aus dem =>Buch Mehr Hühnersuppe für die Seele / Jack Canfield + Mark Victor Hansen

Wie ein blindes Mädchen mit ein wenig Zauberei sehen konnte

Mein Freund Whit ist ein professioneller Zauberer, und er war einmal von einem Restaurant in Los Angeles engagiert worden, um jeden Abend von Tisch zu Tisch zu gehen und den Gästen aus unmittelbarer Nähe seine Tricks vorzuführen. Eines Abends kam er an einen Tisch, an dem eine Familie saß. Nachdem er sich vorgestellt hatte, zog er einen Stapel Karten hervor und fing mit seinen Zauberkünsten an. Er wandte sich an ein Mädchen, das mit am Tisch saß, und bat sie, eine Karte zu ziehen. Da sagte ihm der Vater des Mädchens, dass seine Tochter Wendy blind sei.
Whit erwiderte: »Das macht nichts. Wenn sie dazu bereit ist möchte ich den Zaubertrick trotzdem probieren.« An das Mädchen gewandt fuhr er fort: »Möchtest du mir bei meinem Zaubertrick helfen, Wendy?«
Ein wenig schüchtern zuckte sie die Achseln und sagte:
»Okay.«
Whit setzte sich ihr am Tisch gegenüber und sagte: »Ich werde jetzt eine Spielkarte hochhalten, Wendy, und sie ist entweder rot oder schwarz. Ich möchte, dass du mit Hilfe deines sechsten Sinns errätst, welche Farbe die Karte hat - rot oder schwarz. Hast du verstanden?« Wendy nickte.
Whit hielt den Kreuz-König hoch und sagte: »Wendy, ist diese Karte rot oder schwarz?« Nach kurzer Bedenkzeit antwortete das Mädchen: »Schwarz.« Die anderen am Tisch lächelten.
Whit hielt die Herz-Sieben hoch: »Rot oder schwarz, Wendy?«
»Rot«, lautete die Antwort.
Als nächstes hielt ihr Whit die Karo-Drei hin. Abermals fragte er: »Rot oder schwarz?«
Ohne zu zögern antwortete Wendy: »Rot!« Die anderen kicherten nervös. Er zog noch drei weitere Karten und jedes Mal lag das blinde Mädchen mit seiner Antwort richtig. Einfach unglaublich! Sie hatte alle sechs erraten! Kaum zu fassen, dass sie solches Glück gehabt hatte.
Bei der siebten Karte hielt Whit die Herz-Fünf hoch und meinte: »Wendy, kannst du mir diesmal den Wert und die genaue Farbreihe sagen - also Herz, Karo, Kreuz oder Pik?«
Nach ein paar Augenblicken war sich Wendy sicher:
»Herz-Fünf« Ein Raunen ging um den Tisch. Das war ja kaum zu glauben!
Wendys Vater fragte Whit, ob er da einen Zaubertrick vorführte oder ob das etwas mit echter Magie zu tun hatte. Whit entgegnete: »Das müssen Sie Wendy fragen.«
Der Mann wandte sich an seine Tochter: »Wie hast du das gemacht, Wendy?« Das Mädchen aber lächelte und meinte:
»Es ist Zauberei!« Whit schüttelte den Erwachsenen die Hand, nahm Wendy in den Arm, hinterließ seine Visitenkarte und verabschiedete sich. Er hatte in der Tat einen magischen Moment geschaffen, den die Familie wohl nie wieder vergessen würde.
Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie es Wendy gelungen war, die Farbe der Karten zu erraten. Whit war ihr in dem Restaurant zum ersten Mal begegnet und so hatte er keinerlei Gelegenheit gehabt, ihr im Vorhinein zu sagen, welche Karten rot und welche schwarz waren. Und als Blinde konnte Wendy unmöglich erkennen, was für eine Karte er ihr hinhielt. Wie also hatte sie es dennoch wissen können?
Dieses Wunder, das selbst im Leben eines Zauberers durchaus als etwas Einmaliges gelten kann, war durch einen Geheimcode und eine gute Portion Geistesgegenwart zu Stande gekommen. Whit hatte früher einmal eine Art »Fuß- Code« entwickelt, um sich ohne Worte mit einem anderen Menschen verständigen zu können. Bis zu jenem Augenblick in dem Restaurant hatte er nie Gelegenheit gehabt, ihn auszuprobieren. Als sich Whit gegenüber von Wendy an den Tisch setzte und sagte: »Ich werde jetzt eine Spielkarte hochhalten und sie ist entweder rot oder schwarz«, tippte er bei dem Wort »rot« einmal und bei »schwarz« zweimal (unter dem Tisch) gegen ihren Fuß. Um ganz sicherzugehen, dass sie es auch begriffen hatte, wiederholte er das Ganze noch einmal: »Ich möchte, dass du mit Hilfe deines sechsten Sinns errätst, welche Farbe die Karte hat - rot (tap) oder schwarz (tap-tap). Hast du verstanden?« Als sie nickte, wusste er, dass sie den Geheimcode verstanden hatte und bereit war, sein Spiel mitzuspielen. Die anderen gingen davon aus, dass sich sein »Hast du verstanden?« allein auf seine mündliche Anweisung bezog.
Und wie hatte er ihr nun zu verstehen gegeben, dass er eine Herz-Fünf in der Hand hielt? Ganz einfach. Er tippte ihr fünfmal gegen den Fuß, um ihr die Fünf zu übermitteln, Und als er sie fragte, ob es Herz, Pik, Kreuz oder Karo sein, tippte er ihren Fuß bei dem Wort »Herz« an.
Aber das eigentlich Magische an der Geschichte ist die Wirkung, die das Ganze auf Wendy hatte. Nicht nur, dass sie für ein paar Augenblicke im Mittelpunkt stand und vor den Augen der ganzen Familie auf einmal eine tolle Figur machte. Auch zu Hause wurde sie ein regelrechter Star, denn allen Freunden wurde erzählt, über welche beeindruckenden übersinnlichen Fähigkeiten sie verfügte.
Ein paar Monate nach diesem Erlebnis bekam Whit ein Paket von Wendy. Es enthielt einen Satz Braille-Spielkarten und einen Brief. Darin bedankte sie sich bei ihm dafür, dass sie sich mit seiner Hilfe als etwas Besonderes habe fühlen dürfen und sie durch ihn - wenn auch nur für ein paar Augenblicke - habe »sehen« können. Sie habe ihrer Familie immer noch nicht verraten, wie der Trick funktioniert hat, obwohl die anderen sie immer wieder danach fragten. Wenn sie ihr nun einen Satz Braille-Spielkarten schicke, so schrieb sie weiter, dann sei dies als Anregung gedacht, sich noch mehr Tricks für blinde Menschen auszudenken.
Michael Jeffreys
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Nächtliche Besucher

