommenen Begriffen,
wie Mesmerismus, Od, Magnetismus und dergleichen abgetan wurde und deshalb
unerkannt blieb. Über die dort so allgemeine Verwendung von Flügeln
zum Fliegen denkt allerdings bei uns noch jeder Schuljunge heutzutage,
daß so etwas nur im vorsintflutlichen Altertum versucht wurde und
unmöglich sei. Aus all diesen Gründen ist es gewiß nicht
zu leugnen, daß die Lebensführung bei den Vrilya unvergleichlich
viel glücklicher ist als bei irgendwelchen Rassen auf Erden. Denn
sie haben ja alle die Postulate unserer konsequentesten Philantropen verwirklicht,
ja, ihr Zustand nähert sich jener Art überirdischer Vollkommenheit,
wie sie sich in den Köpfen unserer Dichter und Denker oft darstellt.
Und doch, wenn du tausend der vollendetsten und gelehrtesten lebenden Menschen
aus London, Paris, Berlin, New York oder Boston heraussuchen und sie jetzt
in dieses von ihnen ersehnte Land hineinversetzen würdest, ich glaube
bestimmt, daß in weniger als einem Jahr sie entweder vor Verständnislosigkeit
und Langeweile sterben oder irgendeinen Aufruhr zu inszenieren versuchen
würden, um sich gegen das Wohl der Gemeinschaft aufzulehnen; woraufhin
sie natürlich auf Befehl des Tür zu Asche verbrannt werden müßten.
Ich habe andererseits mit dieser
ganzen Erzählung gewiß nicht die Absicht gehabt, jener Rasse,
zu der ich gehöre, irgendwelche Unhöflichkeiten zu sagen. Ich
habe ja im Gegenteil mich bemüht, den Beweis zu liefern, daß
die Prinzipien, auf denen das soziale System der Vrilya beruht, es dort
unmöglich machen, daß so hervorragende individuelle Persönlichkeiten
aufkommen können, wie sie die Annalen der Welt auf der Erdoberfläche
zieren. Wo es keinen Krieg gibt, da kann es natürlich auch keinen
Hannibal, keinen Washington, Napoleon, Friedrich den Großen oder
sonstige hervorragende Heerführer geben. Wo die Staaten so glücklich
sind, daß sie keinen Wechsel ihres Zustandes mehr wünschen,
da kann es auch keinen Demosthenes, Robespierre, Metternich oder sonstige
hervorragende Staatsmänner geben, und wo es eine Lebensführung
gibt, in der keine Verbrechen und Sorgen mehr auftreten, die als Elemente
einer dramatischen Tragödie, und in der auch keine Verrücktheiten
und Schelmereien mehr vorkommen, die als Elemente einer satirischen Komödie
dienen könnten, da kann es wohl auch keinen Shakespeare oder Moliere
geben.
Es ist also durchaus nicht meine
Tendenz, meine Mitmenschen auf der Erdoberfläche nur zu tadeln, wenn
ich zeige, daß in einer Gemeinschaft voll Kampf und Streit auch die
Motive zu individualisierenden Energien und zu persönlichem Willen
erwachsen welche einschlafen und
in dieser Art unmöglich sind
in einer Umgebung, wo völlige Harmonie und schuldloses Glück
vorherrschen, was wir ja meist für das einzige Los der seligen Unsterblichen
zu halten pflegen. Ich will auch nicht einmal die Gemeinschaft der Vrilya
als eine Idealform des sozialen Organismus hinstellen, die wir bei uns
in dieser Art anstreben sollten. Im Gegenteil, da wir durch die Jahrtausende
hindurch eine völlig andere Struktur des menschlichen Charakters heranentwickelt
haben, so würde es für uns völlig unmöglich sein, etwa
plötzlich diese Lebensformen übernehmen zu wollen, oder den Versuch
zu machen, unser leidenschaftsdurchsetztes Temperament in diese Gedankenformen
der Vrilya einspannen zu wollen. Ich kam deshalb zu der Überzeugung,
daß die Vrilya zwar ein Entwicklungsstadium der menschlichen Rasse
darstellen, wie es aus unserer arischen Urmenschheit heraus sich zu bilden
vermag, aus welchem gemeinsamen Stamme ja die großen Zivilisationen
dieser Erde entsprangen, und daß sie auch gewiß einst durch
derartige Entwicklungsstadien durch gegangen sind, die unserem jetzigen
Zustand auf der Erdoberfläche entsprechen, daß sie sich aber
andererseits doch in einen Zustand hineinentwickelt haben, mit dem wir
Menschen von heute gewiß nicht eins werden sollen. Deshalb fürchte
ich auch, daß, wenn jemals diese Rasse in den Welten des Tageslichts
in Erscheinung treten sollte, sie ihrer eigenen traditionellen Überzeugung
gemäß die jetzt lebenden Arten der Menschheit auslöschen
und durch andere ersetzen würden.
