Wie ein blindes Mädchen mit ein wenig
Zauberei sehen konnte
Mein Freund Whit ist ein professioneller
Zauberer, und er war einmal von einem Restaurant in Los Angeles engagiert
worden, um jeden Abend von Tisch zu Tisch zu gehen und den Gästen
aus unmittelbarer Nähe seine Tricks vorzuführen. Eines Abends
kam er an einen Tisch, an dem eine Familie saß. Nachdem er sich vorgestellt
hatte, zog er einen Stapel Karten hervor und fing mit seinen Zauberkünsten
an. Er wandte sich an ein Mädchen, das mit am Tisch saß, und
bat sie, eine Karte zu ziehen. Da sagte ihm der Vater des Mädchens,
dass seine Tochter Wendy blind sei.
Whit erwiderte: »Das macht nichts.
Wenn sie dazu bereit ist möchte ich den Zaubertrick trotzdem probieren.«
An das Mädchen gewandt fuhr er fort: »Möchtest du mir bei
meinem Zaubertrick helfen, Wendy?«
Ein wenig schüchtern zuckte sie
die Achseln und sagte:
»Okay.«
Whit setzte sich ihr am Tisch gegenüber
und sagte: »Ich werde jetzt eine Spielkarte hochhalten, Wendy, und
sie ist entweder rot oder schwarz. Ich möchte, dass du mit Hilfe deines
sechsten Sinns errätst, welche Farbe die Karte hat - rot oder schwarz.
Hast du verstanden?« Wendy nickte.
Whit hielt den Kreuz-König hoch
und sagte: »Wendy, ist diese Karte rot oder schwarz?« Nach
kurzer Bedenkzeit antwortete das Mädchen: »Schwarz.« Die
anderen am Tisch lächelten.
Whit hielt die Herz-Sieben hoch: »Rot
oder schwarz, Wendy?«
»Rot«, lautete die Antwort.
Als nächstes hielt ihr Whit die
Karo-Drei hin. Abermals fragte er: »Rot oder schwarz?«
Ohne zu zögern antwortete Wendy:
»Rot!« Die anderen kicherten nervös. Er zog noch drei
weitere Karten und jedes Mal lag das blinde Mädchen mit seiner Antwort
richtig. Einfach unglaublich! Sie hatte alle sechs erraten! Kaum zu fassen,
dass sie solches Glück gehabt hatte.
Bei der siebten Karte hielt Whit die
Herz-Fünf hoch und meinte: »Wendy, kannst du mir diesmal den
Wert und die genaue Farbreihe sagen - also Herz, Karo, Kreuz oder Pik?«
Nach ein paar Augenblicken war sich Wendy
sicher:
»Herz-Fünf« Ein Raunen
ging um den Tisch. Das war ja kaum zu glauben!
Wendys Vater fragte Whit, ob er da einen
Zaubertrick vorführte oder ob das etwas mit echter Magie zu tun hatte.
Whit entgegnete: »Das müssen Sie Wendy fragen.«
Der Mann wandte sich an seine Tochter:
»Wie hast du das gemacht, Wendy?« Das Mädchen aber lächelte
und meinte:
»Es ist Zauberei!« Whit schüttelte
den Erwachsenen die Hand, nahm Wendy in den Arm, hinterließ seine
Visitenkarte und verabschiedete sich. Er hatte in der Tat einen magischen
Moment geschaffen, den die Familie wohl nie wieder vergessen würde.
Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet,
wie es Wendy gelungen war, die Farbe der Karten zu erraten. Whit war ihr
in dem Restaurant zum ersten Mal begegnet und so hatte er keinerlei Gelegenheit
gehabt, ihr im Vorhinein zu sagen, welche Karten rot und welche schwarz
waren. Und als Blinde konnte Wendy unmöglich erkennen, was für
eine Karte er ihr hinhielt. Wie also hatte sie es dennoch wissen können?
Dieses Wunder, das selbst im Leben eines
Zauberers durchaus als etwas Einmaliges gelten kann, war durch einen Geheimcode
und eine gute Portion Geistesgegenwart zu Stande gekommen. Whit hatte früher
einmal eine Art »Fuß- Code« entwickelt, um sich ohne
Worte mit einem anderen Menschen verständigen zu können. Bis
zu jenem Augenblick in dem Restaurant hatte er nie Gelegenheit gehabt,
ihn auszuprobieren. Als sich Whit gegenüber von Wendy an den Tisch
setzte und sagte: »Ich werde jetzt eine Spielkarte hochhalten und
sie ist entweder rot oder schwarz«, tippte er bei dem Wort »rot«
einmal und bei »schwarz« zweimal (unter dem Tisch) gegen ihren
Fuß. Um ganz sicherzugehen, dass sie es auch begriffen hatte, wiederholte
er das Ganze noch einmal: »Ich möchte, dass du mit Hilfe deines
sechsten Sinns errätst, welche Farbe die Karte hat - rot (tap) oder
schwarz (tap-tap). Hast du verstanden?« Als sie nickte, wusste er,
dass sie den Geheimcode verstanden hatte und bereit war, sein Spiel mitzuspielen.
Die anderen gingen davon aus, dass sich sein »Hast du verstanden?«
allein auf seine mündliche Anweisung bezog.
Und wie hatte er ihr nun zu verstehen
gegeben, dass er eine Herz-Fünf in der Hand hielt? Ganz einfach. Er
tippte ihr fünfmal gegen den Fuß, um ihr die Fünf zu übermitteln,
Und als er sie fragte, ob es Herz, Pik, Kreuz oder Karo sein, tippte er
ihren Fuß bei dem Wort »Herz« an.
Aber das eigentlich Magische an der Geschichte
ist die Wirkung, die das Ganze auf Wendy hatte. Nicht nur, dass sie für
ein paar Augenblicke im Mittelpunkt stand und vor den Augen der ganzen
Familie auf einmal eine tolle Figur machte. Auch zu Hause wurde sie ein
regelrechter Star, denn allen Freunden wurde erzählt, über welche
beeindruckenden übersinnlichen Fähigkeiten sie verfügte.
Ein paar Monate nach diesem Erlebnis
bekam Whit ein Paket von Wendy. Es enthielt einen Satz Braille-Spielkarten
und einen Brief. Darin bedankte sie sich bei ihm dafür, dass sie sich
mit seiner Hilfe als etwas Besonderes habe fühlen dürfen und
sie durch ihn - wenn auch nur für ein paar Augenblicke - habe »sehen«
können. Sie habe ihrer Familie immer noch nicht verraten, wie der
Trick funktioniert hat, obwohl die anderen sie immer wieder danach fragten.
Wenn sie ihr nun einen Satz Braille-Spielkarten schicke, so schrieb sie
weiter, dann sei dies als Anregung gedacht, sich noch mehr Tricks für
blinde Menschen auszudenken.
Michael Jeffreys
...
Nächtliche Besucher
Es war ein Familienabenteuerurlaub. Meine
Frau Judith, unsere zweijährige Tochter Leila und ich haben ein kleines
Wohnmobil gemietet und uns auf die Reise quer durch Südkalifornien
gemacht. Am Tag vor unserer Rückkehr nach San Diego parkten wir den
Wagen ganz in der Nähe des Strandes, um unsere letzte Nacht in der
Natur zu verbringen.
Mitten in der Nacht weckte mich Judith
mit einem unsanften Rippenstoß und raunte mir ins Ohr, ich solle
aufstehen und nach dem Rechten sehen. Zuerst drang nichts als Lärm
und Geklopfe an mein Ohr. Im Halbschlaf ließ ich mich aus unserer
kleinen Schlafkoje gleiten und stand splitterfasernackt da, vor mir die
Windschutzscheibe.
Was ich sah, riss mich unvermittelt aus
meiner Trance. Unser Wohnmobil war von maskierten Männern umzingelt,
die gegen die Scheiben schlugen.
Ich habe viele Abenteuerfilme gesehen
und mich immer gefragt, wie ich mich wohl fühlen oder wie ich reagieren
würde, wenn ich selbst einmal in eine gefährliche Situation geriete.
Nun, ich bin sofort in die Rolle des Helden geschlüpft. Ich hatte
keine Angst. Ich dachte nur daran, meine Familie zu beschützen.
Ich duckte mich, kroch zum Fahrersitz
vor und drehte den Zündschlüssel um. Der Wagen war während
unserer Reise mindestens fünfzigmal problemlos angesprungen. Diesmal
versuchte er durchzustarten, spuckte ein paar Mal und erstarb dann. Ich
hörte Glas splittern und eine Hand griff durch das Seitenfenster auf
der Fahrerseite. Ich zerschmetterte die Hand (von wegen Gewaltfreiheit!).
Meine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Pazifismus hatte im Eifer
des Gefechts keine Chance. Im Nachhinein habe ich mir oft gedacht, wie
gut es ist dass ich in diesem Moment keine Pistole hatte. Ich hätte
sie wahrscheinlich benutzt.
Das splitternde Glas hatte mir die Hand
blutig geschnitten. Ich glaubte, noch eine Chance zu haben, den Wagen doch
noch starten zu können. In meiner Phantasie hatte ich tausend Mal
den erfolgreichen Helden gespielt und so zweifelte ich keinen Augenblick
daran, dass ich es schaffen würde. Ich drehte den Schlüssel um.
Die Maschine sprang an ... und erstarb dann wieder. Dann rammte mir jemand
einen Gewehrkolben in die Kehle. Ich weiß noch, wie ich dachte: »Soll
das heißen, dass ich meine Familie nicht verteidigen kann?«
Der Gedanke überraschte mich irgendwie.
Einer der Banditen sprach ein paar Brocken
Englisch. Er schrie: »Geld! Geld!« Mit dem Gewehrkolben an
der Kehle griff ich unter den Fahrersitz und reichte einem der Männer
durch die zerbrochene Scheibe meine Brieftasche. Ich hoffte, damit ware
die Sache erledigt.
Doch weit gefehlt.