Es war ein Familienabenteuerurlaub. Meine Frau Judith, unsere zweijährige Tochter Leila und ich haben ein kleines Wohnmobil gemietet und uns auf die Reise quer durch Südkalifornien gemacht. Am Tag vor unserer Rückkehr nach San Diego parkten wir den Wagen ganz in der Nähe des Strandes, um unsere letzte Nacht in der Natur zu verbringen.
Mitten in der Nacht weckte mich Judith mit einem unsanften Rippenstoß und raunte mir ins Ohr, ich solle aufstehen und nach dem Rechten sehen. Zuerst drang nichts als Lärm und Geklopfe an mein Ohr. Im Halbschlaf ließ ich mich aus unserer kleinen Schlafkoje gleiten und stand splitterfasernackt da, vor mir die Windschutzscheibe.
Was ich sah, riss mich unvermittelt aus meiner Trance. Unser Wohnmobil war von maskierten Männern umzingelt, die gegen die Scheiben schlugen.
Ich habe viele Abenteuerfilme gesehen und mich immer gefragt, wie ich mich wohl fühlen oder wie ich reagieren würde, wenn ich selbst einmal in eine gefährliche Situation geriete. Nun, ich bin sofort in die Rolle des Helden geschlüpft. Ich hatte keine Angst. Ich dachte nur daran, meine Familie zu beschützen.
Ich duckte mich, kroch zum Fahrersitz vor und drehte den Zündschlüssel um. Der Wagen war während unserer Reise mindestens fünfzigmal problemlos angesprungen. Diesmal versuchte er durchzustarten, spuckte ein paar Mal und erstarb dann. Ich hörte Glas splittern und eine Hand griff durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite. Ich zerschmetterte die Hand (von wegen Gewaltfreiheit!). Meine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Pazifismus hatte im Eifer des Gefechts keine Chance. Im Nachhinein habe ich mir oft gedacht, wie gut es ist dass ich in diesem Moment keine Pistole hatte. Ich hätte sie wahrscheinlich benutzt.
Das splitternde Glas hatte mir die Hand blutig geschnitten. Ich glaubte, noch eine Chance zu haben, den Wagen doch noch starten zu können. In meiner Phantasie hatte ich tausend Mal den erfolgreichen Helden gespielt und so zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass ich es schaffen würde. Ich drehte den Schlüssel um. Die Maschine sprang an ... und erstarb dann wieder. Dann rammte mir jemand einen Gewehrkolben in die Kehle. Ich weiß noch, wie ich dachte: »Soll das heißen, dass ich meine Familie nicht verteidigen kann?« Der Gedanke überraschte mich irgendwie.
Einer der Banditen sprach ein paar Brocken Englisch. Er schrie: »Geld! Geld!« Mit dem Gewehrkolben an der Kehle griff ich unter den Fahrersitz und reichte einem der Männer durch die zerbrochene Scheibe meine Brieftasche. Ich hoffte, damit ware die Sache erledigt.
Doch weit gefehlt.
Mit einem Griff durch die kaputte Fensterscheibe öffneten sie die Wagentür. Der Mann mit dem Gewehr stieß mich unsanft zu Boden. Dann kamen sie herein.
Sie sahen aus wie mexikanische Banditen aus einem zweitklassigen Film. Sie hatten sich die typischen Halstücher vors Gesicht gebunden. Sie waren zu viert: der mit dem Gewehr, einer mit einem rostigen Tranchiermesser, einer mit einer riesigen Machete und einer, der keine Waffe trug. Ich war irgendwie überrascht, dass sie keine Patronengürtel über die Schulter geworfen hatten. Vielleicht waren ihre Waffen in Wirklichkeit nur Attrappen aus dem Film-Fundus.
Während einer mir das Gewehr an den Hals drückte und mich so am Boden hielt, fingen die Banditen an, das Wohnmobil zu zerlegen. Dabei schrien sie auf Spanisch herum.
Es ist interessant; solange ich in der Lage war, etwas zu tun (oder zumindest glaubte, etwas tun zu können), wie den Wagen zu starten oder meine Familie zu verteidigen, fürchtete ich mich nicht, obwohl ich sicher mehr als genug Adrenalin im Blut hatte. Als ich aber dann nackt am Boden lag und den kalten Stahl an der Kehle spürte, fühlte ich mich plötzlich hilflos. Und dann bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich fing an zu zittern.
Das war eine interessante Situation. Ich schaffte es fast, mich voll und ganz auf meine Angst zu konzentrieren. Meine Aufmerksamkeit wich nur um Haaresbreite ab. In einem vorübergehenden Anflug von Klarheit sagte ich mir, dass dies der optimale Moment sei, um zu meditieren und um Führung zu bitten.
In meinem Inneren hörte ich eine deutliche Stimme die Textstelle aus Psalm 23 zitieren: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.«
Eine andere Stimme in mir protestierte: »Was?!... Was soll denn das bedeuten?«
Dann sah ich vor meinem geistigen Auge, wie ich den Banditen ein Festmahl servierte. Ich dachte: »Ich lebe in einer Welt, in der ich von Gangstern angegriffen werde, ich leiste Widerstand und es spielen sich üble Szenen ab.
Und wenn es anders wäre? Wenn ich es nicht mit Banditen zu tun hätte? Wenn es alte Freunde wären, die in dieser kalten Wüstennacht auf einen Besuch hereingeschneit kämen? Was wäre, wenn ich mich freuen würde, sie zu sehen und sie mit offenen Armen als Gäste empfangen würde? Was wäre, wenn ich den Tisch für sie decken würde?«
Während ein Teil von mir sich grauenhafte Szenen von Vergewaltigung und Mord ausmalte, tat sich in meinem Inneren ein Ort der Klarheit und Stille auf, der von dieser neuen Möglichkeit fasziniert war. Auch sie sind Kinder Gottes. Wie viele Male habe ich erklärt, dass es meine Aufgabe sei, anderen zu dienen? Nun, jetzt ist die Gelegenheit da!
Ich betrachtete die Banditen aus diesem Zustand der inneren Achtsamkeit. »Halt! Das sind keine Gangster! Das sind ja noch Kinder!«
Urplötzlich fiel mir auf, wie jung, wie unerfahren und ungeschickt diese »Banditen« eigentlich waren. Auch sie waren nervös. Ihre Gewalt und Schreierei schien eher das Produkt ihrer Angst als ihrer Macht zu sein. Und mit ihrem Herumgezerre machten sie alles kaputt und brachten sich so um einen Großteil ihrer Beute. In einem ziemlich sonderbaren Geistesblitz erkannte ich, dass »den Tisch decken« in diesem Augenblick bedeutete, ihnen dabei zu helfen, uns besser auszurauben. Ich wandte mich an den jungen Mann, der Englisch sprach: »He, euch geht das Beste durch die Lappen! Unter dem Stapel da drüben liegt eine tolle Kamera.«
Er sah mich verdutzt an.
Dann rief er einem der anderen etwas auf Spanisch zu, und der zog die Kamera dort heraus, wo ich gesagt hatte. »Fünfunddreißig Millimeter... Macht tolle Aufnahmen«, erklärte ich bereitwillig.
Noch einmal wandte ich mich an den Englisch sprechenden jungen Mann: »Deine Freunde richten ein fürchterliches Chaos an. Auf diese Weise werdet ihr einiges übersehen. Ich bin gern bereit, euch zu zeigen, wo die wirklich guten Sachen sind.«
Er sah mich ungläubig an. Meine Antworten passten eindeutig nicht in sein Bild von Räubern und deren Opfern. Doch als ich dann tatsächlich zeigte, wo wir noch weitere Wertsachen versteckt hatten, wich sein Misstrauen. Ich bot an, Ihm und seinen Freunden die Sachen selbst zu geben.
Schon bald waren wir mitten in einer Art Auktion. »Schöne Gitarre!« Ich zupfte ein paar Akkorde. »Kann einer von euch spielen? Hier, willst du sie haben?... Sony Walkman, Kopfhörer, Batterien, ein paar Kassetten! Wer will sie haben?« Ich dachte an die indianische Tradition des Weiterschenkens von Geschenken. Angesichts unserer unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten schien es irgendwie gerecht, dass sie jetzt unsere Wertsachen bekamen. Es war, als würden Vermögenswerte ausgeglichen. Langsam fing es an, mir zu gefallen, sie zu beschenken. Ich überlegte, was von unserem Hab und Gut ihnen wohl am besten gefallen würde.
Auch wenn mein ungewöhnliches Verhalten nicht ohne Auswirkung auf die allgemeine Stimmung geblieben war, hatte sich an der eigentlichen Situation nichts Grundlegendes geändert. Der junge Mann mit dem Tranchiermesser schien besonders unberechenbar. Vielleicht stand er unter Drogen. Alle paar Minuten schubste er mich oder schrie mich an. Sein englischer Wortschatz schien sich auf »Drogen!«, »Schnaps!« und »Mehr Geld!« zu beschränken. Er fand eine kleine Flasche Lomotil (ein Durchfallmittel) in einer Küchenschublade. Ich versuchte ihm zu erklären, dass er mit dem Medikament nichts anfangen könne, doch als er deshalb grob mit mir wurde, konnte ich mich zugegebenermaßen des Gedankens nicht erwehren: »Das geschieht dir recht!«
Mein Englisch sprechender »Freund« übernahm mehr und mehr die Rolle des Beschwichtigers.
Nun, wir hatten alles weggegeben, was wir hatten. Mein Blick wanderte nach hinten in den Wagen, wo Judith und Leila in einer Decke eingewickelt kauerten. Judith malte sich in Gedanken natürlich auch allerhand Horrorszenarien von Vergewaltigung und Kindesentführung aus. Leila, die in ihren zwei Lebensjahren noch keinem einzigen Menschen begegnet war, der nicht »gut« zu ihr gewesen wäre, stellte die ganze Zeit über immer wieder Fragen wie: »Papa, wer sind diese netten Männer?«
Ich fragte mich, was wohl als Nächstes kommen würde. Auf einmal hörte ich mich sagen: »Habt ihr Hunger?« Der Englisch sprechende junge Mann übersetzte meine Frage. Vier Paar ungläubige Augen ruhten auf mir, als ich den Kühlschrank aufmachte. Jetzt hatten wir aber ein kulturspezifisches Problem. Als ich die Regale voll mit Tofu, Sprossen, Joghurt und die Nussbutter betrachtete, fühlte ich mich auf einmal so verloren, wie wenn man Leute zum Abendessen einlädt und plötzlich jemand hereinschneit, der eine besondere Diät einhalten muss. Wir hatten offensichtlich nichts, was als übliches Essen durchgegangen wäre. Da auf einmal entdeckte ich einen schönen roten Delicious-Apfel. »Das ist was Normales!«, dachte ich. Ich nahm ihn heraus und reichte ihn dem Mann mit der Machete. Es schien irgendwie ein bedeutsamer Moment zu sein. In den meisten Kulturen ist das Teilen von Nahrung Ausdruck der Gemeinsamkeit, eine Freundschaftsbezeugung oder Friedenserklärung. Wie ich ihm so den Apfel hinhielt spürte ich, dass er einen Moment lang mit sich kämpfte, um auf seine eigene Art und Weise die Rollen hinter sich zu lassen, in denen wir uns begegnet waren. Auf einmal lächelte er und griff nach dem Apfel. Unvermittelt stand das Bild von E. T. vor mir, wie er seinen leuchtenden Finger ausstreckte. Als sich unsere Hände bei der  Übergabe des Apfels berührten, spürte ich einen subtilen Austausch von Energie.
Wir hatten Geschenke gemacht und Nahrung geteilt. Als dann aber der Englisch sprechende Mann sagte, jetzt würden wir eine kleine Fahrt machen, stieg erneut Angst in mir auf. Ich wusste nicht, wo sie uns hinbringen wollten. Wenn sie uns umbringen wollten, hätten sie es doch ebenso gut hier machen können. Sie erschienen mir nicht professionell genug, um es auf Kidnapping und Lösegeld abgesehen zu haben. Ich schlug ihnen vor, den Wagen zu nehmen und uns hier zu lassen. Wir befanden uns zwar am Ende der Welt aber alles erschien mir besser, als mit ihnen zu fahren. Auf meinen Vorschlag hin wurden mehrfach Blicke ausgetauscht und auf einmal fingen sie wieder an, mich mit ihren Waffen zu bedrohen. Ich verstand. Sobald ich wieder in die Angst-Rolle zurückfiel, wurden sie wieder zu Banditen. »Also gut. Fahren wir!«
Ich setzte mich nach hinten zu Judith und Leila, und schon waren wir unterwegs. Inzwischen hatte ich eine Hose an, und das allein gab mir ein besseres Gefühl. Während eines Teils unserer Fahrt quer durch die Wüste war ich wie in Trance. Als ich auf einmal Lichter sah, spielte ich mit dem Gedanken, die Tür aufzumachen und Judith und Leila rauszuschubsen, falls der Fahrer beim Durchqueren irgendeiner Ortschaft vom Gas gehen sollte.
Dann wiederum fragte ich mich: »Was würde ich tun, wenn ich mit gern gesehenen Gästen unterwegs wäre?« Singen natürlich!
Und so stimmten Judith, Leila und ich ein Lied an:
Listen, listen to my heart's song.
Listen, listen, listen to my heart's song.
I will never forget you, I will never forsake you.
I will never forget you,I will never forsake you.
Leila lachte dabei auf ihre typische unwiderstehliche Art. Dabei hatte sie mal den einen, mal den anderen der Männer im Blick. Ein paar Mal sah ich, wie sie sich krampfhaft bemühten, cool zu bleiben. (»Lass es sein, Kleine! Es hat keinen Zweck. Schließlich bin ich ein Krimineller.«) Dann aber mussten sie doch schmunzeln.
Das Singen schien ihnen zu gefallen. Uns jedenfalls machte es Spaß. Da wurde mir plötzlich bewusst, was für ein schlechter Gastgeber ich war. Sie kannten die Lieder nicht! Ich überlegte einen Moment. Dann kam mir die rettende Idee:
Guantanamera, guajira, guantanamera. Guantanamera....