Die Vrilya würden bei ihrem
Auftauchen durch die Verlockungen jener Sonnenstrahlen, wie wir sie erleben,
sicher verleitet werden, ihren dauernden Wohnsitz auf der Erdoberfläche
errichten zu wollen, und sie würden sofort auch das Werk der Zerstörung
beginnen, die bereits zivilisierten Gebiete in Besitz nehmen und ohne Bedenken
alle Insassen beiseite bringen, die ihren Absichten widerstehen sollten.
Und wenn ich nun an ihre Verachtung für die primitiven Staatsformen
des KoomPosh oder der Mehrheitsregierungen denke, andererseits an den Selbstbehauptungssinn
meiner amerikanischen Landsleute, dann graut mir vor dem ersten Auftauchen
der Rasse Vrilya im Lande Amerika und da dies das entwickeltste Land
ist, so wird dort sicher der Ausgangspunkt sein. Ja, wenn es dann
heißen sollte:« Diesen Teil der Erdoberfläche wollen wir
jetzt bewohnen, Bürger eines KoomPosh, weicht der Herrschaft einer
Rasse von Vrilya!» so würde, selbst wenn meine Landsleute dies
bekämpfen wollten, doch nach kürzester Zeit niemand mehr am Leben
sein, um sich um die alten Fahnen zu sammeln. Das waren so meine Gedanken.
Ich sehnte mich jetzt, nach der
Oberwelt zu entfliehen, aber vergebens sann ich auf Mittel zur Ausführung.
Da man mir niemals erlaubte, allein das Haus zu verlassen, so konnte ich
nicht einmal jene Stelle aufsuchen, von wo ich hierhergekommen war, um
zu sehen, ob eine Rückehr
auf dem gleichen Wege wohl möglich
sei. Nicht einmal in den Stillen Stunden, wenn alles schlief, konnte ich
mein in einem höheren Stockwerk gelegenes Zimmer verlassen.
Denn die menschenähnlichen
Automaten, die meiner Befehle spottend an den Wänden herumstanden,
verstand ich nicht in Bewegung zu setzen, auch wußte ich nicht, wie
die Maschinerie der Platten bedient werden muß, welche die Treppen
zum Abstieg ersetzen. Die Kenntnis all dieser Mechanismen war mir sicher
absichtlich vorenthalten worden. Ach, hätte ich doch wenigstens gelernt,
die Flügel zum Fliegen zu gebrauchen, deren sich jedes Kind hier bediente,
dann wäre es leicht gewesen, aus dem Gefängnis zu fliegen, die
Felsen zu erreichen und die ungangbarsten Schluchten zu ersteigen, die
mich jetzt an der Flucht gar grausam verhinderten!
25. KAPITEL
Eines Tages, als ich einsam im Zimmer
saß und in Gedanken versunken war, kam Tae durch das offene Fenster
hereingeflogen und ließ sich neben mir nieder. Ich freute mich stets
über den Besuch dieses Knaben. Da es mir gestattet war, in seiner
Gesellschaft das Haus zu verlassen und ich im stillen nach einer Gelegenheit
suchte, eine Stelle für meine Rückehr zur Oberwelt zu entdecken,
fragte ich ihn sogleich, ob er Lust habe, mich auf einem Spaziergang durch
die Umgegend zu begleiten. Sein Gesichtsausdruck schien mir ernster denn
sonst, als er sagte:
«Ich kam in der Absicht hierher,
Sie dazu aufzufordern.»
Bald befanden wir uns auf der Straße.