Mit einem Griff durch die kaputte Fensterscheibe
öffneten sie die Wagentür. Der Mann mit dem Gewehr stieß
mich unsanft zu Boden. Dann kamen sie herein.
Sie sahen aus wie mexikanische Banditen
aus einem zweitklassigen Film. Sie hatten sich die typischen Halstücher
vors Gesicht gebunden. Sie waren zu viert: der mit dem Gewehr, einer mit
einem rostigen Tranchiermesser, einer mit einer riesigen Machete und einer,
der keine Waffe trug. Ich war irgendwie überrascht, dass sie keine
Patronengürtel über die Schulter geworfen hatten. Vielleicht
waren ihre Waffen in Wirklichkeit nur Attrappen aus dem Film-Fundus.
Während einer mir das Gewehr an
den Hals drückte und mich so am Boden hielt, fingen die Banditen an,
das Wohnmobil zu zerlegen. Dabei schrien sie auf Spanisch herum.
Es ist interessant; solange ich in der
Lage war, etwas zu tun (oder zumindest glaubte, etwas tun zu können),
wie den Wagen zu starten oder meine Familie zu verteidigen, fürchtete
ich mich nicht, obwohl ich sicher mehr als genug Adrenalin im Blut hatte.
Als ich aber dann nackt am Boden lag und den kalten Stahl an der Kehle
spürte, fühlte ich mich plötzlich hilflos. Und dann bekam
ich es mit der Angst zu tun. Ich fing an zu zittern.
Das war eine interessante Situation.
Ich schaffte es fast, mich voll und ganz auf meine Angst zu konzentrieren.
Meine Aufmerksamkeit wich nur um Haaresbreite ab. In einem vorübergehenden
Anflug von Klarheit sagte ich mir, dass dies der optimale Moment sei, um
zu meditieren und um Führung zu bitten.
In meinem Inneren hörte ich eine
deutliche Stimme die Textstelle aus Psalm 23 zitieren: »Du deckst
mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.«
Eine andere Stimme in mir protestierte:
»Was?!... Was soll denn das bedeuten?«
Dann sah ich vor meinem geistigen Auge,
wie ich den Banditen ein Festmahl servierte. Ich dachte: »Ich lebe
in einer Welt, in der ich von Gangstern angegriffen werde, ich leiste Widerstand
und es spielen sich üble Szenen ab.
Und wenn es anders wäre? Wenn ich
es nicht mit Banditen zu tun hätte? Wenn es alte Freunde wären,
die in dieser kalten Wüstennacht auf einen Besuch hereingeschneit
kämen? Was wäre, wenn ich mich freuen würde, sie zu sehen
und sie mit offenen Armen als Gäste empfangen würde? Was wäre,
wenn ich den Tisch für sie decken würde?«
Während ein Teil von mir sich grauenhafte
Szenen von Vergewaltigung und Mord ausmalte, tat sich in meinem Inneren
ein Ort der Klarheit und Stille auf, der von dieser neuen Möglichkeit
fasziniert war. Auch sie sind Kinder Gottes. Wie viele Male habe ich erklärt,
dass es meine Aufgabe sei, anderen zu dienen? Nun, jetzt ist die Gelegenheit
da!
Ich betrachtete die Banditen aus diesem
Zustand der inneren Achtsamkeit. »Halt! Das sind keine Gangster!
Das sind ja noch Kinder!«
Urplötzlich fiel mir auf, wie jung,
wie unerfahren und ungeschickt diese »Banditen« eigentlich
waren. Auch sie waren nervös. Ihre Gewalt und Schreierei schien eher
das Produkt ihrer Angst als ihrer Macht zu sein. Und mit ihrem Herumgezerre
machten sie alles kaputt und brachten sich so um einen Großteil ihrer
Beute. In einem ziemlich sonderbaren Geistesblitz erkannte ich, dass »den
Tisch decken« in diesem Augenblick bedeutete, ihnen dabei zu helfen,
uns besser auszurauben. Ich wandte mich an den jungen Mann, der Englisch
sprach: »He, euch geht das Beste durch die Lappen! Unter dem Stapel
da drüben liegt eine tolle Kamera.«
Er sah mich verdutzt an.
Dann rief er einem der anderen etwas
auf Spanisch zu, und der zog die Kamera dort heraus, wo ich gesagt hatte.
»Fünfunddreißig Millimeter... Macht tolle Aufnahmen«,
erklärte ich bereitwillig.
Noch einmal wandte ich mich an den Englisch
sprechenden jungen Mann: »Deine Freunde richten ein fürchterliches
Chaos an. Auf diese Weise werdet ihr einiges übersehen. Ich bin gern
bereit, euch zu zeigen, wo die wirklich guten Sachen sind.«
Er sah mich ungläubig an. Meine
Antworten passten eindeutig nicht in sein Bild von Räubern und deren
Opfern. Doch als ich dann tatsächlich zeigte, wo wir noch weitere
Wertsachen versteckt hatten, wich sein Misstrauen. Ich bot an, Ihm und
seinen Freunden die Sachen selbst zu geben.
Schon bald waren wir mitten in einer
Art Auktion. »Schöne Gitarre!« Ich zupfte ein paar Akkorde.
»Kann einer von euch spielen? Hier, willst du sie haben?... Sony
Walkman, Kopfhörer, Batterien, ein paar Kassetten! Wer will sie haben?«
Ich dachte an die indianische Tradition des Weiterschenkens von Geschenken.
Angesichts unserer unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten schien
es irgendwie gerecht, dass sie jetzt unsere Wertsachen bekamen. Es war,
als würden Vermögenswerte ausgeglichen. Langsam fing es an, mir
zu gefallen, sie zu beschenken. Ich überlegte, was von unserem Hab
und Gut ihnen wohl am besten gefallen würde.
Auch wenn mein ungewöhnliches Verhalten
nicht ohne Auswirkung auf die allgemeine Stimmung geblieben war, hatte
sich an der eigentlichen Situation nichts Grundlegendes geändert.
Der junge Mann mit dem Tranchiermesser schien besonders unberechenbar.
Vielleicht stand er unter Drogen. Alle paar Minuten schubste er mich oder
schrie mich an. Sein englischer Wortschatz schien sich auf »Drogen!«,
»Schnaps!« und »Mehr Geld!« zu beschränken.
Er fand eine kleine Flasche Lomotil (ein Durchfallmittel) in einer Küchenschublade.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass er mit dem Medikament nichts anfangen
könne, doch als er deshalb grob mit mir wurde, konnte ich mich zugegebenermaßen
des Gedankens nicht erwehren: »Das geschieht dir recht!«
Mein Englisch sprechender »Freund«
übernahm mehr und mehr die Rolle des Beschwichtigers.
Nun, wir hatten alles weggegeben, was
wir hatten. Mein Blick wanderte nach hinten in den Wagen, wo Judith und
Leila in einer Decke eingewickelt kauerten. Judith malte sich in Gedanken
natürlich auch allerhand Horrorszenarien von Vergewaltigung und Kindesentführung
aus. Leila, die in ihren zwei Lebensjahren noch keinem einzigen Menschen
begegnet war, der nicht »gut« zu ihr gewesen wäre, stellte
die ganze Zeit über immer wieder Fragen wie: »Papa, wer sind
diese netten Männer?«
Ich fragte mich, was wohl als Nächstes
kommen würde. Auf einmal hörte ich mich sagen: »Habt ihr
Hunger?« Der Englisch sprechende junge Mann übersetzte meine
Frage. Vier Paar ungläubige Augen ruhten auf mir, als ich den Kühlschrank
aufmachte. Jetzt hatten wir aber ein kulturspezifisches Problem. Als ich
die Regale voll mit Tofu, Sprossen, Joghurt und die Nussbutter betrachtete,
fühlte ich mich auf einmal so verloren, wie wenn man Leute zum Abendessen
einlädt und plötzlich jemand hereinschneit, der eine besondere
Diät einhalten muss. Wir hatten offensichtlich nichts, was als übliches
Essen durchgegangen wäre. Da auf einmal entdeckte ich einen schönen
roten Delicious-Apfel. »Das ist was Normales!«, dachte ich.
Ich nahm ihn heraus und reichte ihn dem Mann mit der Machete. Es schien
irgendwie ein bedeutsamer Moment zu sein. In den meisten Kulturen ist das
Teilen von Nahrung Ausdruck der Gemeinsamkeit, eine Freundschaftsbezeugung
oder Friedenserklärung. Wie ich ihm so den Apfel hinhielt spürte
ich, dass er einen Moment lang mit sich kämpfte, um auf seine eigene
Art und Weise die Rollen hinter sich zu lassen, in denen wir uns begegnet
waren. Auf einmal lächelte er und griff nach dem Apfel. Unvermittelt
stand das Bild von E. T. vor mir, wie er seinen leuchtenden Finger ausstreckte.
Als sich unsere Hände bei der Übergabe des Apfels berührten,
spürte ich einen subtilen Austausch von Energie.
Wir hatten Geschenke gemacht und Nahrung
geteilt. Als dann aber der Englisch sprechende Mann sagte, jetzt würden
wir eine kleine Fahrt machen, stieg erneut Angst in mir auf. Ich wusste
nicht, wo sie uns hinbringen wollten. Wenn sie uns umbringen wollten, hätten
sie es doch ebenso gut hier machen können. Sie erschienen mir nicht
professionell genug, um es auf Kidnapping und Lösegeld abgesehen zu
haben. Ich schlug ihnen vor, den Wagen zu nehmen und uns hier zu lassen.
Wir befanden uns zwar am Ende der Welt aber alles erschien mir besser,
als mit ihnen zu fahren. Auf meinen Vorschlag hin wurden mehrfach Blicke
ausgetauscht und auf einmal fingen sie wieder an, mich mit ihren Waffen
zu bedrohen. Ich verstand. Sobald ich wieder in die Angst-Rolle zurückfiel,
wurden sie wieder zu Banditen. »Also gut. Fahren wir!«
Ich setzte mich nach hinten zu Judith
und Leila, und schon waren wir unterwegs. Inzwischen hatte ich eine Hose
an, und das allein gab mir ein besseres Gefühl. Während eines
Teils unserer Fahrt quer durch die Wüste war ich wie in Trance. Als
ich auf einmal Lichter sah, spielte ich mit dem Gedanken, die Tür
aufzumachen und Judith und Leila rauszuschubsen, falls der Fahrer beim
Durchqueren irgendeiner Ortschaft vom Gas gehen sollte.