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Sie fingen an, mitzusingen. Die Energien verbanden sich. Es gab keine Täter und Opfer mehr. Füße klopften im Takt und die Stimmung stieg, während wir weiter durch die nächtliche Wüste fuhren.

Wir kamen durch ein Dorf, ohne dass ich Gelegenheit zur Ausführung meiner großartigen Fluchtidee gehabt hätte. Als wir die Lichter hinter uns gelassen hatten, gelangten wir in eine entlegene, hügelige Gegend. Wir bogen in einen Feldweg ein und das Wohnmobil kam zum Stehen. Judith und ich sahen uns an. Wir dachten beide, dass sie uns jetzt umbringen würden. Eine lange Weile hielten wir unseren Blick.
Dann machten sie die Türen auf und stiegen aus. Sie waren nach Hause gefahren! Offensichtlich lebten sie weit vom Schauplatz ihres Raubzugs entfernt.
Ein paar von ihnen sagten »Adios«, nachdem sie ausgestiegen waren. Schließlich war nur noch unser Englisch sprechender Freund übrig. In gebrochenem Kauderwelsch versuchte er, sich uns verständlich zu machen: »Bitte verzeiht uns. Meine hombres und ich sind arme Leute. Unsere Väter sind arm. Wir verdienen so unser Geld. Es tut uns Leid. wir wussten nicht dass du es warst. Du bist so ein guter Mensch. Und deine Frau und das Kind, sie sind so freundlich.«
Er entschuldigte sich immer wieder. »Ihr seid gute Menschen. Bitte denkt nicht schlecht über uns. Ich hoffe, dass euch das nicht den Urlaub verdirbt.«
Dann griff er in die Tasche und zog mein Portemonnaie heraus. »Hier«, er gab mir meine Mastecard zurück. »Damit können wir nichts anfangen. Die kannst du besser gebrauchen.« Er gab mir auch meinen Führerschein. Und vor den ungläubigen Augen eines seiner hombres drückte er mir noch ein paar mexikanische Geldscheine in die Hand. »Hier, für Benzin.«
Ich war nicht weniger überrascht als seine Männer. Er gibt mir mein Geld zurück! Er möchte die Angelegenheit zwischen uns ins Lot bringen.
Dann nahm er meine Hand. Er sah mir in die Augen, und die Schleier zwischen uns lichteten sich. Nur einen Augenblick lang standen wir so da. Dann sagte er: »Adios« Gott sei mit euch.
Unsere Banditengäste verschwanden in der Nacht. Wir drei fielen uns in die Arme und weinten.
Robert Gass

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Gib die Gabel nicht ab

Der Klang von Marthas Stimme am anderen Ende der Telefonleitung zauberte stets ein Lächeln ins Gesicht von Bruder Jim. Sie war nicht nur eines der ältesten Mitglieder der Kirchengemeinde, sondern auch eines der treuesten. Wo sie auch war und was sie auch tat, Tante Martie (wie die Kinder sie nannten) strahlte Glaube, Hoffnung und Liebe aus.
Diesmal aber hörte sie sich irgendwie merkwürdig an.
»Herr Pfarrer, würden Sie wohl heute Nachmittag kurz bei mir vorbeischauen? Ich muss mit ihnen reden.«
»Aber klar. Ich komme so gegen drei. Passt Ihnen das?«
Als sie einander in der Stille ihres kleinen Wohnzimmers gegenübersaßen, erfuhr Jim, warum ihre Stimme plötzlich so anders geklungen hatte. Martha hatte soeben die Diagnose erhalten, dass sie einen bislang unerkannten Tumor im Körper hatte.
»Der Arzt hat mir noch ungefähr ein halbes Jahr gegeben.« Ungeachtet des Ernstes der Situation wirkte Martha ausgesprochen gefasst.
»Es tut mir Leid...«, doch noch bevor Jim seinen Satz beenden konnte, unterbrach Martha ihn.
»Sagen Sie das nicht. Gott war immer gut zu mir. Ich habe ein langes Leben gehabt. Ich bin bereit zu gehen. Das wissen Sie.«
»Ich weiß«, bestätigte Jim und nickte nachdrücklich.
»Aber ich möchte mit Ihnen über mein Begräbnis reden. Ich habe darüber nachgedacht und es gibt ein paar Dinge, die ich jetzt gerne klären würde.«
Die beiden sprachen lange miteinander Sie redeten über die Kirchenlieder, die Martha am meisten liebte, über die Bibelstellen, die ihr im Laufe der Jahre am stärksten ans Herz gewachsen waren, und über all die vielen gemeinsamen Erinnerungen aus den fünf Jahren, die seit Jims Amtsantritt vergangen waren.
Als alles soweit besprochen schien, hielt Tante Martha einen Moment inne, dann sah sie Jim augenzwinkernd an und meinte: »Noch eine Sache, Herr Pfarrer. Wenn Sie mich begraben, möchte ich in der Hand meine alte Bibel und in der anderen eine Gabel halten.«
»Eine Gabel?« Jim war ja schon einiges untergekommen, aber so etwas hatte er noch nie gehört. »Warum wollen Sie denn mit einer Gabel begraben werden?«
»Ich denke an all die von der Kirche veranstalteten Essen und Bankette, an denen ich im Laufe der Jahre teilgenommen habe«, erklärte sie. »Ich kann sie gar nicht mehr alle einzeln aufzählen. Aber eines werde ich dabei nie vergessen.
Wenn wir so gemütlich beieinander saßen und mit dem Essen fast fertig waren, kam die Bedienung oder auch die Gastgeberin zum Abräumen. Und wenn das Essen besonders gut war, dann lehnte sich mir jedes Mal irgendjemand über die Schulter und flüsterte: >Gib die Gabel nicht ab!< Ich höre es noch wie heute. Wissen Sie, was das bedeutet? Es gab noch eine Nachspeise! Und zwar nicht irgend so einen Becher Götterspeise oder Pudding oder auch Eiskrem. Dafür braucht man keine Gabel. Es gab etwas wirklich Gutes wie Schokoladenkuchen oder Kirschtorte! Wenn mir gesagt wurde, ich solle die Gabel nicht abgeben, wusste ich, dass das Beste noch kommen würde!
Und genau davon sollen die Leute auf meiner Beerdigung reden. Natürlich können sie über all die guten Zeiten reden, die wir zusammen erlebt haben. Das wäre sehr schön.
Aber wenn sie an meinem offenen Sarg vorbeikommen und mich in meinem schönen blauen Kleid betrachten, sollen sie sich gegenseitig ansehen und fragen: >Was soll denn die Gabel?<
Und dann sollen Sie es ihnen sagen: Das Beste kommt erst noch!«
Roger William Thomas

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Der Plätzchendieb

Eines Nachts wartete eine Frau am Flughafen. Ihre Maschine ging erst in ein paar Stunden. So besorgte sie sich ein Buch und eine Tüte Plätzchen und zog sich in einen ruhigen Winkel zurück.
Sie war in die Lektüre vertieft und sah doch, wie sich der Mann neben ihr mit beispielloser Frechheit ein paar Kekse aus der Tüte fischte, die zwischen ihnen stand. Sie ignorierte es, um eine Szene zu vermeiden.
Sie las und knabberte und behielt die Uhr im Blick, während sich der dreiste »Plätzchendieb« weiter an ihrem Vorrat vergriff. Von Minute zu Minute wuchs ihr Zorn und sie dachte: »Wäre ich nicht so nett, würde ich ihm eins aufs Auge geben.«
Jedes Mal, wenn sie in die Tüte gegriffen hatte, griff auch er hinein. Als nur noch ein einziges Plätzchen übrig war, fragte sie sich, was er jetzt wohl tun würde. Er lächelte nervös, angelte den letzten Keks aus der Tüte und brach ihn in der Mitte durch.
Den einen Teil reichte er ihr; den anderen schob er sich selbst in den Mund. Unwirsch nahm sie ihre Hälfte entgegen und dachte: »O Mann! Der Typ hat vielleicht Nerven. Und unverschämt ist er auch noch. Ja, nicht einmal dankbar ist er mir!«
Noch nie war sie so verärgert gewesen, und als ihr Flug endlich aufgerufen wurde, seufzte sie erleichtert auf. Sie suchte ihre Siebensachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Gate, ohne den »undankbaren Dieb« auch nur eines Blickes zu würdigen.
Sie stieg ins Flugzeug ein und ließ sich in ihren Sitz fallen. Dann zog sie das Buch heraus, das sie fast ausgelesen hatte.
Doch als sie in ihre Tasche griff, blieb ihr vor Schreck fast die Luft weg, denn da lag ihre Plätzchentüte unversehrt drin!
»Wenn meine hier sind«, stöhnte sie verzweifelt, »dann waren die anderen seine, und er hat sie mit mir geteilt!« Doch es war zu spät, um sich zu entschuldigen, da half alles nichts. Jetzt stand sie selbst als dreiste, undankbare Diebin da!
Valerie Cox

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Die wahre Geschichte von Arbutus und Seemöwe