Als ich mich umwandte, sah ich das Staatsoberhaupt mit dem den Vrilya eigenen
ruhigen und sicheren Schritt auf uns zukommen. Bei dem Anblick dieses Gesichtes
durchlief mich die gleiche Furcht, die mich schon beim ersten Male so stark
in Bann hielt. Auf dieser Stirn, in diesen Augen lag jenes gleiche unbeschreibliche
Etwas, welches kundtat, daß diese Rasse für die unsrige etwas
Schicksalbeschwörendes hat dieser seltsame Ausdruck des erhabenen
Bewußtseins, frei zu sein von unseren gewöhnlichen Sorgen und
Leidenschaften, und eine überlegene Macht zu beherrschen, welche mitleidsvoll,
aber unerschütterlich ist, gleich der eines Richters, der das Urteil
zu sprechen hat. Ich erbebte und, nach einer tiefen Verneigung, drückte
ich den Arm meines jugendlichen Freundes und zog ihn fort. Der
Tür stand einen Augenblick
noch unmittelbar vor uns, schaute mich kurz und wortlos an, dann drehte
er sich gemessen beiseite und ging schweigend fort.
26. KAPITEL
Als Tae und ich wieder allein auf
der Straße dahinwanderten, die von der Stadt aus in der Richtung
der Kluft führt, durch welche ich einstmals herabgekommen war in diese
Regionen ohne Sonne und Gestirne, da sagte ich mit unterdrückter Stimme:
«Mein kleiner Freund, es liegt ein
Ausdruck in Ihres Vaters Antlitz,
der mich erschrecken läßt. Mir ist bei dem Anblick dieser furchterregenden
Ruhe, wie wenn ich den Tod anschaute.»
Tae antwortete nicht sogleich. Er
schien auch erregt und wie im Kampf mit sich selbst, durch welche Worte
er mir eine unangenehme Nachricht am mildesten beibringen könne. Endlich
sagte er:
«Bei den Vrilya hat man keine
Furcht vor dem Tod fürchten Sie ihn?»
«Der Menschenrasse, der ich
angehöre, ist die Furcht vor dem Tode wohl angeboren. Wir können
diese Furcht besiegen, wenn Pflicht, Ehrgefühl oder Liebe uns beseelt.
Wir können freiwillig sterben für etwas, das wir für wahr
halten, auch für unser Vaterland, oder für Menschen, anderen
Leben uns mehr liegt als an uns selbst. Aber wenn der Tod uns sonst bedroht,
wo sind dann diejenigen Kräfte in uns zu finden, welche jene Furcht
überwinden, mit der instinktiv der Gedanke einer Trennung von Leib
und Seele verknüpft ist?»
Tae schaute mich nur erstaunt an.
Aber es lag sehr viel Mitleid in seiner Stimme, als er nun sagte: «Ich
werde meinem Vater erzählen, was Sie gesagt haben, und ihn bitten,
Ihr Leben zu schonen.»
«So hat er also schon beschlossen,
es zu zerstören?»
«Es ist meiner Schwester Schuld
oder Torheit», sagte Tae, etwas beunruhigt, «aber sie sprach
heute früh mit meinem Vater über Sie, und nachdem dies vorüber
war, rief er mich zu sich, als den obersten unter den Kindern, die mit
dem Zerstören alles schädlichen und gefährlichen
Lebens betraut sind, und sagte zu
mir: ,Nimm deinen Vrilstab und suche den Fremdling auf, den du so hoch
schätzest. Sein Ende sei schmerzlos und sicher.'»
Ich wich vor dem Knaben zurück
und stammelte nur:
«Und Sie haben mich also verräterisch
hier herausgelockt, um mich dann zu ermorden ? Ein solches Verbrechen kann
ich Ihnen nicht zutrauen.»
«Es ist an sich kein Verbrechen,
diejenigen zu töten, die dem Wohl der Gemeinschaft gefährlich
sind. Es würde nur ein Verbrechen sein, das geringste Insekt zu töten,
das uns nicht schädlich ist.»
«Wenn Sie fürchten, daß
ich das Wohl der Gemeinschaft bedrohe, weil Ihre Schwester mich mit einer
gewissen Bevorzugung ehrt, wie sie ein Kind für ein neuartiges Spielzeug
empfinden mag, so ist es trotzdem nicht notwendig, mich zu töten.
Lassen Sie mich zu meiner eigenen Rasse zurückehren, durch die Schlucht,
von welcher ich einstmals hierherkam. Wenn Sie mir bloß ein klein
wenig helfen, wäre dies jetzt leicht möglich. Sie brauchen ja
nur mit Hilfe Ihrer Flügel das Tau, das Sie gewiß aufbewahrt
haben, am oberen Ende der Schlucht zu befestigen. Tun Sie nur dies; führen
Sie mich zu der Stelle, an der ich herabkam, und ich verschwinde für
immer aus Ihrer Welt, so sicher als ob ich unter den Toten weilte.»