Dann wiederum fragte ich mich: »Was
würde ich tun, wenn ich mit gern gesehenen Gästen unterwegs wäre?«
Singen natürlich!
Und so stimmten Judith, Leila und ich
ein Lied an:
Listen, listen to my heart's song.
Listen, listen, listen to my heart's
song.
I will never forget you, I will never
forsake you.
I will never forget you,I will never
forsake you.
Leila lachte dabei auf ihre typische
unwiderstehliche Art. Dabei hatte sie mal den einen, mal den anderen der
Männer im Blick. Ein paar Mal sah ich, wie sie sich krampfhaft bemühten,
cool zu bleiben. (»Lass es sein, Kleine! Es hat keinen Zweck. Schließlich
bin ich ein Krimineller.«) Dann aber mussten sie doch schmunzeln.
Das Singen schien ihnen zu gefallen.
Uns jedenfalls machte es Spaß. Da wurde mir plötzlich bewusst,
was für ein schlechter Gastgeber ich war. Sie kannten die Lieder nicht!
Ich überlegte einen Moment. Dann kam mir die rettende Idee:
Guantanamera, guajira, guantanamera.
Guantanamera....
Ich hatte ins Schwarze getroffen. Sie fingen
an, mitzusingen. Die Energien verbanden sich. Es gab keine Täter und
Opfer mehr. Füße klopften im Takt und die Stimmung stieg, während
wir weiter durch die nächtliche Wüste fuhren.
Wir kamen durch ein Dorf, ohne dass ich
Gelegenheit zur Ausführung meiner großartigen Fluchtidee gehabt
hätte. Als wir die Lichter hinter uns gelassen hatten, gelangten wir
in eine entlegene, hügelige Gegend. Wir bogen in einen Feldweg ein
und das Wohnmobil kam zum Stehen. Judith und ich sahen uns an. Wir dachten
beide, dass sie uns jetzt umbringen würden. Eine lange Weile hielten
wir unseren Blick.
Dann machten sie die Türen auf und
stiegen aus. Sie waren nach Hause gefahren! Offensichtlich lebten sie weit
vom Schauplatz ihres Raubzugs entfernt.
Ein paar von ihnen sagten »Adios«,
nachdem sie ausgestiegen waren. Schließlich war nur noch unser Englisch
sprechender Freund übrig. In gebrochenem Kauderwelsch versuchte er,
sich uns verständlich zu machen: »Bitte verzeiht uns. Meine
hombres und ich sind arme Leute. Unsere Väter sind arm. Wir verdienen
so unser Geld. Es tut uns Leid. wir wussten nicht dass du es warst. Du
bist so ein guter Mensch. Und deine Frau und das Kind, sie sind so freundlich.«
Er entschuldigte sich immer wieder. »Ihr
seid gute Menschen. Bitte denkt nicht schlecht über uns. Ich hoffe,
dass euch das nicht den Urlaub verdirbt.«
Dann griff er in die Tasche und zog mein
Portemonnaie heraus. »Hier«, er gab mir meine Mastecard zurück.
»Damit können wir nichts anfangen. Die kannst du besser gebrauchen.«
Er gab mir auch meinen Führerschein. Und vor den ungläubigen
Augen eines seiner hombres drückte er mir noch ein paar mexikanische
Geldscheine in die Hand. »Hier, für Benzin.«
Ich war nicht weniger überrascht
als seine Männer. Er gibt mir mein Geld zurück! Er möchte
die Angelegenheit zwischen uns ins Lot bringen.
Dann nahm er meine Hand. Er sah mir in
die Augen, und die Schleier zwischen uns lichteten sich. Nur einen Augenblick
lang standen wir so da. Dann sagte er: »Adios« Gott sei mit
euch.
Unsere Banditengäste verschwanden
in der Nacht. Wir drei fielen uns in die Arme und weinten.
Robert Gass
...
Gib die Gabel nicht ab
Der Klang von Marthas Stimme am anderen
Ende der Telefonleitung zauberte stets ein Lächeln ins Gesicht von
Bruder Jim. Sie war nicht nur eines der ältesten Mitglieder der Kirchengemeinde,
sondern auch eines der treuesten. Wo sie auch war und was sie auch tat,
Tante Martie (wie die Kinder sie nannten) strahlte Glaube, Hoffnung und
Liebe aus.
Diesmal aber hörte sie sich irgendwie
merkwürdig an.
»Herr Pfarrer, würden Sie
wohl heute Nachmittag kurz bei mir vorbeischauen? Ich muss mit ihnen reden.«
»Aber klar. Ich komme so gegen
drei. Passt Ihnen das?«
Als sie einander in der Stille ihres
kleinen Wohnzimmers gegenübersaßen, erfuhr Jim, warum ihre Stimme
plötzlich so anders geklungen hatte. Martha hatte soeben die Diagnose
erhalten, dass sie einen bislang unerkannten Tumor im Körper hatte.
»Der Arzt hat mir noch ungefähr
ein halbes Jahr gegeben.« Ungeachtet des Ernstes der Situation wirkte
Martha ausgesprochen gefasst.
»Es tut mir Leid...«, doch
noch bevor Jim seinen Satz beenden konnte, unterbrach Martha ihn.
»Sagen Sie das nicht. Gott war
immer gut zu mir. Ich habe ein langes Leben gehabt. Ich bin bereit zu gehen.
Das wissen Sie.«
»Ich weiß«, bestätigte
Jim und nickte nachdrücklich.
»Aber ich möchte mit Ihnen
über mein Begräbnis reden. Ich habe darüber nachgedacht
und es gibt ein paar Dinge, die ich jetzt gerne klären würde.«
Die beiden sprachen lange miteinander
Sie redeten über die Kirchenlieder, die Martha am meisten liebte,
über die Bibelstellen, die ihr im Laufe der Jahre am stärksten
ans Herz gewachsen waren, und über all die vielen gemeinsamen Erinnerungen
aus den fünf Jahren, die seit Jims Amtsantritt vergangen waren.
Als alles soweit besprochen schien, hielt
Tante Martha einen Moment inne, dann sah sie Jim augenzwinkernd an und
meinte: »Noch eine Sache, Herr Pfarrer. Wenn Sie mich begraben, möchte
ich in der Hand meine alte Bibel und in der anderen eine Gabel halten.«
»Eine Gabel?« Jim war ja
schon einiges untergekommen, aber so etwas hatte er noch nie gehört.
»Warum wollen Sie denn mit einer Gabel begraben werden?«
»Ich denke an all die von der Kirche
veranstalteten Essen und Bankette, an denen ich im Laufe der Jahre teilgenommen
habe«, erklärte sie. »Ich kann sie gar nicht mehr alle
einzeln aufzählen. Aber eines werde ich dabei nie vergessen.
Wenn wir so gemütlich beieinander
saßen und mit dem Essen fast fertig waren, kam die Bedienung oder
auch die Gastgeberin zum Abräumen. Und wenn das Essen besonders gut
war, dann lehnte sich mir jedes Mal irgendjemand über die Schulter
und flüsterte: >Gib die Gabel nicht ab!< Ich höre es noch
wie heute. Wissen Sie, was das bedeutet? Es gab noch eine Nachspeise! Und
zwar nicht irgend so einen Becher Götterspeise oder Pudding oder auch
Eiskrem. Dafür braucht man keine Gabel. Es gab etwas wirklich Gutes
wie Schokoladenkuchen oder Kirschtorte! Wenn mir gesagt wurde, ich solle
die Gabel nicht abgeben, wusste ich, dass das Beste noch kommen würde!
Und genau davon sollen die Leute auf
meiner Beerdigung reden. Natürlich können sie über all die
guten Zeiten reden, die wir zusammen erlebt haben. Das wäre sehr schön.
Aber wenn sie an meinem offenen Sarg
vorbeikommen und mich in meinem schönen blauen Kleid betrachten, sollen
sie sich gegenseitig ansehen und fragen: >Was soll denn die Gabel?<
Und dann sollen Sie es ihnen sagen: Das
Beste kommt erst noch!«
Roger William Thomas
...
Der Plätzchendieb
Eines Nachts wartete eine Frau am Flughafen.
Ihre Maschine ging erst in ein paar Stunden. So besorgte sie sich ein Buch
und eine Tüte Plätzchen und zog sich in einen ruhigen Winkel
zurück.
Sie war in die Lektüre vertieft
und sah doch, wie sich der Mann neben ihr mit beispielloser Frechheit ein
paar Kekse aus der Tüte fischte, die zwischen ihnen stand. Sie ignorierte
es, um eine Szene zu vermeiden.
Sie las und knabberte und behielt die
Uhr im Blick, während sich der dreiste »Plätzchendieb«
weiter an ihrem Vorrat vergriff. Von Minute zu Minute wuchs ihr Zorn und
sie dachte: »Wäre ich nicht so nett, würde ich ihm eins
aufs Auge geben.«
Jedes Mal, wenn sie in die Tüte
gegriffen hatte, griff auch er hinein. Als nur noch ein einziges Plätzchen
übrig war, fragte sie sich, was er jetzt wohl tun würde. Er lächelte
nervös, angelte den letzten Keks aus der Tüte und brach ihn in
der Mitte durch.
Den einen Teil reichte er ihr; den anderen
schob er sich selbst in den Mund. Unwirsch nahm sie ihre Hälfte entgegen
und dachte: »O Mann! Der Typ hat vielleicht Nerven. Und unverschämt
ist er auch noch. Ja, nicht einmal dankbar ist er mir!«
Noch nie war sie so verärgert gewesen,
und als ihr Flug endlich aufgerufen wurde, seufzte sie erleichtert auf.