Meine Großmutter hatte eine Feindin: Mrs. Wilcox. Gleich nach ihrer Hochzeit wurden die beiden Nachbarinnen, und für den Rest ihres Lebens wohnten sie Tür an Tür in der verschlafenen, von Ulmen gesäumten Hauptstraße der kleinen Stadt. Ich weiß nicht, was der Auslöser für ihren Krieg war - das war lange vor meiner Zeit -, und ich bezweifle, dass sie sich selbst noch daran erinnern konnten, als ich über dreißig Jahre später geboren wurde. Dennoch fochten sie ihn verbissen weiter aus.
Täuschen Sie sich nicht. Es handelte sich hier nicht um bloßes Geplänkel. Es war ein Krieg zwischen Frauen - das heißt der totale Krieg. Nichts in der Stadt blieb davon verschont. Die dreihundert Jahre alte Kirche, die die Revolution, den Bürgerkrieg und den spanisch-amerikanischen Krieg überdauert hatte, ging beinahe den Bach hinunter, als Großmutter und Mrs. Wilcox in die Schlacht um den Frauenwohlfahrtsclub zogen. Großmutter ging zwar siegreich daraus hervor, doch wirkliche Genugtuung brachte ihr das nicht. Nachdem Mrs. Wilcox die Präsidentschaft verwehrt blieb, zog sie sich Knall auf Fall aus dem Club zurück. Und was ist schon Tolles daran, einen Verein zu leiten, wenn man dabei die Todfeindin nicht zu Kreuze kriechen lassen kann? Die Schlacht um die öffentliche Bücherei konnte Mrs. Wilcox für sich entscheiden. Ihre Nichte Gertrude wurde an Stelle meiner Tante Phyllis zur Bibliothekarin ernannt. An dem Tag, an dem Gertrude ihre Stelle antrat, hörte meine Großmutter auf, Bücher aus der Bibliothek zu leihen - sie waren über Nacht zu »dreckigen Bakterienherden« geworden. Fortan kaufte sie sich ihren Lesestoff in der Buchhandlung.
Die Schlacht um die Highschool endete unentschieden. Dem Direktor wurde eine bessere Stelle angeboten; er ging fort, noch bevor Mrs. Wilcox seine Entlassung oder Großmutter seine Bestellung auf Lebenszeit durchsetzen konnte.
Neben diesen großen Gefechten fand ein permanenter Schlagabtausch auf diversen Nebenschauplätzen statt. Wenn wir Kinder unsere Großmutter besuchten, bestand eines unserer größten Vergnügen darin, den unmöglichen Enkelkindern von Mrs. Wilcox - heute weiß ich, dass sie in etwa so unmöglich waren wie wir - Grimassen zu schneiden und Trauben von der Wilcox'schen Seite des Gartenzauns zu klauen. Außerdem jagten wir die Hühner von Mrs. Wilcox und legten Knallfrösche, die wir von den Feierlichkeiten zum 4. Juli aufbewahrt hatten, auf die Straßenbahnschienen, die direkt vor Mrs. Wilcox Haus vorbeiführten, in der vergnüglichen Hoffnung, dass die nächste Bahn darüber fahren und Mrs. Wilcox durch die dabei ausgelöste - und natürlich völlig harmlose - Explosion vor Schreck halb in Ohnmacht fallen würde.
Eines schönen Tages verfrachteten wir eine Schlange in die Wilcox'sche Regentonne. Meine Großmutter legte zwar formellen Protest ein, doch wir hörten ihr stillschweigendes Einverständnis heraus, das so ganz anders klang als das, was in dem strikten Nein meiner Mutter mitschwang, und so reihten wir fröhlich eine Biestigkeit an die andere. Wenn eines meiner Kinder... doch das ist eine andere Geschichte.
Aber glauben Sie bloß nicht, dass es sich da um eine einseitige Angelegenheit handelte. Vergessen Sie nicht, dass auch Mrs. Wilcox Enkelkinder hatte. Zudem waren sie zahlreicher, dreister und cleverer als wir. Meine Großmutter kam also keinesfalls ungeschoren davon. In ihren Keller wurden Stinktiere geschmuggelt. An Halloween flog alles, was nicht niet- und nagelfest war, wie beispielsweise die Gartenmöbel, auf wundersame Weise auf den Giebel der Scheune, und es mussten mehrere kräftige Männer engagiert werden, die die Sachen zu Wucherlöhnen wieder herunterholten.
Kein windiger Waschtag verging, ohne dass die Wäscheleine auf mysteriöse Weise riss, so dass die Laken im Dreck lagen und noch einmal gewaschen werden mussten. Wenn einige dieser Vorfälle vielleicht auch auf höhere Gewalt zurückzuführen waren - sie wurden immer Mrs. Wilcox' Enkeln in die Schuhe geschoben.
Ich weiß nicht wie meine Großmutter solche Plagen hätte aushalten können, wäre da nicht die Hausfrauenseite der Bostoner Tageszeitung gewesen. Die war wirklich unübertrefflich. Neben den üblichen Kochrezepten und Putztipps gab es da nämlich eine Sparte, in der die Leserinnen in aller Öffentlichkeit einen brieflichen Austausch miteinander pflegen konnten. Das funktionierte so, dass jemand, der ein Problem hatte - oder auch nur Dampf ablassen wollte-, unter einem selbst gewählten Namen wie etwa Arbutus an die Zeitung schrieb. Arbutus war das Pseudonym meiner Großmutter. Daraufhin schrieben andere Leserinnen, die das gleiche Problem hatten, zurück und berichteten, was sie selbst in der Sache unternommen hatten. Sie unterzeichneten ihre Briefe mit »Jemand, der Bescheid weiß« oder »Xanthippe« oder wie auch immer. In vielen Fällen wurde der Briefwechsel fortgesetzt, nachdem das eigentliche Problem längst aus der Welt geschafft war, und die Damen tauschten in der Zeitungsspalte Neuigkeiten über ihre Kinder, das Einkochen oder ihre neue Esszimmergarnitur aus.
Das geschah auch im Fall meiner Großmutter. Sie korrespondierte ein Vierteljahrhundert lang mit einer Frau namens Seemöwe und tauschte mit ihr Dinge aus, die sie sonst nie einer Menschenseele verraten hätte - so erzählte sie zum Beispiel davon, wie sie einmal gehofft hatte, wieder schwanger zu sein, es aber dann doch nicht war, oder davon, wie mein Onkel Steve mit Sie-wissen-schon-Was im Haar aus der Schule heimkam und als welche Schande sie das empfunden hatte, obwohl sie die Dinger losgeworden war, noch bevor irgendjemand in der Stadt auch nur den leisesten Verdacht geschöpft hatte. Seemöwe war die Busenfreundin meiner Großmutter.
Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, starb Mrs. Wilcox. In einer kleinen Stadt wie der unseren ist es in einem solchen Fall üblich, bei den Nachbarn vorbeizuschauen und zu fragen, ob man ihnen helfen könne, auch wenn man sie noch so sehr gehasst hatte.
Eine adrette Küchenschürze umgebunden, die zeigen sollte, dass sie ihr Angebot zu helfen durchaus ernst meinte,
schritt meine Großmutter über die beiden Rasenflächen zum Nachbarhaus und die Tochter von Mrs. Wilcox teilte sie im Hinblick auf die Beerdigung zum Putzen des ohnehin makellosen Empfangszimmers ein. Und da, mitten auf dem Tisch der guten Stube, lag ein großes, dickes Heft, in dem feinsäuberlich nebeneinander ihre Briefe an Seemöwe und Seemöwes Briefe an sie eingeklebt waren. Die allergrößte Feindin meiner Großmutter war gleichzeitig ihre allerbeste Freundin gewesen.
Das war das einzige Mal, dass ich meine Großmutter Tränen vergießen sah. Ich wusste damals nicht genau, warum sie eigentlich weinte, aber inzwischen weiß ich es. Sie weinte um all die vergeudeten Jahre, die sie nicht mehr zurückholen konnte. Damals beeindruckten mich nur die Tränen und ihretwegen erinnere ich mich an jenen Tag, an dem es wahrlich Wichtigeres zu erinnern gegeben hätte als die Tränen einer Frau. An jenem Tag dämmerte mir zum ersten Mal, wovon ich inzwischen aus ganzem Herzen überzeugt bin, und wenn ich es irgendwann einmal nicht mehr glauben sollte, dann will ich nicht mehr leben. Und das ist Folgendes:
Ein Mensch mag absolut unmöglich erscheinen. Er mag einem gemein, kleinlich und verlogen vorkommen. Aber wenn du zehn Schritte nach links machst und ihn dir noch einmal aus einem anderen Blickwinkel ansiehst, dann entdeckst du ganz sicher, wie großzügig, warmherzig und liebevoll er ist. Es hängt alles nur von dem Standpunkt ab, von dem aus du ihn betrachtest.
Louise Dickinson Rich

