Ode an das Alter

von Rolf
Das Alter ist nicht bloß Niedergang.
Rein biologisch gesehen erscheint das Alter als Niedergang. Die Körperkräfte nehmen ab, indessen braucht dem keineswegs ein geistiger Niedergang parallel zu gehen; im Gegenteil, viele der bedeutendsten Kulturleistungen sind von Menschen in hohem Alter vollbracht worden.
In der Antike wurde die Politik von der "Gerusia" oder dem "Senat" (beides auf Deutsch: Greisenhschaft) geleitet; aber auch im ersten Weltkrieg haben auf beiden Seiten Männer in hohem Alter (Hindenburg, oder Joffre) die Leitung gehabt. Im zweiten Weltkrieg gaben ebenfalls Männer im Greisenalter - Churchill, Roosevelt, Stalin, die Entscheidung. In den Wissenschaften und Künsten sind viele der bedeutendsten Werke von Greisen geschaffen worden, und man kann von einem typischen Altersstil sprechen, der sich übereinstimmend von den früheren Werken der gleichen Meister unterscheidet.

An dieser Stelle muß ich mich vom Inhalt distanzieren. Man könnte sonst zurecht meinen, daß ich Kriegsveteranen verehre und Krieg zum Vorbild hätte. Ich will aber nicht anderslautende Meinungen betreffs Jugend unterdrücken und habe deswegen die Ode mit auf die Seite gestellt. Horst

Als wesentlich für den Greisentypus erscheint das Zurücktreten des Trieb- und Affektlebens gegenüber der Geistigkeit. Infolge der körperlich geringeren Aktivität löst sich der Greis aus dem tätigen Leben und nimmt eine zuschauende Stellung, von der aus er die Welt in Distanz, mit Ruhe und Objektivität sieht. Goethe kennzeichnet das Greisenalter durch ein "stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung."
Große Erfahrung läßt den Greis das Leben in seinen typischen Formen sehen; er erkennt, daß unter wechselnden Erscheinungsformen gewisse "ewige Gesetze" herrschen; daher der Konservativismus des Altrs im Gegensatz zum naiven Fortschrittsglauben des Jugendlichen.
Das gilt jedoch nur für solche Greise, die sich ein inneres Leben bewahren. Bei ihnen führt das Zurücktreten aus der Erscheinung oft zu erhabener Mystik, wie sie sich in den Spätwerken Rembrandts, Goethes, Ibsens und vieler anderer offenbart. Bei geringen Geistern führt das Greisenalter häufig zu "Verknöcherung", Erstarren und Unlebendigwerden des Lebens, zu reaktionärer Gesinnung und nörgelnder Krittelei, bis dann zuletzt eine Wiederkehr infantiler Lebensformen einsetzt.
In ihrer Gesamtheit stehen die Altersphasen in einem kulturell höchst wertvollen Ergänzungsverhältnis. Es ist eine Kulturnotwendigkeit, daß die drei Generationen - Jugend, Reifealter und Greisenalter, nicht bloß nebeneinander, sondern füreinander wirken, und jede Generation hat in jeder Zeit ihre besondere Aufgabe.
Die Jugend lebt in der Zukunft, der Mann in der Gegenwart, der Greis in der Vergangenheit, die er aber für Gegenwart und Zukunft nutzbar macht. Während in Frühkulturen zumeist das Alter höchste Ehrfurcht genießt und die meisten noch heute geltenden Respektsbegriffe (Herr = Hehrere, das Heißt der Ältere) das Alter betonen, nehmen spätere Kulturen den Mann zwischen Dreißig und Fünfzig als wahren Repräsentanten der Menschheit, bis dann in ausgesprochenen Spätkulturen (am stärksten in Amerika) ein Kult der Jugendlichkeit betrieben wird, also daß man sich des Alters schämt und noch in späteren Jahren in Gebaren, Kleidung und Lebensformen oft gewaltsam Jugendlichkeit betont. In Wahrheit hat jede Altersphase ihre Kulturaufgaben und ihren Wert für die Kulturgemeinschaft.
Der innere Reichtum vieler Menschen beruht darauf, daß sie sich Jugendlichkeit und sogar eine gewisse Kindlichkeit bis ins hohe Alter bewahren.