Sie suchte ihre Siebensachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Gate,
ohne den »undankbaren Dieb« auch nur eines Blickes zu würdigen.
Sie stieg ins Flugzeug ein und ließ
sich in ihren Sitz fallen. Dann zog sie das Buch heraus, das sie fast ausgelesen
hatte.
Doch als sie in ihre Tasche griff, blieb
ihr vor Schreck fast die Luft weg, denn da lag ihre Plätzchentüte
unversehrt drin!
»Wenn meine hier sind«, stöhnte
sie verzweifelt, »dann waren die anderen seine, und er hat sie mit
mir geteilt!« Doch es war zu spät, um sich zu entschuldigen,
da half alles nichts. Jetzt stand sie selbst als dreiste, undankbare Diebin
da!
Valerie Cox
...
Die wahre Geschichte von Arbutus und Seemöwe
Meine Großmutter hatte eine Feindin:
Mrs. Wilcox. Gleich nach ihrer Hochzeit wurden die beiden Nachbarinnen,
und für den Rest ihres Lebens wohnten sie Tür an Tür in
der verschlafenen, von Ulmen gesäumten Hauptstraße der kleinen
Stadt. Ich weiß nicht, was der Auslöser für ihren Krieg
war - das war lange vor meiner Zeit -, und ich bezweifle, dass sie sich
selbst noch daran erinnern konnten, als ich über dreißig Jahre
später geboren wurde. Dennoch fochten sie ihn verbissen weiter aus.
Täuschen Sie sich nicht. Es handelte
sich hier nicht um bloßes Geplänkel. Es war ein Krieg zwischen
Frauen - das heißt der totale Krieg. Nichts in der Stadt blieb davon
verschont. Die dreihundert Jahre alte Kirche, die die Revolution, den Bürgerkrieg
und den spanisch-amerikanischen Krieg überdauert hatte, ging beinahe
den Bach hinunter, als Großmutter und Mrs. Wilcox in die Schlacht
um den Frauenwohlfahrtsclub zogen. Großmutter ging zwar siegreich
daraus hervor, doch wirkliche Genugtuung brachte ihr das nicht. Nachdem
Mrs. Wilcox die Präsidentschaft verwehrt blieb, zog sie sich Knall
auf Fall aus dem Club zurück. Und was ist schon Tolles daran, einen
Verein zu leiten, wenn man dabei die Todfeindin nicht zu Kreuze kriechen
lassen kann? Die Schlacht um die öffentliche Bücherei konnte
Mrs. Wilcox für sich entscheiden. Ihre Nichte Gertrude wurde an Stelle
meiner Tante Phyllis zur Bibliothekarin ernannt. An dem Tag, an dem Gertrude
ihre Stelle antrat, hörte meine Großmutter auf, Bücher
aus der Bibliothek zu leihen - sie waren über Nacht zu »dreckigen
Bakterienherden« geworden. Fortan kaufte sie sich ihren Lesestoff
in der Buchhandlung.
Die Schlacht um die Highschool endete
unentschieden. Dem Direktor wurde eine bessere Stelle angeboten; er ging
fort, noch bevor Mrs. Wilcox seine Entlassung oder Großmutter seine
Bestellung auf Lebenszeit durchsetzen konnte.
Neben diesen großen Gefechten fand
ein permanenter Schlagabtausch auf diversen Nebenschauplätzen statt.
Wenn wir Kinder unsere Großmutter besuchten, bestand eines unserer
größten Vergnügen darin, den unmöglichen Enkelkindern
von Mrs. Wilcox - heute weiß ich, dass sie in etwa so unmöglich
waren wie wir - Grimassen zu schneiden und Trauben von der Wilcox'schen
Seite des Gartenzauns zu klauen. Außerdem jagten wir die Hühner
von Mrs. Wilcox und legten Knallfrösche, die wir von den Feierlichkeiten
zum 4. Juli aufbewahrt hatten, auf die Straßenbahnschienen, die direkt
vor Mrs. Wilcox Haus vorbeiführten, in der vergnüglichen Hoffnung,
dass die nächste Bahn darüber fahren und Mrs. Wilcox durch die
dabei ausgelöste - und natürlich völlig harmlose - Explosion
vor Schreck halb in Ohnmacht fallen würde.
Eines schönen Tages verfrachteten
wir eine Schlange in die Wilcox'sche Regentonne. Meine Großmutter
legte zwar formellen Protest ein, doch wir hörten ihr stillschweigendes
Einverständnis heraus, das so ganz anders klang als das, was in dem
strikten Nein meiner Mutter mitschwang, und so reihten wir fröhlich
eine Biestigkeit an die andere. Wenn eines meiner Kinder... doch das ist
eine andere Geschichte.
Aber glauben Sie bloß nicht, dass
es sich da um eine einseitige Angelegenheit handelte. Vergessen Sie nicht,
dass auch Mrs. Wilcox Enkelkinder hatte. Zudem waren sie zahlreicher, dreister
und cleverer als wir. Meine Großmutter kam also keinesfalls ungeschoren
davon. In ihren Keller wurden Stinktiere geschmuggelt. An Halloween flog
alles, was nicht niet- und nagelfest war, wie beispielsweise die Gartenmöbel,
auf wundersame Weise auf den Giebel der Scheune, und es mussten mehrere
kräftige Männer engagiert werden, die die Sachen zu Wucherlöhnen
wieder herunterholten.
Kein windiger Waschtag verging, ohne
dass die Wäscheleine auf mysteriöse Weise riss, so dass die Laken
im Dreck lagen und noch einmal gewaschen werden mussten. Wenn einige dieser
Vorfälle vielleicht auch auf höhere Gewalt zurückzuführen
waren - sie wurden immer Mrs. Wilcox' Enkeln in die Schuhe geschoben.
Ich weiß nicht wie meine Großmutter
solche Plagen hätte aushalten können, wäre da nicht die
Hausfrauenseite der Bostoner Tageszeitung gewesen. Die war wirklich unübertrefflich.
Neben den üblichen Kochrezepten und Putztipps gab es da nämlich
eine Sparte, in der die Leserinnen in aller Öffentlichkeit einen brieflichen
Austausch miteinander pflegen konnten. Das funktionierte so, dass jemand,
der ein Problem hatte - oder auch nur Dampf ablassen wollte-, unter einem
selbst gewählten Namen wie etwa Arbutus an die Zeitung schrieb. Arbutus
war das Pseudonym meiner Großmutter. Daraufhin schrieben andere Leserinnen,
die das gleiche Problem hatten, zurück und berichteten, was sie selbst
in der Sache unternommen hatten. Sie unterzeichneten ihre Briefe mit »Jemand,
der Bescheid weiß« oder »Xanthippe« oder wie auch
immer. In vielen Fällen wurde der Briefwechsel fortgesetzt, nachdem
das eigentliche Problem längst aus der Welt geschafft war, und die
Damen tauschten in der Zeitungsspalte Neuigkeiten über ihre Kinder,
das Einkochen oder ihre neue Esszimmergarnitur aus.
Das geschah auch im Fall meiner Großmutter.
Sie korrespondierte ein Vierteljahrhundert lang mit einer Frau namens Seemöwe
und tauschte mit ihr Dinge aus, die sie sonst nie einer Menschenseele verraten
hätte - so erzählte sie zum Beispiel davon, wie sie einmal gehofft
hatte, wieder schwanger zu sein, es aber dann doch nicht war, oder davon,
wie mein Onkel Steve mit Sie-wissen-schon-Was im Haar aus der Schule heimkam
und als welche Schande sie das empfunden hatte, obwohl sie die Dinger losgeworden
war, noch bevor irgendjemand in der Stadt auch nur den leisesten Verdacht
geschöpft hatte. Seemöwe war die Busenfreundin meiner Großmutter.
Als ich etwa sechzehn Jahre alt war,
starb Mrs. Wilcox. In einer kleinen Stadt wie der unseren ist es in einem
solchen Fall üblich, bei den Nachbarn vorbeizuschauen und zu fragen,
ob man ihnen helfen könne, auch wenn man sie noch so sehr gehasst
hatte.
Eine adrette Küchenschürze
umgebunden, die zeigen sollte, dass sie ihr Angebot zu helfen durchaus
ernst meinte,
schritt meine Großmutter über
die beiden Rasenflächen zum Nachbarhaus und die Tochter von Mrs. Wilcox
teilte sie im Hinblick auf die Beerdigung zum Putzen des ohnehin makellosen
Empfangszimmers ein. Und da, mitten auf dem Tisch der guten Stube, lag
ein großes, dickes Heft, in dem feinsäuberlich nebeneinander
ihre Briefe an Seemöwe und Seemöwes Briefe an sie eingeklebt
waren. Die allergrößte Feindin meiner Großmutter war gleichzeitig
ihre allerbeste Freundin gewesen.
Das war das einzige Mal, dass ich meine
Großmutter Tränen vergießen sah. Ich wusste damals nicht
genau, warum sie eigentlich weinte, aber inzwischen weiß ich es.
Sie weinte um all die vergeudeten Jahre, die sie nicht mehr zurückholen
konnte. Damals beeindruckten mich nur die Tränen und ihretwegen erinnere
ich mich an jenen Tag, an dem es wahrlich Wichtigeres zu erinnern gegeben
hätte als die Tränen einer Frau. An jenem Tag dämmerte mir
zum ersten Mal, wovon ich inzwischen aus ganzem Herzen überzeugt bin,
und wenn ich es irgendwann einmal nicht mehr glauben sollte, dann will
ich nicht mehr leben. Und das ist Folgendes:
Ein Mensch mag absolut unmöglich
erscheinen. Er mag einem gemein, kleinlich und verlogen vorkommen. Aber
wenn du zehn Schritte nach links machst und ihn dir noch einmal aus einem
anderen Blickwinkel ansiehst, dann entdeckst du ganz sicher, wie großzügig,
warmherzig und liebevoll er ist. Es hängt alles nur von dem Standpunkt
ab, von dem aus du ihn betrachtest.