«Die Schlucht, durch die Sie
hierhergekommen sind? Schauen Sie sich um! Wir stehen jetzt genau an der
Stelle, wo sie sich einst öffnete. Was sehen Sie? Nur feste Felsen!
Die Kluft wurde auf Befehl Aph-Lins geschlossen, sobald eine Verständigung
zwischen ihm und Ihnen während Ihrer Bewußtlosigkeit hergestellt
war, und er erfuhr in diesem Zustande von Ihnen selbst, wie die Welt, aus
der Sie kommen, geartet ist. Entsinnen Sie sich nicht, wie Zee mich bat,
Sie nicht über Ihre Person oder Rasse zu befragen? Als ich Sie an
jenem Tage verließ, da rief mich Aph-Lin zu sich und sagte: ,Kein
Weg zwischen der Welt des Fremdlings und der unsrigen darf offen bleiben,
sonst könnten die Sorgen und Leidenschaften jener Welt auch zu uns
dringen. Nimm einige Kinder mit dir, und bearbeitet die Wände der
Schlucht mit euren Vrilstäben so lange, bis sie eingestürzt und
geschlossen ist, damit niemals ein Strahl unseres Lichtes nach dorthin
gelange.'»
Während der Knabe sprach, starrte
ich entsetzt auf die undurchdringlichen Felsen vor mir. Hohe und unregelmäßige
Steinmassen, deren brandige Färbung noch anzeigte, wo sie verschüttet
waren, ragten vom Boden bis in die höchsten Höhen hinauf. Nirgends
mehr eine einzige
Spalte!
«So ist also alle Hoffnung
dahin», murmelte ich und sank auf dem steinigen Wege zu Boden, «und
nie werde ich unser Sonnenlicht wiedersehen.» Ich bedeckte mein Gesicht
mit den Händen und betete zu jenem Gott, dessen Existenz ich sonst
meistens vergaß, wenn auch sein Werk deutlich genug zu uns spricht.
In der Tiefe einer unbekannten Welt und am Rande des Grabes erst fühlte
ich seine Wirklichkeit. So gestärkt, schaute ich auf, faßte
Mut und, indem ich mit einem ruhigen Lächeln meinem Begleiter ins
Gesicht sah, sagte ich:
«Nun, wenn Sie mich töten
müssen, so tun Sie es!»
Ruhig schüttelte Tae seinen
Kopf: «Nein, meines Vaters Befehl ist nicht so eindeutig gegeben,
daß mir gar keine Wahl bliebe. Ich werde noch einmal mit ihm sprechen,
und vielleicht kann ich Sie retten. Seltsam, daß Sie diese Furcht
vor dem Tod haben, die wir nur dem Instinkt der
niedrigeren Geschöpfe zuschreiben,
welche das Bewußtsein von einem Leben nach dem Tode nicht haben.
Bei uns kennt kein Kind diese Furcht. Sagen Sie, lieber Tish», meinte
er nach einer kurzen Pause, «würde es Ihnen vielleicht leichter
fallen, das jetzige Leben mit dem Leben, das jenseits der Todespforte liegt,
zu vertauschen, wenn ich Sie dabei begleitete? Wenn Ihnen das leichter
ist, brauche ich nur meinen Vater zu fragen, ob ich Sie begleiten darf.
Ich bin ja ohnehin einer von denjenigen meiner Generation, welche auswandern
in die unbekannten Gebiete der
Erde. Ich würde ebenso leicht
und gern auswandern in die unbekannten Gebiete einer außerirdischen
Welt. Gott ist ebenso dort wie hier. Wo ist er nicht?»
«Kind», sagte ich zu
Tae, da ich sah, daß er durchaus im Ernst sprach, «ich halte
es für ein Verbrechen, wenn Sie mich töten, ich würde es
aber auch für ein Verbrechen halten, wenn ich von Ihnen verlangen
wollte, sich selbst zu töten. Die Vorsehung setzt doch wohl die Zeit
unserer
Geburt und die Zeit unseres Todes
fest. Gehen wir nach Hause. Wenn Ihr Vater, bei Ihrer Rücksprache
mit ihm, meinen Tod beschließt, geben Sie mir, bitte, nur eine Warnung,
so früh als es möglich ist, damit ich wenigstens eine kurze Zeitspanne
habe, mich auf den Tod vorzubereiten.»
