>Lahiri, du mußt dich reinigen. Trinke diese Schale Öl
und lege dich am Ufer des Flusses nieder.< Lächelnd stellte ich
fest, daß Babajis praktische Weisheit, genau wie früher, immer
die Oberhand behielt.
Dann folgte ich seinen Anweisungen. Obgleich sich bereits die eiskalte
Nacht auf den Himalaja senkte, begann sich eine angenehm strahlende Wärme
in meinem Körper auszubreiten; verwundert fragte ich mich, ob vielleicht
das unbekannte Öl diese kosmische Wärme erzeugte.
Eisige Winde heulten mir herausfordernd entgegen und fegten in der
Dunkelheit über mich hin. Ab und zu überspülten die kalten
Wellen des Gogash-Flusses meinen Körper, der ausgestreckt auf der
Felsenbank lag. In der Nähe brüllten einige Tiger, doch mein
Herz war frei von jeder Furcht. Die in meinem Inneren strahlende Kraft
verlieh mir die Gewißheit, unter sicherem Schutz zu stehen. Mehrere
Stunden vergingen wie im Fluge. Längst verblaßte Erinnerungen
aus meinem vorherigen Leben tauchten wieder auf und verwoben sich mit dem
jüngsten, überwältigenden Ereignis: der Wiedervereinigung
mit meinem göttlichen Guru.
Da wurde ich durch das Geräusch herannahender Schritte aus meinen
Träumen gerissen. Im Dunkeln fühlte ich, wie eine Hand mir aufhalf
und mir trockene Kleider reichte.
>Komm, Bruder<, sprach mein Gefährte, >der Meister erwartet
dich.< Dann führte er mich durch einen dichten Wald. Als wir an
eine Wegbiegung kamen, wurde die dunkle Nacht plötzlich von einem
in der Ferne sichtbar werdenden, gleichbleibenden Leuchten erhellt.
>Ist das schon der Sonnenaufgang?< fragte ich verwundert.
>Die Nacht kann doch noch nicht vorüber sein?<
>Es ist jetzt Mitternacht<, sagte
mein Begleiter mit leisem Lachen. >Das Licht, das du in der Ferne siehst,
strahlt von einem goldenen Palast aus, der heute nacht von dem unvergleichlichen
Babaji materialisiert worden ist. In ferner Vergangenheit hattest du einmal
den Wunsch geäußert, dich an den Schönheiten eines Palastes
zu erfreuen. Unser Meister erfüllt dir nun diesen Wunsch und befreit
dich damit von deiner letzten karmischen Bindung.< 5
5 Das Gesetz des Karmas verlangt, daß jeder menschliche Wunsch einmal in Erfüllung geht. Daher sind ungeistige Wünsche Ketten, die den Menschen an das Rad der Wiedergeburt fesseln.
Dann fuhr er fort: >In diesem herrlichen Palast wirst du heute
nacht deine Einweihung in den Kriya-Yoga empfangen. Sieh, alle deine Brüder
haben sich freudig versammelt, um dich nach deiner Verbannung willkommen
zu heißen.<
Vor uns erhob sich ein mächtiger Palast aus schimmerndem Gold.
Mit seinen zahlreichen Juwelen und gepflegten Parkanlagen, die sich in
stillen Teichen widerspiegelten, bot er einen überwältigenden,
majestätischen Anblick. Hohe Torbögen waren kunstvoll mit großen
Diamanten, Saphiren und Smaragden besetzt und Menschen mit engelhaften
Gesichtszügen standen vor dem Eingangstor, das im rötlichen Glanz
zahlloser Rubine schimmerte.
Ich folgte meinem Gefährten in einen geräumigen Empfangssaal.
Ein Duft von Räucherwerk und Rosen erfüllte die Luft; mattes
Lampenlicht verbreitete einen vielfarbigen Glanz. Hie und da sah ich kleine
Gruppen von Jüngern sitzen - einige von heller und andere von dunkler
Hautfarbe -, die leise vor sich hinsangen oder schweigend meditierten.
Die ganze Atmosphäre atmete Frieden und Freude.
>Labe dich an diesem herrlichen Anblick und schaue dir die erlesenen
Kostbarkeiten dieses Palastes gut an, denn er ist nur dir zu Ehren erschaffen
worden<, bemerkte mein Führer, der verständnisvoll über
meine erstaunten Ausrufe lächelte.
>Bruder<, sagte ich, >die Schönheit dieses Bauwerks übersteigt
alle menschliche Vorstellungskraft. Erkläre mir bitte das Geheimnis
seiner Entstehung.<
>Das will ich gern tun<, sagte mein Begleiter, in dessen dunklen
Augen tiefe Weisheit leuchtete, >denn diese Materialisation ist kein unerklärliches
Geheimnis. Der ganze Kosmos ist ein vom Schöpfer projizierter Gedanke.