Louise Dickinson Rich
...
Lawine
Es war unser Traum von einem Ferienhaus
- tausend Quadratmeter phantastischer Grund mit Blick auf einen majestätischen
Wasserfall an der rückwärtigen Flanke des Mount Fimpanogos unweit
der Hänge von Robert Redfords berühmtem Sundance-Skiparadies.
Meine Frau und ich brauchten mehrere Jahre, um das Haus zu entwerfen, zu
planen, zu bauen und einzurichten.
Aber es dauerte nur zehn Sekunden, um
es dem Erdboden gleichzumachen.
Ich erinnere mich an den Unglücksnachmittag,
als sei es gestern passiert. Es war Donnerstag, der 13. Februar 1986, der
Tag vor unserem neunten Hochzeitstag. Es hatte den ganzen Tag über
heftig geschneit, und es lag etwa ein Meter Neuschnee. Trotz des Wetters
wagte meine Frau die dreißigminütige Fahrt von unserem Haus
in Provo im Staate Utah durch die Schlucht hinauf zu unserem soeben fertig
gestellten Feriendomizil in den Bergen. Unser sechsjähriger Sohn Aaron
begleitete sie, als sie am frühen Nachmittag aufbrach. Unterwegs kaufte
sie noch ein paar Zutaten für den Kuchen ein, den sie zur Feier des
Tages backen wollte. Ich sollte später nachkommen und Aimee, unsere
neunjährige Tochter, sowie Hunter, unseren Jüngsten, mitbringen.
Den ersten Hinweis darauf, dass etwas
nicht in Ordnung sein könnte, erhielt ich gegen drei Uhr durch einen
Anruf der Skiwacht aus Sundance.
»Es gibt da ein Problem mit Ihrem
Haus. Sie sollten am besten gleich herkommen.«
Mehr sagten sie nicht. Obwohl ich in
der Abschlussphase eines Buchprojekts steckte und ziemlich unter Termindruck
stand, machte ich meinen Computer aus und fuhr so schnell ich konnte über
die zugeschneiten Straßen die Schlucht hinauf. Als ich im Skigebiet
ankam, nahmen mich der Ortsvorsteher und seine Mannschaft mit düsteren
Mienen in Empfang.
»Es hat da ein Unglück bei
Ihrem Haus gegeben. Wir vermuten, dass Ihre Frau und Ihr Sohn dort waren.
Kommen Sie. Wir nehmen meinen Vierradantrieb.«
Unser Grundstück grenzte an die
Hauptskipiste von Sundance und war nur über eine enge, gewundene Bergstraße
zu erreichen. Während wir in panischer Eile die Strecke hochjagten,
gaben uns die links und rechts des Weges aufgetürmten Schneeberge
das Gefühl, uns in einem Labyrinth zu bewegen. Als wir um eine Kurve
bogen, kam uns auf der engen Straße ein anderes Fahrzeug entgegen.
Beide Fahrer traten voll auf die Bremse und so ging die Kollision noch
einmal mit kleineren Blechschäden an beiden Wagen relativ glimpflich
aus. Nach einem kurzen Austausch der notwendigen Angaben setzten wir unsere
rasante Fahrt über die enge Straße fort, bis sich das Kupferdach
des Hauses vor uns erhob.
Beim Näherkommen entdeckte ich meine
Frau und meinen Sohn auf der Straße. Sie waren von diversen Mitgliedern
der Skiwacht von Sundance umringt. Als ich aus dem Auto sprang und auf
sie zurannte, deutete sie auf die Bäume oberhalb des Hauses. Ich war
schockiert von dem, was ich da sah.
Eine riesige Lawine war am Berghang abgegangen
und hatte eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Dicke Baumstämme
waren wie Streichhölzer geknickt. Erst jetzt fiel mein Blick auf das
Haus und ich sah, dass die Lawine mitten durch unser Haus gedonnert war
Innerhalb von Sekunden waren alle Fenster zerborsten und der Schnee hatte
sich tonnenweise in unser großes Esszimmer ergossen. Die Decken waren
eingestürzt und von unserem Traumhaus war nicht viel mehr als ein
Trümmerhaufen übrig geblieben. Es stand nur noch ein Gerippe.
Ringsum lagen zerfetzte Einzelteile unseres sorgfältig ausgewählten
Mobiliars. Es war eine so grausige Szene der Zerstörung, dass sie
sich mir auf immer ins Gedächtnis eingrub.
Die Mitarbeiter der Skiwacht brachten
uns so schnell wie möglich aus der Lawinenzone, da mit neuen Abgängen
gerechnet wurde. Als wir nach Hause kamen, befanden wir uns in einem Zustand
der Fassungslosigkeit und des Schocks. Ich muss zugeben, dass uns der Verlust
des Hauses wirklich an die Nieren ging. Noch Monate später fragte
ich mich manchmal, warum ausgerechnet wir solches Pech haben mussten. Wie
konnte Gott nur so etwas zulassen?
Damit könnte ich meine Geschichte
enden lassen. Aber dann würden Sie nie von dem Wunder erfahren, das
am selben Tag geschah. In der Tat habe ich selbst es erst acht Monate später
entdeckt.
Bei einer geschäftlichen Besprechung
stellte mir einer meiner Kollegen eine scheinbar harmlose Frage:
»Hat dir deine Frau eigentlich
erzählt, dass sie und meine Frau am Tag des Lawinenunglücks beinahe
mit dem Auto zusammengestoßen wären?«
»Nein«, erwiderte ich. »Was
ist denn passiert?«
»Nun, meine Frau und unsere Jungs
verbrachten ein paar Tage in unserem Ferienhaus in Sundance. Wegen der
Schneefälle beschlossen sie, früher als geplant nach Hause zu
fahren. Vor ihrer Abfahrt schlug einer der Jungen vor, für eine sichere
Heimreise zu beten. Sie senkten die Köpfe, sprachen ihr kurzes Gebet
und machten sich dann auf den Weg über die schmale Straße hinunter
ins Tal. Deine Frau kam ihr entgegen. Sie sah meine Frau und die Jungs
in unserem Suburban. Als meine Frau bremste, blieb der Wagen nicht stehen,
sondern geriet ins Rutschen. Auf der glatten, abschüssigen Strecke
wurde er immer schneller. Sie konnte nichts dagegen tun. Bevor es zum Zusammenstoß
kam, riss sie im letzten Moment das Steuer herum, sodass sich die Front
des Suburban in die Schneebank auf der einen und das Heck in die auf der
anderen Straßenseite bohrte. Sie stellte sich vor deiner Frau regelrecht
quer. Über eine Stunde lang versuchten sie, den Wagen wieder frei
zu bekommen, aber dann mussten sie doch Hilfe aus dem Ort holen.«
»Das ist ja ein Ding!«, meinte
ich. »Meine Frau hat mir gar nichts davon erzählt.«
Wir machten uns noch eine Weile über
den »Unfall« lustig, bevor jeder wieder seiner Wege ging. Erst
dann wurde mir die Sache mit einem Schlag klar. Hätte es nicht diese
»Beinahe-Kollision« gegeben, wären meine Frau und mein
Sohn zweifellos in der Lawine ums Leben gekommen!
Ich habe oft über diesen »Unfall«
nachgedacht. Ich stelle mir vor, wie meine Frau genervt in ihrem Wagen
saß, als der Suburban ihr den Weg zu unserem Ferienhaus versperrte.
Ich habe die Frau meines Freundes vor Augen, der die Sache bestimmt ziemlich
peinlich gewesen ist. Ich sehe ihre Söhne, die sicher aufgeregt waren
und sich vielleicht fragten, ob Gott die Gebete der Menschen wirklich erhört.
Die ganze Zeit über schimpfte wohl
jeder der Beteiligten innerlich darüber, in was für eine blöde
Situation er da ge raten war. Und doch zeigt sich aus der Distanz, dass
sie alle - ohne es zu wissen - an einem Wunder teilhaben durften. Seither
spreche ich nicht mehr so schnell von einer »Katastrophe«,
wenn in meinem Leben ab und zu etwas schief läuft. Habe ich später
mehr Informationen in der Hand und kann die Sache im Gesamtzusammenhang
betrachten, stelle ich oftmals fest, dass wieder einmal ein Wunder geschehen
ist. Wenn ein »Unglück« passiert, versuche ich mich zu
fragen: »Welches Wunder versucht Gott aus diesem Unglück zu
schmieden?«
Und anstatt zu fragen: »Warum ausgerechnet
ich, Gott?«, sage ich einfach: »Danke, Gott!«
Und dann warte ich ab, bis ich alle Teile
zu dem Puzzle in der Hand halte.
Robert G. Allen
...
Der Rand
In der Nacht bevor ich nach Israel aufbrach,
führten wir dieselben Gespräche, wie wir sie schon die ganze
Woche über geführt hatten. »Warum ausgerechnet nach Israel?«,
fragte mein Vater in demselben Tonfall, in dem er »Warum China?«,
»Warum Russland?« oder »Warum« irgendein anderes
Land gefragt hatte, in das ich reisen wollte. »Du weißt doch,
dass da Krieg herrscht«, fügte er hierzu. »Ja, ich weiß,
Vater. Überall auf der Welt gibt es Kriege«, antwortete ich.
Darin wollte er wissen, warum ich bereit sei, mich solchen Gefahren auszusetzen.
Und schließlich bekam ich die Worte zu hören, die ich mein Leben
lang gehört hatte: »Du hast mir noch nie zugehört. Warum
sollte ich davon ausgehen, dass du mir diesmal zuhörst?« Und
in der für ihn so typischen Art schloss er die Augen, seufzte tief
und schüttelte den Kopf.