Wir gingen zur Stadt zurück,
nur von Zeit zu Zeit ein Wort miteinander wechselnd. Wir konnten ein jeder
des anderen Gedankenwelt nicht verstehen. Ich fühlte mich gegenüber
diesem Knaben mit seiner sanften Stimme und seinem schönen Antlitz,
wie ein Überführter demjenigen
gegenüber fühlt, der die
Gesetze kennt, ausführt und den Weg zum Richtplatze weist.
27. KAPITEL
Inmitten jener Stunden, die dem
Schlaf vorbehalten sind und bei den Vrilya das Wesen der Nacht ersetzen,
wachte ich auf. Ich wurde in meinem kurzen Schlummer durch eine Hand geweckt,
die meine Schulter berührte. Ich fuhr erschreckt auf und sah Zee neben
mir stehen. «Still», sagte sie flüsternd, «daß
niemand uns hört. Glaubst du, daß ich aufgehört habe, über
dich zu wachen, weil ich deine Liebe nicht gewinnen konnte? Ich habe Tae
gesprochen. Er hat nichts bei seinem Vater ausgerichtet, der unterdes mit
drei Gelehrten verhandelt hat, deren Rat er in solchen Dingen erfragt,
und auf ihr Anraten hin hat er dich mit dem Wiedererwachen der Welt zum
Tode verurteilt. Ich werde dich retten. Steh auf und zieh dich an!»
Zee deutete auf einen Tisch, auf
dem die Kleider lagen, in denen ich aus meiner Welt herübergekommen
war und die ich unterdes gegen die malerischen Kleider der Vrilya vertauscht
hatte. Die junge Gy ging dann aufs Fenster zu und betrat den Balkon, während
ich hastig und erstaunt
meine eigenen Kleider anzog. Als
ich sie auf dem Balkon wiedertraf, war ihr Gesicht ruhig und starr. Sie
nahm mich bei der Hand und zog mich zurück ins Zimmer, dann auf den
Korridor, von wo wir in die Halle hinabfuhren. Wir betraten nun die verlassenen
Straßen, dann den breiten
Weg, der sich an den Felsen entlangschlängelt.
In dieser Landschaft, wo es weder Tag noch Nacht gibt, sind die Stillen
Stunden von seltsamer Feierlichkeit der weite Raum, der durch das
Geschick der Sterblichen künstlich erleuchtet wird, ist in solcher
Zeit ganz ohne die geringsten
Zeichen und Laute des Lebens. So
leise unsere Fußtritte auch waren, berührte ihr Laut das Ohr
doch hart und störte das Harmonische der umfassenden Ruhe. Obgleich
Zee nichts gesagt hatte, war ich innerlich sicher, daß sie entschlossen
war, mir zur Flucht in die Welt der Erdoberfläche zu helfen, und daß
wir jenem Punkte zuschritten, von dem ich einstmals gekommen war. Ihr Schweigen
bedrückte mich, doch war auch ich still. Jetzt waren wir angelangt
bei der Schlucht. Sie war wieder geöffnet! Allerdings bot sie nicht
mehr den gleichen Anblick wie früher, aber es war in dem Fels, der
beim Besuch mit Tae am vorigen Tage geschlossen war, jetzt ein neuer Spalt
künstlich geöffnet, und längs den schwarzklaffenden Wänden
glühten und verglimmten noch Funken. Mein suchender Blick vermochte
nicht tief in das Dunkel der Höhle zu dringen, und verwirrt stand
ich da und erwartete staunend, wie der grausige Abgrund zu überwinden
sei.
Zee erriet meine Gedanken und sprach:
«Fürchte nichts, deine Rückehr ist sicher. Ich vollbrachte
diese Arbeit, seit die Stillen Stunden begannen und als alles schlief.
Glaube mir, daß ich nicht ruhte, bis der Weg in die andere Welt fertig
war. Jetzt ist es nur noch kurze Zeit, bis du sagen kannst: Geh, ich bedarf
deiner nicht mehr.»
Ich empfand rechte Gewissensbisse
bei diesen Worten und erwiderte: «Wenn du doch von meiner Welt wärst
und ich von deiner! Dann brauchte ich dies gewiß nicht zu sagen.»