Und so ist auch der im Raum schwebende, schwere Erdkörper nichts als
ein Traum Gottes, der alle Dinge aus Seinem Geist erschaffen hat, ähnlich
wie der Mensch im Traum alle Lebewesen der Schöpfung nachbilden und
lebendig werden lassen kann.
Gott erschuf diese Erde zuerst als Idee. Dann belebte Er sie, und es
entstand die Atomenergie und später die Materie. Aus den Erdatomen
formte Gott einen festen Himmelskörper, dessen Moleküle alle
durch Seinen Willen zusammengehalten werden. Sobald Er Seinen Willen zurückzieht,
lösen sich alle Erdatome in Energie auf; dann kehrt die Atomenergie
zu ihrer ursprünglichen Quelle - dem Bewußtsein - zurück,
und die Erde in ihrer gegenwärtigen Form verschwindet.
Alle Traumbilder werden nur durch die unterbewußten Gedanken
der Träumenden aufrechterhalten. Wenn diese Kohäsionskraft beim
Erwachen verschwindet, löst sich der Traum mitsamt seinen Elementen
auf. Der Mensch kann also mit geschlossenen Augen eine Traumschöpfung
erstehen lassen, die er beim Erwachen mühelos wieder entmaterialisiert.
Hierin folgt er dem göttlichen Vorbild. Ähnlich mühelos
wird er auch, wenn er dereinst im kosmischen Bewußtsein erwacht,
die Illusion des kosmischen Traum-Universums auflösen.
Babaji, der sich in völliger Übereinstimmung mit dem allmächtigen
göttlichen Willen befindet, kann den elementaren Atomen befehlen,
sich zu jeder gewünschten Form zusammenzusetzen. Dieser goldene Palast,
das Werk eines einzigen Augenblicks, ist ebenso wirklich wie unsere Erde.
Babaji hat dieses wunderbare Bauwerk aus seinem Geist erschaffen und hält
die Atome kraft seines Willens zusammen - ebenso wie Gott die Erde aus
Seinem Geist erschaffen hat und durch Seinen Willen erhält.< Dann
fuhr er fort: >Wenn das Gebäude seinen Zweck erfüllt hat, wird
Babaji es wieder entmaterialisieren.<
Ich verharrte in ehrfürchtigem Schweigen. Da beschrieb mein Führer
mit der Hand einen Bogen und sprach: >Dieser mit kostbarsten Edelsteinen
verzierte, schimmernde Palast wurde nicht von Menschenhand erbaut; sein
Gold und seine Juwelen wurden nicht mühselig aus den Bergwerken gewonnen.
Und dennoch steht er fest gegründet da - eine Herausforderung an den
Menschen 6. Wer, wie Babaji, durch
eigene Verwirklichung weiß, daß er Gottes Sohn ist, kann aufgrund
der in ihm verborgenen unendlichen Kraft jedes Wunder vollbringen. Schon
ein gewöhnlicher Stein birgt eine ungeheure Menge Atomenergie in sich
7; daher ist auch der geringste
aller Sterblichen ein göttliches Kraftwerk.<
Der Weise nahm eine zierliche Vase von einem Tisch, deren Henkel mit
funkelnden Diamanten besetzt war. >Unser großer Guru erschuf diesen
Palast, indem er Myriaden von freien kosmischen Strahlen verdichtete<,
fuhr er fort. >Nimm einmal diese Vase in die Hand und betaste die eingelegten
Diamanten; sie halten jeder Prüfung durch die Sinne stand.<
Ich untersuchte die Vase, deren Juwelen der Sammlung eines Königs
wert waren. Dann strich ich mit der Hand über die Wände des Raumes,
die aus massivem, schimmerndem Gold bestanden. Ein Gefühl tiefer Befriedigung
bemächtigte sich meiner. Ich spürte, wie ein im Unterbewußtsein
schlummernder Wunsch aus vergangenen Leben zugleich erfüllt und ausgelöscht
wurde.
6 »Was ist ein Wunder? Es ist ein Vorwurf, eine wortlose Satire auf die Menschheit.» Aus Night Thoughts (Nachtgedanken) von Edward Young.