Wann immer wir eine dieser »Diskussionen«
hatten, versuchte meine Schwester Kristy die Spannung zu lösen. Obwohl
sie schon lange erkannt hatte, dass sie damit kein Glück haben würde,
versuchte sie es dennoch jedes Mal aufs Neue. »Warum fährst
du nicht nach England zur Sommerakademie, Kath?«, schlug sie vor
»Da ist es nicht gefährlich.« Sie hatten wie immer nichts
verstanden.
In meiner Familie hat mich nie jemand
wirklich verstanden. Ich entsprach einfach nicht der Vorstellung, die sie
von meinem Leben hatten. England war mir nicht aufregend genug. Ich wollte
irgendwohin, wo ich etwas anderes erleben konnte. Meine Seele war immer
rastlos und sehnte sich danach, unbekanntes Territorium zu erkunden. Meine
Mutter meinte, ich hätte etwas von einem »Zigeuner« im
Blut.
Altersmäßig liegen meine Schwester
und ich dreieinhalb Jahre auseinander, aber zwischen ihrer und meiner Art
zu leben liegen Welten. Sie ist konservativ und in sich gekehrt. Ich gehe
zu viele Risiken ein und richtig still bin ich nur, wenn ich schlafe. Seit
ich erwachsen bin, habe ich die meiste Zeit damit zugebracht, mich bei
meiner Schwester und der übrigen Familie dafür zu entschuldigen,
dass ich anders bin, weil ich sie wieder einmal mit der Art, mich zu kleiden,
zu reden oder zu handeln blamiert habe.
Ich bin so eine Frau, die mit einem Hut
voller Obst und einem leuchtend bunten Kleid aufzutauchen wagt, wo alle
anderen in Schwarz herumlaufen. Ich bin so eine, die bei einer Abendgesellschaft
den falschen Witz erzählt. Oder die bei einem alten, schnulzigen Film
im Kino losheult. Wie überaus peinlich für die anderen! Jemand
hat mir einmal gesagt, dass er mich nicht um meine Aufgabe beneidet, die
Emotionen für die gesamte Familie ausleben zu müssen.
Weil meine Schwester so anders ist als
ich - oder weil ich so anders bin als sie -, sind wir uns nicht besonders
nahe. Je älter wir werden und je mehr wir zu tun haben, desto seltener
sehen wir uns, obwohl wir nicht einmal einen Kilometer voneinander entfernt
wohnen. Wenn wir uns dann doch einmal sehen, spüre ich, wie sie die
Luft anhält und nur darauf wartet, dass ich etwas »Falsches«
tue oder sage, während ich auf glühenden Kohlen laufe und darum
bete, dass ich es nicht tun möge, um es dann unweigerlich doch zu
tun.
Nachdem sich meine Schwester am wenigsten
über meine Reisepläne für diesen Sommer aufzuregen schien,
bat ich sie demütig, mich zum Flughafen zu bringen. »Kein Problem«,
meinte sie und fügte beiläufig hinzu: »Aber sag Vater nichts
davon!« Ich stimmte lächelnd zu. Nicht dass unser Vater ein
Tyrann wäre. Wir wissen, dass er uns über alles liebt. Das lässt
sich allein an all den Opfern ablesen, die er für uns erbracht hat.
Ich hätte nicht Jura studiert, wenn er nicht gewesen wäre. Er
macht sich einfach nur Sorgen und es fällt ihm schwer, Sorgen und
Liebe auseinander zu halten.
Am nächsten Tag auf dem Weg zum
Flughafen war meine Schwester schweigsam wie immer. Aber zum ersten Mal,
seit ich mich zu dieser Reise entschlossen hatte, fragte sie mich nach
meinen Plänen: Wo ich hinwolle, wo ich bleiben würde. Sie schien
wirklich interessiert.
In meiner Familie sind emotionale Abschiedsszenen
nicht üblich und so machte sich meine Schwester mit einem »Mach's
gut« und einem schnellen »Ich mag dich auch« aus dem
Staub. Ich war traurig, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mich einfach
nicht verstand. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass sie mit
mir käme, wusste aber gleichzeitig, dass sie das niemals tun würde.
Nach dem Einchecken suchte ich mir meinen
Platz und machte es mir gemütlich. Als ich meine Handtasche aufmachte,
die meine Schwester vor der Abfahrt zum Flughafen im Kofferraum verstaut
hatte, fand ich neben meinem Pass, den Traveller-Schecks und anderen wichtigen
Dingen einen kleinen weißen Umschlag, auf dem in der Handschrift
meiner Schwester »Kath« geschrieben stand. Ich machte ihn auf
und zog eine Gute-Reise-Grußkarte heraus. Der Cartoon auf der Vorderseite
war wirklich witzig. Meine Familie liebte diese lustigen Karten, und diese
hier war nichts anderes - das war zumindest mein erster Eindruck.
Aber als ich die Karte aufgeklappt und
gelesen hatte, erkannte ich, dass meine Schwester - von der ich gerade
noch geglaubt hatte, dass sie mich einfach nicht verstehen könnte
- mich eben doch verstand. Es schien mir, als wünschte sich ein kleiner
Teil von ihr hier bei mir zu sein; vielleicht war es jener kleine
Teil, der immer gern mit mir getauscht hätte. Im Inneren der Karte
hatte sie auf einer Seite geschrieben:
Ich bewundere dich dafür, dass du
das Leben in so vollen Zügen genießen kannst. Ich liebe dich.
Deine Schwester Kristy
Und auf der Rückseite stand:
Apollo stand hoch oben auf der Klippe;
»Kommt an den Rand«, sagte er.
»Wir können nicht«,
sagten die anderen. »Es ist zu steil.«
»Kommt an den Rand«, sagte
er.
»Wir können nicht«,
sagten die anderen. »Es ist zu steil.« »Kommt an den
Rand«, sagte er.
»Wir können nicht«,
sagten die anderen. »Wir würden in die Tiefe stürzen.«
Und sie kamen und er schubste sie
und sie flogen.
An jenem Tag zeigte mir meine Schwester
für einen kleinen Augenblick eine höchst schätzenswerte
Seite von sich, eine Seite, die sie mir noch nie zuvor gezeigt hatte. Oder
vielleicht hatte ich nie genau genug hingesehen. Mit tränenüberströmtem
Gesicht sah ich durch das Fenster zum Terminal hinüber. Und da stand
meine Schwester am Aussichtsfenster und winkte mir zu. Als das Flugzeug
vom Gate zurücksetzte, sah ich, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie
sagten: »Ich liebe dich.« Ich erwiderte ihr Lachen, weil ich
zum ersten Mal wusste, dass sie es wirklich meinte.
Kathleen Louise Smiley
...
Gute Nachrichten
Nachdem der berühmte argentinische
Golfspieler Robert de Vincenzo wieder einmal ein Turnier gewonnen, seinen
Scheck entgegengenommen und für die Pressefotografen posiert hatte,
machte er sich auf den Weg zum Clubhaus, um seine Sachen zu packen. Als
er kurz darauf zum Parkplatz ging, wurde er von einer jungen Frau angesprochen.
Sie gratulierte Ihm zu seinem Sieg und dann erzählte sie ihm von ihrem
Kind; es sei lebensgefährlich erkrankt und sie wisse nicht, wie sie
die Arzt- und Krankenhausrechnungen bezahlen solle.
De Vincenzo war so gerührt, dass
er seinen Stift zückte und den soeben erhaltenen Scheck mit seiner
Siegerprämie auf die Frau übertrug. »Bereiten Sie Ihrem
Baby eine paar gute Tage«, mit diesen Worten übergab er ihr
den Scheck.
In der darauf folgenden Woche saß
der Argentinier gerade beim Mittagessen in einem Country-Club, als ein
Funktionär des Profigolfverbands zu ihm an den Tisch kam: »Ein
paar von den Jungs auf dem Parkplatz haben mir erzählt, dass Sie dort
nach Ihrem Turniersieg eine junge Frau getroffen haben.« De Vincenzo
nickte. »Nun«, fuhr der Mann fort. »Ich muss Ihnen etwas
sagen. Sie ist eine Betrügerin. Sie hat gar kein krankes Baby. Sie
ist noch nicht einmal verheiratet. Sie hat Sie übers Ohr gehauen,
mein Freund.«
»Wollen Sie damit sagen, es gibt
gar kein Baby, das im Sterben liegt?«, erkundigte sich De Vincenzo.
»Ja, das stimmt«,bestätigte
der Mann.
»Das sind die besten Nachrichten,
die ich diese Woche bekommen habe!«, sagte sich De Vincenzo.
Aus »The Best of Bits & Pieces«
...
Rollen - und wie wir sie spielen
Wann immer ich mit einer Lebenssituation
hadere, halte ich einen Moment lang inne und denke an den kleinen Jamie
Scott. Jamie hatte sich für eine Rolle bei der Schultheateraufführung
beworben. Seine Mutter meinte, er wolle sie unbedingt bekommen, aber sie
befürchtete, dass man ihn nicht nehmen würde. An dem Tag, an
dem die Rollen vergeben worden waren, begleitete ich sie, um ihren Sohn
von der Schule abzuholen. Als Jamie auf sie zurannte, leuchteten seine
Augen vor Stolz und Begeisterung: »Weißt du was, Mama?«,
rief er. Und die Worte, die dann folgten, werden mir immer eine Lehre sein:
»Ich bin ausgewählt worden, um Beifall zu klatschen und die
anderen anzufeuern!«
Marie Curling
...
Wir sagten ihm nie, dass er es nicht schaffen würde
Als mein Sohn Joey geboren wurde, waren
seine Füße nach oben gedreht, sodass die Fußsohlen am
Bauch anlagen. Er war mein erstes Kind und es erschien mir zwar seltsam,
aber ich wusste nicht recht was es eigentlich zu bedeuten hatte. Es bedeutete,
dass Joey mit zwei Klumpfüßen zur Welt gekommen war. Die Ärzte
versicherten uns, dass er mit der entsprechenden Behandlung einmal gehen
könnte; nur das schnelle Laufen würde wohl immer schwierig sein.