«Ich segne dich für diese
Worte und werde mich ihrer erinnern, wenn du fort bist», antwortete
die Gy.
Sie wandte sich einen Augenblick
ab, und als sie sich mir wieder zukehrte, da leuchtete jenes eigenartige
sternförmige Gebilde, das sie auf ihrer Stirn trug, und zwar ward
nicht nur ihre Stirn und Gestalt, sondern auch die uns umgebende Atmosphäre
durch die Strahlenquelle des Diadems hell erleuchtet.
Dann sagte sie: «So, nun halte
dich an mir fest. Nur Mut und faß alle Kräfte zusammen!»
Während sie sprach, breiteten
sich ihre mächtigen Flügel weit auseinander. Ich klammerte mich
an ihr fest und wurde hoch in die Luft durch die furchtbare Kluft getragen.
Das seltsame Licht, das die Fliegende ausstrahlte, durchdrang und erleuchtete
die uns umgebende Dunkelheit.
Strahlend, sicher und rasch war
der Flug der Gy, gleichwie ein überirdisches Wesen die Seele eines
dem Grabe Entstiegenen aufwärts trägt. Da vernahm ich auf einmal
von fernher das Summen menschlicher Stimmen und die Geräusche menschlichen
Tuns. Jetzt befanden wir uns in dem
Schacht eines Bergwerks und in der
Ferne brannten die düsteren, matten Flammen in den Lampen der Bergleute.
—
Ich hörte nun das sich entfernende
Rauschen der Flügel und sah, wie das leuchtende Diadem verschwand
in der Dunkelheit.
Noch eine Zeitlang saß ich
am Boden, durchwogt von düsteren Gedanken. Dann stand ich auf und
schritt langsam jener Richtung zu, wo die menschlichen Stimmen ertönten.
Alle Bergleute waren mir fremd,
von einem anderen Volk als ich selbst. Verwundert starrten sie mich an,
doch als ich ihre Fragen, die in fremder Sprache gestellt waren, ohne Antwort
ließ, wandten sie sich wiederum ihrer Arbeit zu, und ich konnte ungestört
meinen Weg fortsetzen.
Weiterwandernd entdeckte ich endlich
den Ausgang des Bergwerks.
Ich habe mich wahrlich gehütet,
nach meiner früheren Wohnstatt zu forschen, sondern vermied sorgfältig
eine Umgebung, wo ich Fragen erwarten mußte, die ich niemals hätte
beantworten können.
Wohlbehalten erreichte ich bald
mein eigenes Land, wo ich friedlich dahinlebte, mit so mancherlei Arbeit
beschäftigt, bis ich mich vor drei Jahren in die Ruhe zurückzog.
Man hat mich nur selten zu drängen
versucht, von den Erlebnissen und Abenteuern meiner Jugend zu sprechen.
Enttäuscht, wie wohl die meisten unter den Menschen, von den Ergebnissen
dieses irdischen Lebens, sitze ich oftmals des Abends allein und wundere
mich, wie ich auf so vieles verzichten konnte, und wenn es auch an die
größten Gefahren und an seltsame Bedingungen geknüpft war.
Doch wenn ich dann denke, daß eine Rasse sich stetig entwickelt in
Regionen, die unseren Blicken entzogen sind und deren Existenz von unserer
Gelehrsamkeit noch verneint wird; daß dort Kräfte in ihrer Entfaltung
sind, welche die Leistungen uns bekannter Naturkräfte so gewaltig
in Schatten stellen; daß sich dort Regeln der Lebensführung
heranbilden, die im polarischen Gegensatz stehen zu der Gedankenwelt, die
unser politisches und soziales Leben bestimmt, um so inniger hoffe ich,
daß noch viele Jahrhunderte hingehen mögen, bis die durch das
Weltenschicksal bedingten Zerstörer in der Welt unseres Sonnenlichts
auftauchen werden.
Da mir jedoch mein Arzt aufrichtig
sagte, daß ich an einem Übel leide, welches zwar wenig Schmerzen
verursacht und sich nur langsam bemerkbar macht, doch jeden Augenblick
dieses irdische Schicksal beenden kann, habe ich es als meine bittere Pflicht
erkannt, meine Mitmenschen vor dieser Zukunft der Menschheit zu warnen!