7 Die Theorie von der atomaren Struktur der Materie wird in den uralten indischen Abhandlungen Vaisesika und Nyaya dargelegt. »Ganze Welten befinden sich in den Hohlräumen eines jeden Atoms, die so zahlreich sind wie die Stäubchen in einem Sonnenstrahl. « Yoga Vasishta
Mein edler Gefährte führte mich nun durch kunstvolle Torbögen
und Wandelhallen zu einer Zimmerflucht, die mit prunkvollen Möbeln,
wie man sie in kaiserlichen Palästen findet, ausgestattet war. Von
dort gelangten wir in einen geräumigen Saal, wo der erhabene Babaji
in Lotosstellung auf einem goldenen Thron saß. Die in den Thronsessel
eingelassenen Edelsteine blitzten in einer augenblendenden Farbensymphonie.
Ich kniete auf dem schimmernden Boden zu seinen Füßen nieder.
>Lahiri, freust du dich noch an der Erfüllung deines Wunschtraumes
- dem goldenen Palast?< Die Augen meines Gurus funkelten wie die Saphire
in seinem Thron. >Erwache! All deine irdischen Wünsche sind nun auf
immer gelöscht!< Dann murmelte er einige geheimnisvolle Segensworte
und sprach: >Erhebe dich, mein Sohn, um durch den Kriya-Yoga in das Reich
Gottes aufgenommen zu werden.<
Babaji streckte die Hand aus, und sogleich erschien ein von Früchten
und Blumen umrahmtes Homa(Opfer)-Feuer. Vor diesem flammenden Altar empfing
ich die befreiende Yoga-Technik.
Als der Morgen dämmerte, war die feierliche Handlung beendet.
Ich befand mich in einem derart ekstatischen Zustand, daß ich kein
Verlangen nach Schlaf verspürte und so schritt ich durch die mit erlesenen
Kunstschätzen ausgestatteten Räume des Schlosses und wanderte
dann durch die Gärten. Dabei bemerkte ich in der Nähe die Höhlen
und kahlen Felsenklippen, die gestern noch nicht an ein großes Gebäude
mit blumigen Terrassen gegrenzt hatten.
Schließlich kehrte ich in den Palast zurück, der wie ein
Märchengebilde in der kalten Himalajasonne glänzte, und suchte
meinen Meister auf. Er saß noch immer auf seinem Thron, umgeben von
vielen schweigenden Jüngern.
>Lahiri, du bist hungrig<, sagte Babaji. >Schließ die Augen.<
Als ich sie wieder öffnete, war der zauberhafte Palast mitsamt seinen
Gärten verschwunden. Mein eigener Körper sowie die Körper
Babajis und seiner Jünger saßen nun auf kahlem Boden, und zwar
an derselben Stelle, wo der entschwundene Palast gestanden hatte - nicht
weit von den sonnenbeschienenen Höhleneingängen entfernt. Da
entsann ich mich der Bemerkung meines Führers, daß der Palast
wieder entmaterialisiert werde und daß seine eingefangenen Atome
in die Gedankensubstanz, aus der sie gekommen waren, zurückkehren
mußten. Erstaunt, aber voller Vertrauen blickte ich meinen Guru an.
Insgeheim fragte ich mich, was mir an diesem wunderreichen Tag wohl als
nächstes widerfahren werde.
>Der Zweck, um dessentwillen der Palast erschaffen wurde, ist nun erfüllt<,
erklärte Babaji. Dann hob er ein irdenes Gefäß vom Boden
und sprach: >Greife mit der Hand hinein und nimm dir die gewünschte
Speise.<
Ich berührte die breite, leere Schale, und sogleich befanden sich
warme gebutterte Luchis, Curry und Süßspeisen darin. Während
ich aß, bemerkte ich, daß die Schale immer gefüllt blieb.
Am Ende der Mahlzeit schaute ich mich nach Wasser um. Da deutete mein Guru
auf die Schale vor mir, und siehe! die Speisen waren verschwunden, und
statt dessen schimmerte Wasser darin.
>Nur wenige Sterbliche wissen, daß das Reich Gottes auch für
die Erfüllung aller irdischen Wünsche sorgt<, bemerkte Babaji.
>Das göttliche Reich schließt das irdische mit ein; dieses jedoch
ist von Natur aus illusorisch und enthält nicht den Kern der Wirklichkeit.<
>Geliebter Guru, heute nacht habt Ihr mir die Schönheiten des
Himmels und der Erde offenbart<, sagte ich lächelnd, indem ich
an den entschwundenen Palast dachte. Kein einfacher Yogi hat seine Einweihung
in die hohen Mysterien des GEISTES wohl je in einem prunkvolleren Rahmen
empfangen. Gelassen blickte ich auf meine jetzige Umgebung, die in lebhaftem
Gegensatz zu dem eben Geschauten stand. Der kahle Boden, das blaue Himmelsgewölbe
und die primitiven Höhlen bildeten einen natürlichen und reizvollen
Hintergrund für die seraphischen Heiligen, die mich umgaben.
Autobiographie eines Yogi S. 397-402