Joeys erste drei Lebensjahre bestanden aus Operationen, Gipsverbänden
und Stützapparaten. Seine Beine wurden massiert, bearbeitet und durch
ständige Übungen aktiviert, sodass man Ihm zu seinem siebten
oder achten Lebensjahr beim Gehen kaum noch ansah, dass er einmal Probleme
damit gehabt hatte.
Nur wenn längere Strecken zu Fuß
zu bewältigen waren, zum Beispiel bei Ausflügen in Vergnügungsparks
oder bei Zoobesuchen, klagte er, dass seine Füße müde waren
oder wehtaten. Dann machten wir eine Pause, tranken eine Limo oder aßen
ein Eis und redeten darüber, was wir gesehen hatten oder noch sehen
wollten. Wir sagten Ihm nie, warum Ihm die Beine wehtaten oder warum sie
schwach waren. Wir sagten ihm nicht, dass dies etwas damit zu tun hatte,
dass er mit einer Fehlbildung zur Welt gekommen war. Wir sagten es Ihm
nicht und so wusste er es nicht.
Die Kinder in unserer Nachbarschaft rannten
beim Spielen umher, wie Kinder es nun einmal tun. Wenn Joey sie sah, sprang
er natürlich auch auf und rannte hin, um mitzuspielen. Wir sagten
Ihm nie, dass er wahrscheinlich nicht so gut würde laufen können
wie die anderen Kinder. Wir sagten Ihm nicht, dass er anders sei. Wir sagten
es ihm nicht und so wusste er es nicht.
Als er in der siebten Klasse war, beschloss
er, sich der Langstreckenlauf-Mannschaft anzuschließen. Er trainierte
täglich. Es schien, als würde er härter arbeiten und mehr
laufen als die anderen in seiner Mannschaft. Vielleicht spürte er
instinktiv, dass sich ihm die Fähigkeiten, die anderen womöglich
in den Schoß fielen, nicht ganz so leicht erschlossen. Wir sagten
ihm nicht, dass er - selbst wenn er laufen konnte - in seiner Mannschaft
wahrscheinlich immer das Schlusslicht bilden würde. Wir sagten Ihm
nicht dass er nicht erwarten dürfe, ins »Team« aufzurücken.
Zum Team gehören nur die sieben besten Läufer der Schule. Auch
wenn die gesamte Mannschaft läuft, sind es doch nur diese sieben,
die das Potenzial dazu haben, Punkte für die Schule zu holen. Wir
sagten ihm nicht, dass er wohl nie ins Team aufrücken würde,
und so wusste er es nicht.
Er lief etwa vier bis fünf Meilen.
Jeden Tag. Ich werde nie vergessen, wie er einmal fast vierzig Fieber hatte.
Er konnte nicht zu Hause bleiben, weil er Lauftraining hatte. Ich sorgte
mich den ganzen Tag und wartete jeden Moment darauf, dass mich die Schule
anrufen und bitten würde, ihn vorzeitig abzuholen. Das Telefon blieb
stumm.
Nach Schulschluss fuhr ich zum Sportplatz.
Vielleicht so dachte ich, würde er das Training doch ausfallen lassen,
wenn er mich dort sah. Als ich auf das Gelände kam, lief er gerade
ganz allein eine Allee entlang. Ich fuhr an den Straßenrand und ließ
den Wagen langsam rollen, sodass er mit mir Schritt halten konnte. Ich
fragte ihn, wie es ihm ginge. »Gut«, sagte er. Er hatte nur
noch zwei Meilen vor sich. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht
und seine Augen waren glasig vom Fieber. Trotzdem war sein Blick geradeaus
gerichtet und er lief weiter. Wir hatten ihm nie gesagt, dass er mit fast
vierzig Fieber keine vier Meilen laufen konnte. Wir haben es ihm nie gesagt
und so wusste er es nicht.
Zwei Wochen später - am Tag vor
dem vorletzten Rennen der Saison - wurden die Namen des Teams bekannt gegeben.
Joey stand als Nummer sechs auf der Liste. Die anderen sechs Mitglieder
des Teams waren alle in der achten Klasse. Wir hatten ihm nie gesagt, dass
er wohl nie ins Team aufrücken würde. Wir hatten ihm nie gesagt,
dass er es nicht schaffen könnte... So hat er es nicht gewusst. Er
hat es einfach getan.
Kathy Lamancusa
...
Vierzehn Stufen
Eine Katze, so heißt es, habe neun
Leben, und ich halte das für durchaus möglich, bin ich doch selbst
schon beim dritten Leben angelangt - und dabei bin ich noch nicht einmal
eine Katze.
Mein erstes Leben begann an einem klaren,
kalten Novembertag im Jahr 1904, als ich als sechstes von acht Kindern
eines Farmerehepaars das Licht der Welt erblickte. Mein Vater starb, als
ich fünfzehn war, und wir mussten hart kämpfen, um uns über
Wasser zu halten. Meine Mutter blieb zu Hause und kochte Kartoffeln, Bohnen,
Maisbrei und Gemüse, während wir anderen loszogen, um mit Gelegenheitsjobs
ein bisschen Geld zu verdienen - viel ist es nie gewesen.
Später dann heirateten meine Geschwister
einer nach dem anderen, sodass am Ende außer mir nur noch eine Schwester
übrig blieb, um für meine Mutter zu sorgen, die in ihren letzten
Lebensjahren gelähmt war und mit noch nicht einmal siebzig Jahren
starb. Kurz darauf heiratete meine Schwester, und ich folgte ihrem Beispiel
noch im selben Jahr.
Ab diesem Zeitpunkt fing ich an, mein
erstes Leben zu genießen. Ich war glücklich, gesund und körperlich
ziemlich fit. Meine Frau und ich bekamen zwei wunderbare Töchter.
Ich hatte einen guten Job in San José und ein schönes Haus
auf der Halbinsel vor San Carlos.
Das Leben war wie ein schöner Traum.
Dann ging der Traum zu Ende und wich
einem dieser schrecklichen Albträume, die einen mitten in der Nacht
schweißgebadet aufwachen lassen. Ich lift unter einer schleichenden
Nervendegeneration, die erst meinen rechten Arm und mein rechtes Bein beeinträchtigte
und sich dann an der anderen Körperseite bemerkbar machte.
Dann fing mein zweites Leben an...
Ungeachtet meiner Krankheit fuhr ich
weiterhin tagtäglich zur Arbeit nachdem mein Wagen entsprechend umgerüstet
worden war. Und es gelang mir, meine körperliche Fitness und meinen
Optimismus zumindest zu einem gewissen Grad zu bewahren; dass dies so ist
verdanke ich vierzehn Stufen.
Das klingt verrückt? Keineswegs!
Unser Haus hat zwei Ebenen, und von der
Garage zur Küchentür führt eine Treppe mit vierzehn Stufen.
Diese Stufen waren mein Maßstab. Sie waren die Herausforderung, ,die
ich brauchte, um weiterzuleben. Wenn ich eines Tages nicht mehr in der
Lage sein würde, den einen Fuß auf die nächste Treppenstufe
zu setzen und dann den zweiten unter Schmerzen hinterherzuziehen -und das
Ganze vierzehnmal zu wiederholen, bis ich völlig erschöpft oben
angekommen war -, dann, so hatte ich beschlossen, würde ich mich geschlagen
geben, mich ins Bett legen und sterben.
Und so blieb ich am Ball und bezwang
diese Stufen. Darüber verging die Zeit. Die Mädchen gingen aufs
College und heirateten, und meine Frau und ich blieben allein in unserem
schönen Haus mit den vierzehn Stufen zurück.
Vielleicht stellen Sie sich jetzt vor,
es hier mit einem Mann zu tun zu haben, der die ganze Zeit über vor
Mut und Kraft nur so strotzte. Doch da irren Sie sich! Dieser Mann war
ein verbitterter, enttäuschter Krüppel - ein Mann, der sich an
vierzehn elende Treppenstufen zwischen Garage und Küchentür klammerte,
um nicht den Verstand zu verlieren; um seine Frau und sein Zuhause nicht
aufzugeben.
Während ich Fuß um Fuß
über diese Stufen hochzog - langsam, unter großen Schmerzen,
mit vielen Pausen dazwischen -, ließ ich gelegentlich meine Gedanken
zu den Jahren zurückschweifen, in denen ich Ball gespielt, gegolft,
im Fitnessstudio trainiert hatte und gewandert, geschwommen, gelaufen und
gesprungen war. Und jetzt war ich kaum mehr in der Lage, ein paar Treppenstufen
hochzukommen.
Mit zunehmendem Alter wurde ich immer
verbitterter und frustrierter. Ich bin sicher, meine Frau und meine Freunde
hatten es nicht leicht mit mir, wenn ich ihnen wieder einmal Einblick in
meine Lebensphilosophie gewährte. Ich hielt mich für den einzigen
Menschen auf der Welt, der zum Leiden auserkoren war. Ich hatte mein Kreuz
mittlerweile neun Jahre lang getragen und dachte, ich müsste es wohl
so lange weitertragen, wie ich noch die vierzehn Stufen hinaufkommen konnte.
Ich beschloss, die tröstenden Worte
aus dem ersten Brief an die Korinther zu ignorieren: »Plötzlich,
in einem Augenblick... werden wir verwandelt werden.« (1.Kor. 15,52)
Und so verbrachte ich mein erstes und mein zweites Leben hier auf Erden.
Dann, an einem düsteren Abend im
August 1971, begann mein drittes Leben. Als ich an jenem Morgen das Haus
verließ, hatte ich keine Ahnung, dass mir eine solch dramatische
Veränderung bevorstand. Ich wusste nur, dass es an diesem Tag schwerer
als sonst gewesen war, die Treppe hinunterzukommen. Mir grauste schon bei
dem Gedanken, sie abends wieder hinaufklettern zu müssen.