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Lawine

Es war unser Traum von einem Ferienhaus - tausend Quadratmeter phantastischer Grund mit Blick auf einen majestätischen Wasserfall an der rückwärtigen Flanke des Mount Fimpanogos unweit der Hänge von Robert Redfords berühmtem Sundance-Skiparadies. Meine Frau und ich brauchten mehrere Jahre, um das Haus zu entwerfen, zu planen, zu bauen und einzurichten.
Aber es dauerte nur zehn Sekunden, um es dem Erdboden gleichzumachen.
Ich erinnere mich an den Unglücksnachmittag, als sei es gestern passiert. Es war Donnerstag, der 13. Februar 1986, der Tag vor unserem neunten Hochzeitstag. Es hatte den ganzen Tag über heftig geschneit, und es lag etwa ein Meter Neuschnee. Trotz des Wetters wagte meine Frau die dreißigminütige Fahrt von unserem Haus in Provo im Staate Utah durch die Schlucht hinauf zu unserem soeben fertig gestellten Feriendomizil in den Bergen. Unser sechsjähriger Sohn Aaron begleitete sie, als sie am frühen Nachmittag aufbrach. Unterwegs kaufte sie noch ein paar Zutaten für den Kuchen ein, den sie zur Feier des Tages backen wollte. Ich sollte später nachkommen und Aimee, unsere neunjährige Tochter, sowie Hunter, unseren Jüngsten, mitbringen.
Den ersten Hinweis darauf, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte, erhielt ich gegen drei Uhr durch einen Anruf der Skiwacht aus Sundance.
»Es gibt da ein Problem mit Ihrem Haus. Sie sollten am besten gleich herkommen.«
Mehr sagten sie nicht. Obwohl ich in der Abschlussphase eines Buchprojekts steckte und ziemlich unter Termindruck stand, machte ich meinen Computer aus und fuhr so schnell ich konnte über die zugeschneiten Straßen die Schlucht hinauf. Als ich im Skigebiet ankam, nahmen mich der Ortsvorsteher und seine Mannschaft mit düsteren Mienen in Empfang.
»Es hat da ein Unglück bei Ihrem Haus gegeben. Wir vermuten, dass Ihre Frau und Ihr Sohn dort waren. Kommen Sie. Wir nehmen meinen Vierradantrieb.«
Unser Grundstück grenzte an die Hauptskipiste von Sundance und war nur über eine enge, gewundene Bergstraße zu erreichen. Während wir in panischer Eile die Strecke hochjagten, gaben uns die links und rechts des Weges aufgetürmten Schneeberge das Gefühl, uns in einem Labyrinth zu bewegen. Als wir um eine Kurve bogen, kam uns auf der engen Straße ein anderes Fahrzeug entgegen. Beide Fahrer traten voll auf die Bremse und so ging die Kollision noch einmal mit kleineren Blechschäden an beiden Wagen relativ glimpflich aus. Nach einem kurzen Austausch der notwendigen Angaben setzten wir unsere rasante Fahrt über die enge Straße fort, bis sich das Kupferdach des Hauses vor uns erhob.
Beim Näherkommen entdeckte ich meine Frau und meinen Sohn auf der Straße. Sie waren von diversen Mitgliedern der Skiwacht von Sundance umringt. Als ich aus dem Auto sprang und auf sie zurannte, deutete sie auf die Bäume oberhalb des Hauses. Ich war schockiert von dem, was ich da sah.
Eine riesige Lawine war am Berghang abgegangen und hatte eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Dicke Baumstämme waren wie Streichhölzer geknickt. Erst jetzt fiel mein Blick auf das Haus und ich sah, dass die Lawine mitten durch unser Haus gedonnert war Innerhalb von Sekunden waren alle Fenster zerborsten und der Schnee hatte sich tonnenweise in unser großes Esszimmer ergossen. Die Decken waren eingestürzt und von unserem Traumhaus war nicht viel mehr als ein Trümmerhaufen übrig geblieben. Es stand nur noch ein Gerippe. Ringsum lagen zerfetzte Einzelteile unseres sorgfältig ausgewählten Mobiliars. Es war eine so grausige Szene der Zerstörung, dass sie sich mir auf immer ins Gedächtnis eingrub.
Die Mitarbeiter der Skiwacht brachten uns so schnell wie möglich aus der Lawinenzone, da mit neuen Abgängen gerechnet wurde. Als wir nach Hause kamen, befanden wir uns in einem Zustand der Fassungslosigkeit und des Schocks. Ich muss zugeben, dass uns der Verlust des Hauses wirklich an die Nieren ging. Noch Monate später fragte ich mich manchmal, warum ausgerechnet wir solches Pech haben mussten. Wie konnte Gott nur so etwas zulassen?
Damit könnte ich meine Geschichte enden lassen. Aber dann würden Sie nie von dem Wunder erfahren, das am selben Tag geschah. In der Tat habe ich selbst es erst acht Monate später entdeckt.
Bei einer geschäftlichen Besprechung stellte mir einer meiner Kollegen eine scheinbar harmlose Frage:
»Hat dir deine Frau eigentlich erzählt, dass sie und meine Frau am Tag des Lawinenunglücks beinahe mit dem Auto zusammengestoßen wären?«
»Nein«, erwiderte ich. »Was ist denn passiert?«
»Nun, meine Frau und unsere Jungs verbrachten ein paar Tage in unserem Ferienhaus in Sundance. Wegen der Schneefälle beschlossen sie, früher als geplant nach Hause zu fahren. Vor ihrer Abfahrt schlug einer der Jungen vor, für eine sichere Heimreise zu beten. Sie senkten die Köpfe, sprachen ihr kurzes Gebet und machten sich dann auf den Weg über die schmale Straße hinunter ins Tal. Deine Frau kam ihr entgegen. Sie sah meine Frau und die Jungs in unserem Suburban. Als meine Frau bremste, blieb der Wagen nicht stehen, sondern geriet ins Rutschen. Auf der glatten, abschüssigen Strecke wurde er immer schneller. Sie konnte nichts dagegen tun. Bevor es zum Zusammenstoß kam, riss sie im letzten Moment das Steuer herum, sodass sich die Front des Suburban in die Schneebank auf der einen und das Heck in die auf der anderen Straßenseite bohrte. Sie stellte sich vor deiner Frau regelrecht quer. Über eine Stunde lang versuchten sie, den Wagen wieder frei zu bekommen, aber dann mussten sie doch Hilfe aus dem Ort holen.«
»Das ist ja ein Ding!«, meinte ich. »Meine Frau hat mir gar nichts davon erzählt.«
Wir machten uns noch eine Weile über den »Unfall« lustig, bevor jeder wieder seiner Wege ging. Erst dann wurde mir die Sache mit einem Schlag klar. Hätte es nicht diese »Beinahe-Kollision« gegeben, wären meine Frau und mein Sohn zweifellos in der Lawine ums Leben gekommen!
Ich habe oft über diesen »Unfall« nachgedacht. Ich stelle mir vor, wie meine Frau genervt in ihrem Wagen saß, als der Suburban ihr den Weg zu unserem Ferienhaus versperrte. Ich habe die Frau meines Freundes vor Augen, der die Sache bestimmt ziemlich peinlich gewesen ist. Ich sehe ihre Söhne, die sicher aufgeregt waren und sich vielleicht fragten, ob Gott die Gebete der Menschen wirklich erhört.
Die ganze Zeit über schimpfte wohl jeder der Beteiligten innerlich darüber, in was für eine blöde Situation er da ge raten war. Und doch zeigt sich aus der Distanz, dass sie alle - ohne es zu wissen - an einem Wunder teilhaben durften. Seither spreche ich nicht mehr so schnell von einer »Katastrophe«, wenn in meinem Leben ab und zu etwas schief läuft. Habe ich später mehr Informationen in der Hand und kann die Sache im Gesamtzusammenhang betrachten, stelle ich oftmals fest, dass wieder einmal ein Wunder geschehen ist. Wenn ein »Unglück« passiert, versuche ich mich zu fragen: »Welches Wunder versucht Gott aus diesem Unglück zu schmieden?«
Und anstatt zu fragen: »Warum ausgerechnet ich, Gott?«, sage ich einfach: »Danke, Gott!«
Und dann warte ich ab, bis ich alle Teile zu dem Puzzle in der Hand halte.
Robert G. Allen

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Der Rand

In der Nacht bevor ich nach Israel aufbrach, führten wir dieselben Gespräche, wie wir sie schon die ganze Woche über geführt hatten. »Warum ausgerechnet nach Israel?«, fragte mein Vater in demselben Tonfall, in dem er »Warum China?«, »Warum Russland?« oder »Warum« irgendein anderes Land gefragt hatte, in das ich reisen wollte. »Du weißt doch, dass da Krieg herrscht«, fügte er hierzu. »Ja, ich weiß, Vater. Überall auf der Welt gibt es Kriege«, antwortete ich. Darin wollte er wissen, warum ich bereit sei, mich solchen Gefahren auszusetzen. Und schließlich bekam ich die Worte zu hören, die ich mein Leben lang gehört hatte: »Du hast mir noch nie zugehört. Warum sollte ich davon ausgehen, dass du mir diesmal zuhörst?« Und in der für ihn so typischen Art schloss er die Augen, seufzte tief und schüttelte den Kopf.
Wann immer wir eine dieser »Diskussionen« hatten, versuchte meine Schwester Kristy die Spannung zu lösen. Obwohl sie schon lange erkannt hatte, dass sie damit kein Glück haben würde, versuchte sie es dennoch jedes Mal aufs Neue. »Warum fährst du nicht nach England zur Sommerakademie, Kath?«, schlug sie vor »Da ist es nicht gefährlich.« Sie hatten wie immer nichts verstanden.
In meiner Familie hat mich nie jemand wirklich verstanden. Ich entsprach einfach nicht der Vorstellung, die sie von meinem Leben hatten. England war mir nicht aufregend genug. Ich wollte irgendwohin, wo ich etwas anderes erleben konnte. Meine Seele war immer rastlos und sehnte sich danach, unbekanntes Territorium zu erkunden. Meine Mutter meinte, ich hätte etwas von einem »Zigeuner« im Blut.
Altersmäßig liegen meine Schwester und ich dreieinhalb Jahre auseinander, aber zwischen ihrer und meiner Art zu leben liegen Welten. Sie ist konservativ und in sich gekehrt. Ich gehe zu viele Risiken ein und richtig still bin ich nur, wenn ich schlafe. Seit ich erwachsen bin, habe ich die meiste Zeit damit zugebracht, mich bei meiner Schwester und der übrigen Familie dafür zu entschuldigen, dass ich anders bin, weil ich sie wieder einmal mit der Art, mich zu kleiden, zu reden oder zu handeln blamiert habe.
Ich bin so eine Frau, die mit einem Hut voller Obst und einem leuchtend bunten Kleid aufzutauchen wagt, wo alle anderen in Schwarz herumlaufen. Ich bin so eine, die bei einer Abendgesellschaft den falschen Witz erzählt. Oder die bei einem alten, schnulzigen Film im Kino losheult. Wie überaus peinlich für die anderen! Jemand hat mir einmal gesagt, dass er mich nicht um meine Aufgabe beneidet, die Emotionen für die gesamte Familie ausleben zu müssen.
Weil meine Schwester so anders ist als ich - oder weil ich so anders bin als sie -, sind wir uns nicht besonders nahe. Je älter wir werden und je mehr wir zu tun haben, desto seltener sehen wir uns, obwohl wir nicht einmal einen Kilometer voneinander entfernt wohnen. Wenn wir uns dann doch einmal sehen, spüre ich, wie sie die Luft anhält und nur darauf wartet, dass ich etwas »Falsches« tue oder sage, während ich auf glühenden Kohlen laufe und darum bete, dass ich es nicht tun möge, um es dann unweigerlich doch zu tun.
Nachdem sich meine Schwester am wenigsten über meine Reisepläne für diesen Sommer aufzuregen schien, bat ich sie demütig, mich zum Flughafen zu bringen. »Kein Problem«, meinte sie und fügte beiläufig hinzu: »Aber sag Vater nichts davon!« Ich stimmte lächelnd zu. Nicht dass unser Vater ein Tyrann wäre. Wir wissen, dass er uns über alles liebt. Das lässt sich allein an all den Opfern ablesen, die er für uns erbracht hat. Ich hätte nicht Jura studiert, wenn er nicht gewesen wäre. Er macht sich einfach nur Sorgen und es fällt ihm schwer, Sorgen und Liebe auseinander zu halten.
Am nächsten Tag auf dem Weg zum Flughafen war meine Schwester schweigsam wie immer. Aber zum ersten Mal, seit ich mich zu dieser Reise entschlossen hatte, fragte sie mich nach meinen Plänen: Wo ich hinwolle, wo ich bleiben würde. Sie schien wirklich interessiert.
In meiner Familie sind emotionale Abschiedsszenen nicht üblich und so machte sich meine Schwester mit einem »Mach's gut« und einem schnellen »Ich mag dich auch« aus dem Staub. Ich war traurig, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mich einfach nicht verstand. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass sie mit mir käme, wusste aber gleichzeitig, dass sie das niemals tun würde.
Nach dem Einchecken suchte ich mir meinen Platz und machte es mir gemütlich. Als ich meine Handtasche aufmachte, die meine Schwester vor der Abfahrt zum Flughafen im Kofferraum verstaut hatte, fand ich neben meinem Pass, den Traveller-Schecks und anderen wichtigen Dingen einen kleinen weißen Umschlag, auf dem in der Handschrift meiner Schwester »Kath« geschrieben stand. Ich machte ihn auf und zog eine Gute-Reise-Grußkarte heraus. Der Cartoon auf der Vorderseite war wirklich witzig. Meine Familie liebte diese lustigen Karten, und diese hier war nichts anderes - das war zumindest mein erster Eindruck.
Aber als ich die Karte aufgeklappt und gelesen hatte, erkannte ich, dass meine Schwester - von der ich gerade noch geglaubt hatte, dass sie mich einfach nicht verstehen könnte - mich eben doch verstand. Es schien mir, als wünschte sich ein kleiner Teil von ihr  hier bei mir zu sein; vielleicht war es jener kleine Teil, der immer gern mit mir getauscht hätte. Im Inneren der Karte hatte sie auf einer Seite geschrieben:
Ich bewundere dich dafür, dass du das Leben in so vollen Zügen genießen kannst. Ich liebe dich.
Deine Schwester Kristy
Und auf der Rückseite stand:

Apollo stand hoch oben auf der Klippe; »Kommt an den Rand«, sagte er.

»Wir können nicht«, sagten die anderen. »Es ist zu steil.«
»Kommt an den Rand«, sagte er.
»Wir können nicht«, sagten die anderen. »Es ist zu steil.« »Kommt an den Rand«, sagte er.
»Wir können nicht«, sagten die anderen. »Wir würden in die Tiefe stürzen.«
Und sie kamen und er schubste sie
und sie flogen.
An jenem Tag zeigte mir meine Schwester für einen kleinen Augenblick eine höchst schätzenswerte Seite von sich, eine Seite, die sie mir noch nie zuvor gezeigt hatte. Oder vielleicht hatte ich nie genau genug hingesehen. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah ich durch das Fenster zum Terminal hinüber. Und da stand meine Schwester am Aussichtsfenster und winkte mir zu. Als das Flugzeug vom Gate zurücksetzte, sah ich, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie sagten: »Ich liebe dich.« Ich erwiderte ihr Lachen, weil ich zum ersten Mal wusste, dass sie es wirklich meinte.

Kathleen Louise Smiley

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Gute Nachrichten

Nachdem der berühmte argentinische Golfspieler Robert de Vincenzo wieder einmal ein Turnier gewonnen, seinen Scheck entgegengenommen und für die Pressefotografen posiert hatte, machte er sich auf den Weg zum Clubhaus, um seine Sachen zu packen. Als er kurz darauf zum Parkplatz ging, wurde er von einer jungen Frau angesprochen. Sie gratulierte Ihm zu seinem Sieg und dann erzählte sie ihm von ihrem Kind; es sei lebensgefährlich erkrankt und sie wisse nicht, wie sie die Arzt- und Krankenhausrechnungen bezahlen solle.
De Vincenzo war so gerührt, dass er seinen Stift zückte und den soeben erhaltenen Scheck mit seiner Siegerprämie auf die Frau übertrug. »Bereiten Sie Ihrem Baby eine paar gute Tage«, mit diesen Worten übergab er ihr den Scheck.
In der darauf folgenden Woche saß der Argentinier gerade beim Mittagessen in einem Country-Club, als ein Funktionär des Profigolfverbands zu ihm an den Tisch kam: »Ein paar von den Jungs auf dem Parkplatz haben mir erzählt, dass Sie dort nach Ihrem Turniersieg eine junge Frau getroffen haben.« De Vincenzo nickte. »Nun«, fuhr der Mann fort. »Ich muss Ihnen etwas sagen. Sie ist eine Betrügerin. Sie hat gar kein krankes Baby. Sie ist noch nicht einmal verheiratet. Sie hat Sie übers Ohr gehauen, mein Freund.«
»Wollen Sie damit sagen, es gibt gar kein Baby, das im Sterben liegt?«, erkundigte sich De Vincenzo.
»Ja, das stimmt«,bestätigte der Mann.
»Das sind die besten Nachrichten, die ich diese Woche bekommen habe!«, sagte sich De Vincenzo.
Aus »The Best of Bits & Pieces«

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Rollen - und wie wir sie spielen

Wann immer ich mit einer Lebenssituation hadere, halte ich einen Moment lang inne und denke an den kleinen Jamie Scott. Jamie hatte sich für eine Rolle bei der Schultheateraufführung beworben. Seine Mutter meinte, er wolle sie unbedingt bekommen, aber sie befürchtete, dass man ihn nicht nehmen würde. An dem Tag, an dem die Rollen vergeben worden waren, begleitete ich sie, um ihren Sohn von der Schule abzuholen. Als Jamie auf sie zurannte, leuchteten seine Augen vor Stolz und Begeisterung: »Weißt du was, Mama?«, rief er. Und die Worte, die dann folgten, werden mir immer eine Lehre sein: »Ich bin ausgewählt worden, um Beifall zu klatschen und die anderen anzufeuern!«
Marie Curling

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Wir sagten ihm nie, dass er es nicht schaffen würde

Als mein Sohn Joey geboren wurde, waren seine Füße nach oben gedreht, sodass die Fußsohlen am Bauch anlagen. Er war mein erstes Kind und es erschien mir zwar seltsam, aber ich wusste nicht recht was es eigentlich zu bedeuten hatte. Es bedeutete, dass Joey mit zwei Klumpfüßen zur Welt gekommen war. Die Ärzte versicherten uns, dass er mit der entsprechenden Behandlung einmal gehen könnte; nur das schnelle Laufen würde wohl immer schwierig sein. Joeys erste drei Lebensjahre bestanden aus Operationen, Gipsverbänden und Stützapparaten. Seine Beine wurden massiert, bearbeitet und durch ständige Übungen aktiviert, sodass man Ihm zu seinem siebten oder achten Lebensjahr beim Gehen kaum noch ansah, dass er einmal Probleme damit gehabt hatte.
Nur wenn längere Strecken zu Fuß zu bewältigen waren, zum Beispiel bei Ausflügen in Vergnügungsparks oder bei Zoobesuchen, klagte er, dass seine Füße müde waren oder wehtaten. Dann machten wir eine Pause, tranken eine Limo oder aßen ein Eis und redeten darüber, was wir gesehen hatten oder noch sehen wollten. Wir sagten Ihm nie, warum Ihm die Beine wehtaten oder warum sie schwach waren. Wir sagten ihm nicht, dass dies etwas damit zu tun hatte, dass er mit einer Fehlbildung zur Welt gekommen war. Wir sagten es Ihm nicht und so wusste er es nicht.
Die Kinder in unserer Nachbarschaft rannten beim Spielen umher, wie Kinder es nun einmal tun. Wenn Joey sie sah, sprang er natürlich auch auf und rannte hin, um mitzuspielen. Wir sagten Ihm nie, dass er wahrscheinlich nicht so gut würde laufen können wie die anderen Kinder. Wir sagten Ihm nicht, dass er anders sei. Wir sagten es ihm nicht und so wusste er es nicht.
Als er in der siebten Klasse war, beschloss er, sich der Langstreckenlauf-Mannschaft anzuschließen. Er trainierte täglich. Es schien, als würde er härter arbeiten und mehr laufen als die anderen in seiner Mannschaft. Vielleicht spürte er instinktiv, dass sich ihm die Fähigkeiten, die anderen womöglich in den Schoß fielen, nicht ganz so leicht erschlossen. Wir sagten ihm nicht, dass er - selbst wenn er laufen konnte - in seiner Mannschaft wahrscheinlich immer das Schlusslicht bilden würde. Wir sagten Ihm nicht dass er nicht erwarten dürfe, ins »Team« aufzurücken. Zum Team gehören nur die sieben besten Läufer der Schule. Auch wenn die gesamte Mannschaft läuft, sind es doch nur diese sieben, die das Potenzial dazu haben, Punkte für die Schule zu holen. Wir sagten ihm nicht, dass er wohl nie ins Team aufrücken würde, und so wusste er es nicht.
Er lief etwa vier bis fünf Meilen. Jeden Tag. Ich werde nie vergessen, wie er einmal fast vierzig Fieber hatte. Er konnte nicht zu Hause bleiben, weil er Lauftraining hatte. Ich sorgte mich den ganzen Tag und wartete jeden Moment darauf, dass mich die Schule anrufen und bitten würde, ihn vorzeitig abzuholen. Das Telefon blieb stumm.
Nach Schulschluss fuhr ich zum Sportplatz. Vielleicht so dachte ich, würde er das Training doch ausfallen lassen, wenn er mich dort sah. Als ich auf das Gelände kam, lief er gerade ganz allein eine Allee entlang. Ich fuhr an den Straßenrand und ließ den Wagen langsam rollen, sodass er mit mir Schritt halten konnte. Ich fragte ihn, wie es ihm ginge. »Gut«, sagte er. Er hatte nur noch zwei Meilen vor sich. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht und seine Augen waren glasig vom Fieber. Trotzdem war sein Blick geradeaus gerichtet und er lief weiter. Wir hatten ihm nie gesagt, dass er mit fast vierzig Fieber keine vier Meilen laufen konnte. Wir haben es ihm nie gesagt und so wusste er es nicht.
Zwei Wochen später - am Tag vor dem vorletzten Rennen der Saison - wurden die Namen des Teams bekannt gegeben. Joey stand als Nummer sechs auf der Liste. Die anderen sechs Mitglieder des Teams waren alle in der achten Klasse. Wir hatten ihm nie gesagt, dass er wohl nie ins Team aufrücken würde. Wir hatten ihm nie gesagt, dass er es nicht schaffen könnte... So hat er es nicht gewusst. Er hat es einfach getan.
Kathy Lamancusa

