Visionäres Wunschdenken, Durchhaltevermögen und der Wille zum Dienen

 aus dem Buch  =>Leben und Lehren der Meister im Fernen Osten Bd 1-3 von Baird Spalding (1894).
S.106
....Wir sehen solche, die eine Idee nach der anderen verfolgen und hoffen, in irgendeiner Verwirklichung Befriedigung zu finden oder in den Besitz von etwas zu gelangen, nach dem ihr beschränkter, sterblicher Wunsch ging, und dann Ruhe zu finden. Wir sehen sie nach diesen Dingen jagen, sie erlangen und doch unzufrieden bleiben. Viele bilden sich ein, sie wünschen sich Häuser und Plätze, andere großen Reichtum und wieder andere reiches Wissen. Wir haben den Vorzug zu wissen, daß der Mensch alle diese Dinge in sich selbst besitzt.  ....
S.121
......Auch da, wo das Ideal noch nicht bewußt festgehalten werden kann, muß es sich offenbaren in sichtbarer Form, wenn der Mensch das Gesetz erfüllt. Vielleicht müssen dabei Erfahrungen in der Wüste gemacht und Leiden überwunden werden. Aber solches läßt die Seele nur der Vereinigung noch würdiger werden. Die Seele, die ihre Vision auffaßt als das versprochene Land oder als ein erreichbares Ideal, welches verwirklicht werden kann, sieht nur das Gute darin, den Gegenstand ihres Wunsches. Da darf kein Zweifel sein, kein Zaudern, kein Zögern, sonst könnte es zum Verhängnis werden. Die Seele muß ihrer Vision treu sein und immer weiter vorandrängen.
Ihre Vision ist immer etwas Typisches und genau so Notwendiges, wie es die Pläne und Einzelheiten zu einem Gebäude sind. Und der Mensch muß seiner Vision so treu sein, wie der Baumeister sich an die Pläne eines Architekten in allen Einzelheiten halten muß, alles außer der Wahrheit muß beiseite gelassen werden.
Alle großen Seelen bleiben ihrer Vision treu. Alles, was je erschaffen ist, ist zuerst eine Vision gewesen, eingepflanzt in eine Seele, die den Samen in sich wachsen und entfalten ließ und ihn zuletzt offenbarte. Solche Größen gestatten niemals, daß die Ungläubigkeit der andern auf sie Eindruck mache. Sie opfern sich willig auf für ihre Vision und bleiben ihr treu, sie halten sie standhaft fest. Sie glauben an sie und ihnen geschieht nach ihrem Glauben. Jesus blieb standhaft und treu bei seiner Vision. Er verharrte bei seinem Plan auch dann, als die, welche ihm am nächsten waren und die Teuersten seinem Herzen, den Glauben verloren und untreu wurden. Und ihm geschah nach seinem Glauben, und so geschieht es einem jeden.
Wenn jemand sich nach dem gelobten Lande aufmacht, so muß er das Land der Dunkelheit vergessen, nicht mehr daran denken. Er muß die Dunkelheit verlassen und auf das Licht zugehen. Es ist nicht möglich, vorwärts zu gehen und zugleich still zu stehen. Das Alte muß verlassen und dem Neuen angehangen werden. Wir müssen die unliebsamen Dinge vergessen und nur die Dinge im Gedächtnis zurückbehalten, an die wir uns erinnern wollen. Wenn eine Vision in Erfüllung gehen soll, so muß sie immer zuvorderst im  Bewußtsein stehen; darum müssen wir die Vision, deren Erfüllung wir anstreben, im Denken festhalten und uns auf diese Weise stets an sie erinnern. Andererseits müssen wir die Dinge, die wir nicht sich wiederholen sehen wollen, aus dem Gedächtnis ausweisen, uns weigern, an sie erinnert zu werden. Jede unserer Ideen, jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung muß dieser Vision entsprechen, damit sie sich erfülle. Dies ist die wahre Konzentration, die Konzentration der Hingebung, das Einstellen aller Kräfte auf das Hauptsächliche. So handeln heißt: sein Ideal lieben. Und nur durch die Liebe allein kann man einem Ideal Formen verleihen. Die Liebe macht die Idee zu einem Ideal.
Wenn jemand zuerst keinen Erfolg hat, muß er entschlossen sein und vorwärts drängen. Das ist die Übung des Willens, der Ruf des Selbstvertrauens, der Ausdruck des Glaubens, der die Kraft dem Ideal entgegendrängt. Das Ideal kann nicht ohne die bewußte Hinleitung der Kraft nach dem Ideale hin, ohne diese Willensübung erreicht werden, und zudem wäre es für das Ideal ebenso verhängnisvoll, wenn der Wille selbst nicht auch ideal wäre. Der ideale Wille muß zugleich die Eigenschaft des Dienens in sich tragen. Wenn er nicht den Wunsch des Dienens enthält, so kann die Macht, die der Wille leiten will, sich nicht von der Seele lösen. Der Wille, bedient zu werden, wendet die Lebenskraft gegen das Selbst; der Wille, zu dienen, läßt die Lebenskraft durch das ganze Wesen eines Menschen fluten und erhält sein Selbst in strahlender Schönheit. Das Dienen verleiht der Vision ihren Daseinszweck, löst in unserm Wesen die Liebe aus. Wie könnte die Liebe sich anders Ausdruck geben, als indem sie durch unser ganzes Wesen strömt? Wenn die Liebe durch unser Bewußtsein flutet, antwortet ihr der ganze Organismus un läßt jede Zelle erzittern unter dieser Liebe, die sich  ausdrückt. Dann wir der Körper harmonisch, die Seele wird leuchtend, das Denken klar. Der Gedanke wird kühn, strahlend, lebendig, bestimmt, das Wort positiv, wahr, aufbauend; das Fleisch erneuert sich, wird reiner und frischer; unsere Geschäfte regeln sich und alle Dinge rücken an ihre richtige Stele. Das ICH BIN drückt sich aus durch das ich, und dem >ich< ist nicht länger gestattet, das ICH BIN zu unterdrücken. Wenn aber der Körper dem Geiste nicht untertan ist, wie kann er dann dem Geiste Ausdruck verleihen? Das bewußte Denken muß den Geist suchen und nach ihm Verlangen tragen, ehe es die Macht des Geistes kennenlernen kann. So lernt der Mensch einsehen, daß es der Geist ist, der jedes Verlangen in uns stellen kann. Nie kann ihm in besserer Weise Ausdruck verliehen werden, als wenn ihm erlaubt wird, unserm Nächsten in seiner Not zu helfen, die Not eines Mitmenschen zu lindern. Es ist das Ausströmen zu den andern, das für uns die Vorratskammern des Geistes auftut. Es ist das, >Ich will dienen<, was Gottes unbegrenzte Vorräte vor allen auftut und jeder Seele ihre Erfüllung schenkt.