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Vierzehn Stufen

Eine Katze, so heißt es, habe neun Leben, und ich halte das für durchaus möglich, bin ich doch selbst schon beim dritten Leben angelangt - und dabei bin ich noch nicht einmal eine Katze.
Mein erstes Leben begann an einem klaren, kalten Novembertag im Jahr 1904, als ich als sechstes von acht Kindern eines Farmerehepaars das Licht der Welt erblickte. Mein Vater starb, als ich fünfzehn war, und wir mussten hart kämpfen, um uns über Wasser zu halten. Meine Mutter blieb zu Hause und kochte Kartoffeln, Bohnen, Maisbrei und Gemüse, während wir anderen loszogen, um mit Gelegenheitsjobs ein bisschen Geld zu verdienen - viel ist es nie gewesen.
Später dann heirateten meine Geschwister einer nach dem anderen, sodass am Ende außer mir nur noch eine Schwester übrig blieb, um für meine Mutter zu sorgen, die in ihren letzten Lebensjahren gelähmt war und mit noch nicht einmal siebzig Jahren starb. Kurz darauf heiratete meine Schwester, und ich folgte ihrem Beispiel noch im selben Jahr.
Ab diesem Zeitpunkt fing ich an, mein erstes Leben zu genießen. Ich war glücklich, gesund und körperlich ziemlich fit. Meine Frau und ich bekamen zwei wunderbare Töchter. Ich hatte einen guten Job in San José und ein schönes Haus auf der Halbinsel vor San Carlos.
Das Leben war wie ein schöner Traum.
Dann ging der Traum zu Ende und wich einem dieser schrecklichen Albträume, die einen mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen lassen. Ich lift unter einer schleichenden Nervendegeneration, die erst meinen rechten Arm und mein rechtes Bein beeinträchtigte und sich dann an der anderen Körperseite bemerkbar machte.
Dann fing mein zweites Leben an...
Ungeachtet meiner Krankheit fuhr ich weiterhin tagtäglich zur Arbeit nachdem mein Wagen entsprechend umgerüstet worden war. Und es gelang mir, meine körperliche Fitness und meinen Optimismus zumindest zu einem gewissen Grad zu bewahren; dass dies so ist verdanke ich vierzehn Stufen.
Das klingt verrückt? Keineswegs!
Unser Haus hat zwei Ebenen, und von der Garage zur Küchentür führt eine Treppe mit vierzehn Stufen. Diese Stufen waren mein Maßstab. Sie waren die Herausforderung, ,die ich brauchte, um weiterzuleben. Wenn ich eines Tages nicht mehr in der Lage sein würde, den einen Fuß auf die nächste Treppenstufe zu setzen und dann den zweiten unter Schmerzen hinterherzuziehen -und das Ganze vierzehnmal zu wiederholen, bis ich völlig erschöpft oben angekommen war -, dann, so hatte ich beschlossen, würde ich mich geschlagen geben, mich ins Bett legen und sterben.
Und so blieb ich am Ball und bezwang diese Stufen. Darüber verging die Zeit. Die Mädchen gingen aufs College und heirateten, und meine Frau und ich blieben allein in unserem schönen Haus mit den vierzehn Stufen zurück.
Vielleicht stellen Sie sich jetzt vor, es hier mit einem Mann zu tun zu haben, der die ganze Zeit über vor Mut und Kraft nur so strotzte. Doch da irren Sie sich! Dieser Mann war ein verbitterter, enttäuschter Krüppel - ein Mann, der sich an vierzehn elende Treppenstufen zwischen Garage und Küchentür klammerte, um nicht den Verstand zu verlieren; um seine Frau und sein Zuhause nicht aufzugeben.
Während ich Fuß um Fuß über diese Stufen hochzog - langsam, unter großen Schmerzen, mit vielen Pausen dazwischen -, ließ ich gelegentlich meine Gedanken zu den Jahren zurückschweifen, in denen ich Ball gespielt, gegolft, im Fitnessstudio trainiert hatte und gewandert, geschwommen, gelaufen und gesprungen war. Und jetzt war ich kaum mehr in der Lage, ein paar Treppenstufen hochzukommen.
Mit zunehmendem Alter wurde ich immer verbitterter und frustrierter. Ich bin sicher, meine Frau und meine Freunde hatten es nicht leicht mit mir, wenn ich ihnen wieder einmal Einblick in meine Lebensphilosophie gewährte. Ich hielt mich für den einzigen Menschen auf der Welt, der zum Leiden auserkoren war. Ich hatte mein Kreuz mittlerweile neun Jahre lang getragen und dachte, ich müsste es wohl so lange weitertragen, wie ich noch die vierzehn Stufen hinaufkommen konnte.
Ich beschloss, die tröstenden Worte aus dem ersten Brief an die Korinther zu ignorieren: »Plötzlich, in einem Augenblick... werden wir verwandelt werden.« (1.Kor. 15,52) Und so verbrachte ich mein erstes und mein zweites Leben hier auf Erden.
Dann, an einem düsteren Abend im August 1971, begann mein drittes Leben. Als ich an jenem Morgen das Haus verließ, hatte ich keine Ahnung, dass mir eine solch dramatische Veränderung bevorstand. Ich wusste nur, dass es an diesem Tag schwerer als sonst gewesen war, die Treppe hinunterzukommen. Mir grauste schon bei dem Gedanken, sie abends wieder hinaufklettern zu müssen.
Als ich mich auf den Heimweg machte, goss es in Strömen. Windböen trieben den Regen schwallweise gegen die Windschutzscheibe, als ich langsam eine wenig befahrene Straße entlangfuhr. Plötzlich verriss es mir das Steuer, und das Auto brach nach rechts aus. Gleichzeitig hörte ich den gefürchteten Knall eines platzenden Reifens. Nur mit Mühe konnte ich den Wagen auf dem regenglatten Seitenstreifen zum Stehen bringen. Erst dann wurde mir klar, in welch furchtbare Lage ich geraten war. Wie sollte ich den Reifen wechseln?! Ich konnte es einfach nicht!
Den Gedanken, dass vielleicht ein anderer Autofahrer anhalten würde, verwarf ich sofort. Warum sollte irgendjemand stehen bleiben? Ich wusste, dass das keiner tun würde! Dann fiel mir ein, dass ein Stück weiter die Straße entlang ein Haus stand. Ich startete den Motor und holperte im Schritttempo voran. Dabei hielt ich mich so gut es ging auf dem Seitenstreifen, bis ich zu der Einfahrt kam. Dankbar bog ich ein. Die beleuchteten Fenster schienen mich willkommen zu heißen, und so fuhr ich vor das Haus und drückte auf die Hupe.
Die Tür ging auf und eine kleines Mädchen stand da und schaute zu mir herüber. Ich kurbelte das Fenster hinunter und rief ihr zu, dass ich einen Platten hätte und Hilfe zum Reifenwechseln bräuchte, weil ich an Krücken ging und es allein nicht könnte.
Sie ging ins Haus und kam kurz darauf, in Regenmantel und Hut gut vermummt, wieder heraus. In ihrem Gefolge war ein Mann, der mich freundlich grüßte.
Ich saß bequem im Trockenen und als der Mann und das Mädchen im Regen schufteten, taten sie mir richtig Leid. Nun, ich würde sie dafür bezahlen. Der Regen ließ ein wenig nach, und so kurbelte ich das Fenster ganz hinunter, um ihnen zuzusehen. Es schien mir, als wären die beiden furchtbar langsam, und ich wurde allmählich ungeduldig. Ich hörte ein metallisches Klappern von hinten und dann die deutliche Stimme des Mädchens: »Hier ist der Wagenheber, Opa.« Der Mann murmelte eine Antwort und ich spürte, wie sich das Auto beim Anheben etwas zur Seite neigte.
Dann folgten über längere Zeit hinweg Geräusche, Gerüttel und leise Gespräche am Wagenheck. Schließlich war es geschafft. Ich fühlte, wie das Auto mit einem Satz auf dem Boden landete, als der Wagenheber entfernt wurde. Dann wurde der Kofferraum zugeschlagen und schließlich tauchten die beiden an meinem Seitenfenster auf.
Der Mann war alt und gebeugt und in seiner Öljacke wirkte er zerbrechlich. Das kleine Mädchen war schätzungsweise zwischen acht und zehn. Sie lächelte mich strahlend an.
Der Mann sagte: »Nicht gerade der ideale Abend für eine Autopanne. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung!«
»Danke«, sagte ich. »Danke. Was bin ich Ihnen schuldig?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Cynthia hat mir gesagt, dass Sie behindert sind. Dass Sie an Krücken gehen. Ich habe Ihnen gern geholfen. Ich weiß, dass Sie für mich das Gleiche tun würden. Das kostet nichts, mein Freund.«
Ich hielt ihm eine Fünfdollarnote entgegen. »Nein. Es ist mir lieber, wenn ich etwas zahlen kann.«
Er unternahm nichts, um sie entgegenzunehmen. Das kleine Mädchen trat näher ans Fenster heran und flüsterte:
»Mein Opa kann das nicht sehen.«
Ein paar Sekunden lang war ich wie erstarrt vor Scham und Entsetzen. Es war mir so übel wie noch nie in meinem Leben. Ein blinder Mann und ein Kind! Die mit kalten, klammen Fingern in der Dunkelheit nach Schrauben und Werkzeug tasteten - in einer Dunkelheit, die für den Mann wahrscheinlich bis zum Tode andauern würde.
Sie hatten mir einen Reifen gewechselt - bei Wind und Wetter. Und ich hatte die ganze Zeit bequem mit meiner Krücke im warmen Auto gesessen. Ich mit meiner Behinderung. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch so dasaß, nachdem sich die beiden von mir verabschiedet hatten und ins Haus zurückgegangen waren - aber lange genug, um in mich zu gehen und einige Züge an mir zu entdecken, die mir gar nicht gefielen.
Ich erkannte, dass ich geradezu überquoll vor Selbstmitleid, Egoismus, Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit den Bedürfnissen anderer gegenüber.
Ich saß da und betete. In aller Demut betete ich um Kraft, ein besseres Verständnis, eine schärfere Selbstwahrnehmung und den Glauben, meine Unzulänglichkeiten durch tägliche Gebete um spirituellen Beistand überwinden zu können.
Ich betete um Segen für den blinden Mann und seine Enkeltochter. Und dann fuhr ich weiter, innerlich aufgerüttelt und von einem neuen Gefühl der Demut beseelt.
»Alles, was ihr also von anderen erwartet das tut auch ihr! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.« Matt. 7,12
Heute, Monate später, ist diese Ermahnung für mich mehr als nur ein Bibelspruch. Sie ist eine Lebensweise - eine Le ensweise, der ich gerecht zu werden versuche. Das ist nicht immer einfach. Manchmal ist es frustrierend, und gelegentlich kostete es mich viel Zeit und Geld, aber es lohnt sich auf jeden Fall.
Heute versuche ich nicht nur, jeden Tag die vierzehn Treppenstufen hinaufzukommen, sondern auf meine bescheidene Weise auch anderen zu helfen. Eines Tages werde ich vielleicht einem blinden Mann den Reifen wechseln - jemandem, der so blind ist wie ich es einmal war.
Hal Manwaring

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Das Geheimnis von Himmel und Hölle

Der alte Mönch saß am Wegesrand. Mit geschlossenen Augen, gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen saß er da. Er war tief in Meditation versunken.
Plötzlich wurde sein Zazen von der harschen, fordernden Stimme eines Samurai-Kriegers unterbrochen: »Alter Mann! Lehre mich, was es mit Himmel und Hölle auf sich hat!«
Zunächst zeigte der Mönch keine Reaktion, gerade so, als hätte er die Frage nicht gehört. Doch allmählich öffnete er die Augen, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln, als er den Samurai in seiner ganzen Ungeduld vor sich stehen sah und spürte, wie dieser von Sekunde zu Sekunde immer unruhiger wurde.
Endlich brach der Mönch sein Schweigen: »Du möchtest etwas über die Geheimnisse von Himmel und Hölle erfahren? Du in deinem zerzausten Zustand? Du mit deinen schmutzigen Händen und Füßen? Du mit deinen ungekämmten Haaren, deinem übel riechenden Atem, deinem rostigen, verrotteten Schwert? So hässlich wie du bist? In den komischen Kleidern, in die dich deine Mutter gesteckt hat? Du willst von mir etwas über Himmel und Hölle wissen?«
Der Samurai stieß einen wilden Fluch aus. Dann zog er sein Schwert und erhob es. Während er ausholte, um dem Mönch den Kopf abzuschlagen, war sein Gesicht puterrot verfärbt und am Nacken traten ihm die Venen in dicken Strängen heraus.
»Das ist die Hölle«, sagte der Mönch leise, als das Schwert niederzufahren begann.
Für den Bruchteil einer Sekunde war der Samurai überwältigt vor Staunen, Ehrfurcht, Mitgefühl und Liebe für dieses sanfte Wesen, das sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm eine solche Lehre zu erteilen. Gerade rechtzeitig konnte er das niedersausende Schwert abfangen. Tränen der Dankbarkeit standen ihm in den Augen.
»Und das«, sagte der Mönch, »das ist der Himmel.«
Fr. John W Groff Jr.

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Es ist nie zu spät

Vor einigen Jahren erlebte ich während eines Kommunikationstrainings etwas wirklich Außergewöhnliches. Der Kursleiter bat uns, einmal all die Dinge aus unserer Vergangenheit aufzulisten, für die wir uns schämten, die uns Schuldgefühle machten, wegen derer wir uns unzulänglich fühlten oder die wir bedauerten. In den darauf folgenden Wochen gab er uns Gelegenheit, laut vorzulesen, was wir aufgeschrieben hatten. Das war eine ziemlich heikle Angelegenheit, aber wie immer gab es auch diesmal einige tapfere Seelen in der Gruppe, die sich freiwillig meldeten. Während die anderen ihre Listen vorlasen, wurde meine immer länger. Nach drei Wochen umfasste sie einhundertundeinen Punkt. Anschließend forderte uns der Kursleiter auf, nach Wegen der Wiedergutmachung zu suchen - etwa indem wir uns bei bestimmten Menschen entschuldigten oder uns überlegten, was zu tun sei, um den einen oder anderen Fehler wieder auszubügeln. Ich fragte mich ernsthaft, was das mit der Verbesserung meiner Kommunikationsfähigkeiten zu tun haben sollte. Bevor ich so etwas auf mich genommen hätte, hätte ich lieber einem Großteil der Menschen in meinem Leben den Rücken gekehrt.
In der darauf folgenden Woche meldete sich mein Sitznachbar und trug folgende Geschichte vor:
Als ich meine Liste zusammenstellte, fiel mir eine Begebenheit aus meiner Highschool-Zeit ein. Ich bin in einer kleinen Stadt in Iowa aufgewachsen. Es gab dort einen Sheriff, den keiner von uns Jugendlichen mochte. Eines Abends beschlossen zwei meiner Freunde und ich, Sheriff Brown einen Streich zu spielen. Nachdem wir schon ein paar Bier getrunken hatten, besorgten wir uns eine Dose rote Farbe, kletterten auf den Wasserturm im Zentrum der Stadt und pinselten in leuchtend roten Lettern darauf »Sheriff Brown ist ein S. 0. B. (shabby old bastard).« Mit dem Anbruch des neuen Tages war unsere glorreiche Inschrift für jedermann deutlich zu sehen. Es dauerte keine zwei Stunden, bis Sheriff Brown uns in seine Amtsstube zitiert hatte. Meine Freunde gestanden, ich aber verleugnete meine Mittäterschaft. Die Wahrheit kam nie ans Licht.
Fast zwanzig Jahre später schrieb ich den Namen von Sheriff Brown auf meine Liste. Ich wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Am vergangenen Wochenende rief ich die Auskunft in meiner Heimatstadt an. Und tatsächlich, da gab es immer noch einen Roger Brown. Ich wählte seine Nummer. Nachdem es ein paar Mal geklingelt hatte, meldete sich eine Stimme. »Hallo?« »Sheriff Brown?«, fragte ich. Pause. »Ja.« »Also, ich bin Jimmy Calkins. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich es getan habe.« Pause. »Ich habe es gewusst!«, brüllte er los. Dann lachten wir und unterhielten uns eine Weile angeregt miteinander. Zum Abschied meinte er: »Jimmy, du hast mir immer Leid getan, weil deine Freunde die Sache von der Seele hatten. Du dagegen musstest sie all die Jahre mit dir herumschleppen. Danke, dass du mich angerufen hast... um deinetwillen!«
Jimmys Beispiel ermutigte mich, alle einhundertein Punkte von meiner Liste zu klären. Ich habe fast zwei Jahre dazu gebraucht, aber die Sache wurde zum Sprungbrett und der Triebfeder meiner Karriere als Konfliktmediatorin. Wie schwierig eine Auseinandersetzung, Krise oder Situation auch sein mag, ich denke öfter daran, dass es nie zu spät ist, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen und nach Lösungen zu suchen.

Marilyn Manning

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Die Endstation

Irgendwo in den Tiefen unseres Unterbewusstseins verbirgt Sich eine idyllische Vision. Wir sehen uns auf einer langen Reise, die den ganzen Kontinent umspannt. Wir sind mit dem Zug unterwegs. Am Fenster ziehen Landschaften vorbei, fahrende Autos, winkende Kinder an einem Bahnübergang, weidende Kühe auf einem entlegenen Hang, die rauchenden Schlote eines Kraftwerks, eine endlose Folge von Mais- und Weizenfeldern, von Ebenen und Tälern, von Bergen und Hügeln, Städten und Dörfern.
Ganz zuoberst in unserem Kopf aber ist das letztendliche Ziel. An einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde werden wir in die Endstation einfahren. Kapellen werden spielen und Flaggen wehen. Und sind wir erst einmal da, werden viele wunderbare Träume Wirklichkeit und es ist, als würden sich die Einzelteile unseres Lebens wie bei einem Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Wie rastlos wir in den Gängen hin- und herrennen, wie wir jede Verzögerung verfluchen, während wir warten, warten, warten, dass wir die Endstation endlich erreichen.
»Wenn wir unser Ziel erst einmal erreicht haben, dann ist alles gut!«, schreien wir. »Wenn ich achtzehn bin!« »Wenn ich einen neuen Mercedes Benz 450 SL habe!« »Wenn ich das letzte Kind durchs College geschleust habe!« »Wenn ich die Hypothek abbezahlt habe!« »Wenn ich die Beförderung in der Tasche habe!« »Wenn ich erst einmal in Rente bin, dann kann ich endlich in Glück und Frieden leben!«
Früher oder später müssen wir erkennen, dass es keine Endstation gibt - keinen Ort, an dem wir ankommen und für immer bleiben. Die wahre Freude des Lebens liegt im Reisen an sich. Die Endstation ist nur ein Traum. Sie entzieht sich uns permanent.
»Genieße den Augenblick«, ist ein guter Leitspruch, besonders wenn wir ihn gemeinsam mit Psalm 118,24 betrachten: »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns an ihm freuen.« Es sind nicht die Bürden des heutigen Tages, die den Menschen um den Verstand bringen. Es ist das Hadern mit dem Gestern und die Angst vor dem Morgen. Bedauern und Furcht sind die beiden Diebe, die uns das Heute stehlen.
Hört auf, in den Gängen hin- und herzuhasten und die zurückgelegten Meilen zu zählen. Klettert stattdessen lieber öfter auf Berge, esst Eis, geht öfter barfuß, schwimmt in Flüssen, schaut euch Sonnenuntergänge an, lacht mehr und weint nicht so oft. Das Leben muss im Vorübergehen gelebt werden. Zur Endstation gelangen wir noch früh genug.
Robert J. Hastings