Als ich mich auf den Heimweg machte,
goss es in Strömen. Windböen trieben den Regen schwallweise gegen
die Windschutzscheibe, als ich langsam eine wenig befahrene Straße
entlangfuhr. Plötzlich verriss es mir das Steuer, und das Auto brach
nach rechts aus. Gleichzeitig hörte ich den gefürchteten Knall
eines platzenden Reifens. Nur mit Mühe konnte ich den Wagen auf dem
regenglatten Seitenstreifen zum Stehen bringen. Erst dann wurde mir klar,
in welch furchtbare Lage ich geraten war. Wie sollte ich den Reifen wechseln?!
Ich konnte es einfach nicht!
Den Gedanken, dass vielleicht ein anderer
Autofahrer anhalten würde, verwarf ich sofort. Warum sollte irgendjemand
stehen bleiben? Ich wusste, dass das keiner tun würde! Dann fiel mir
ein, dass ein Stück weiter die Straße entlang ein Haus stand.
Ich startete den Motor und holperte im Schritttempo voran. Dabei hielt
ich mich so gut es ging auf dem Seitenstreifen, bis ich zu der Einfahrt
kam. Dankbar bog ich ein. Die beleuchteten Fenster schienen mich willkommen
zu heißen, und so fuhr ich vor das Haus und drückte auf die
Hupe.
Die Tür ging auf und eine kleines
Mädchen stand da und schaute zu mir herüber. Ich kurbelte das
Fenster hinunter und rief ihr zu, dass ich einen Platten hätte und
Hilfe zum Reifenwechseln bräuchte, weil ich an Krücken ging und
es allein nicht könnte.
Sie ging ins Haus und kam kurz darauf,
in Regenmantel und Hut gut vermummt, wieder heraus. In ihrem Gefolge war
ein Mann, der mich freundlich grüßte.
Ich saß bequem im Trockenen und
als der Mann und das Mädchen im Regen schufteten, taten sie mir richtig
Leid. Nun, ich würde sie dafür bezahlen. Der Regen ließ
ein wenig nach, und so kurbelte ich das Fenster ganz hinunter, um ihnen
zuzusehen. Es schien mir, als wären die beiden furchtbar langsam,
und ich wurde allmählich ungeduldig. Ich hörte ein metallisches
Klappern von hinten und dann die deutliche Stimme des Mädchens: »Hier
ist der Wagenheber, Opa.« Der Mann murmelte eine Antwort und ich
spürte, wie sich das Auto beim Anheben etwas zur Seite neigte.
Dann folgten über längere Zeit
hinweg Geräusche, Gerüttel und leise Gespräche am Wagenheck.
Schließlich war es geschafft. Ich fühlte, wie das Auto mit einem
Satz auf dem Boden landete, als der Wagenheber entfernt wurde. Dann wurde
der Kofferraum zugeschlagen und schließlich tauchten die beiden an
meinem Seitenfenster auf.
Der Mann war alt und gebeugt und in seiner
Öljacke wirkte er zerbrechlich. Das kleine Mädchen war schätzungsweise
zwischen acht und zehn. Sie lächelte mich strahlend an.
Der Mann sagte: »Nicht gerade der
ideale Abend für eine Autopanne. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung!«
»Danke«, sagte ich. »Danke.
Was bin ich Ihnen schuldig?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts.
Cynthia hat mir gesagt, dass Sie behindert sind. Dass Sie an Krücken
gehen. Ich habe Ihnen gern geholfen. Ich weiß, dass Sie für
mich das Gleiche tun würden. Das kostet nichts, mein Freund.«
Ich hielt ihm eine Fünfdollarnote
entgegen. »Nein. Es ist mir lieber, wenn ich etwas zahlen kann.«
Er unternahm nichts, um sie entgegenzunehmen.
Das kleine Mädchen trat näher ans Fenster heran und flüsterte:
»Mein Opa kann das nicht sehen.«
Ein paar Sekunden lang war ich wie erstarrt
vor Scham und Entsetzen. Es war mir so übel wie noch nie in meinem
Leben. Ein blinder Mann und ein Kind! Die mit kalten, klammen Fingern in
der Dunkelheit nach Schrauben und Werkzeug tasteten - in einer Dunkelheit,
die für den Mann wahrscheinlich bis zum Tode andauern würde.
Sie hatten mir einen Reifen gewechselt
- bei Wind und Wetter. Und ich hatte die ganze Zeit bequem mit meiner Krücke
im warmen Auto gesessen. Ich mit meiner Behinderung. Ich weiß nicht
mehr, wie lange ich noch so dasaß, nachdem sich die beiden von mir
verabschiedet hatten und ins Haus zurückgegangen waren - aber lange
genug, um in mich zu gehen und einige Züge an mir zu entdecken, die
mir gar nicht gefielen.
Ich erkannte, dass ich geradezu überquoll
vor Selbstmitleid, Egoismus, Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit
den Bedürfnissen anderer gegenüber.
Ich saß da und betete. In aller
Demut betete ich um Kraft, ein besseres Verständnis, eine schärfere
Selbstwahrnehmung und den Glauben, meine Unzulänglichkeiten durch
tägliche Gebete um spirituellen Beistand überwinden zu können.
Ich betete um Segen für den blinden
Mann und seine Enkeltochter. Und dann fuhr ich weiter, innerlich aufgerüttelt
und von einem neuen Gefühl der Demut beseelt.
»Alles, was ihr also von anderen
erwartet das tut auch ihr! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.«
Matt. 7,12
Heute, Monate später, ist diese
Ermahnung für mich mehr als nur ein Bibelspruch. Sie ist eine Lebensweise
- eine Le ensweise, der ich gerecht zu werden versuche. Das ist nicht immer
einfach. Manchmal ist es frustrierend, und gelegentlich kostete es mich
viel Zeit und Geld, aber es lohnt sich auf jeden Fall.
Heute versuche ich nicht nur, jeden Tag
die vierzehn Treppenstufen hinaufzukommen, sondern auf meine bescheidene
Weise auch anderen zu helfen. Eines Tages werde ich vielleicht einem blinden
Mann den Reifen wechseln - jemandem, der so blind ist wie ich es einmal
war.
Hal Manwaring
...
Das Geheimnis von Himmel und Hölle
Der alte Mönch saß am Wegesrand.
Mit geschlossenen Augen, gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten
Händen saß er da. Er war tief in Meditation versunken.
Plötzlich wurde sein Zazen von der
harschen, fordernden Stimme eines Samurai-Kriegers unterbrochen: »Alter
Mann! Lehre mich, was es mit Himmel und Hölle auf sich hat!«
Zunächst zeigte der Mönch keine
Reaktion, gerade so, als hätte er die Frage nicht gehört. Doch
allmählich öffnete er die Augen, und seine Mundwinkel verzogen
sich zu einem kaum merklichen Lächeln, als er den Samurai in seiner
ganzen Ungeduld vor sich stehen sah und spürte, wie dieser von Sekunde
zu Sekunde immer unruhiger wurde.
Endlich brach der Mönch sein Schweigen:
»Du möchtest etwas über die Geheimnisse von Himmel und
Hölle erfahren? Du in deinem zerzausten Zustand? Du mit deinen schmutzigen
Händen und Füßen? Du mit deinen ungekämmten Haaren,
deinem übel riechenden Atem, deinem rostigen, verrotteten Schwert?
So hässlich wie du bist? In den komischen Kleidern, in die dich deine
Mutter gesteckt hat? Du willst von mir etwas über Himmel und Hölle
wissen?«
Der Samurai stieß einen wilden
Fluch aus. Dann zog er sein Schwert und erhob es. Während er ausholte,
um dem Mönch den Kopf abzuschlagen, war sein Gesicht puterrot verfärbt
und am Nacken traten ihm die Venen in dicken Strängen heraus.
»Das ist die Hölle«,
sagte der Mönch leise, als das Schwert niederzufahren begann.
Für den Bruchteil einer Sekunde
war der Samurai überwältigt vor Staunen, Ehrfurcht, Mitgefühl
und Liebe für dieses sanfte Wesen, das sein Leben aufs Spiel gesetzt
hatte, um ihm eine solche Lehre zu erteilen. Gerade rechtzeitig konnte
er das niedersausende Schwert abfangen. Tränen der Dankbarkeit standen
ihm in den Augen.
»Und das«, sagte der Mönch,
»das ist der Himmel.«
Fr. John W Groff Jr.
...
Es ist nie zu spät
Vor einigen Jahren erlebte ich während
eines Kommunikationstrainings etwas wirklich Außergewöhnliches.
Der Kursleiter bat uns, einmal all die Dinge aus unserer Vergangenheit
aufzulisten, für die wir uns schämten, die uns Schuldgefühle
machten, wegen derer wir uns unzulänglich fühlten oder die wir
bedauerten. In den darauf folgenden Wochen gab er uns Gelegenheit, laut
vorzulesen, was wir aufgeschrieben hatten. Das war eine ziemlich heikle
Angelegenheit, aber wie immer gab es auch diesmal einige tapfere Seelen
in der Gruppe, die sich freiwillig meldeten. Während die anderen ihre
Listen vorlasen, wurde meine immer länger. Nach drei Wochen umfasste
sie einhundertundeinen Punkt. Anschließend forderte uns der Kursleiter
auf, nach Wegen der Wiedergutmachung zu suchen - etwa indem wir uns bei
bestimmten Menschen entschuldigten oder uns überlegten, was zu tun
sei, um den einen oder anderen Fehler wieder auszubügeln. Ich fragte
mich ernsthaft, was das mit der Verbesserung meiner Kommunikationsfähigkeiten
zu tun haben sollte. Bevor ich so etwas auf mich genommen hätte, hätte
ich lieber einem Großteil der Menschen in meinem Leben den Rücken
gekehrt.
In der darauf folgenden Woche meldete
sich mein Sitznachbar und trug folgende Geschichte vor:
Als ich meine Liste zusammenstellte,
fiel mir eine Begebenheit aus meiner Highschool-Zeit ein. Ich bin in einer
kleinen Stadt in Iowa aufgewachsen. Es gab dort einen Sheriff, den keiner
von uns Jugendlichen mochte. Eines Abends beschlossen zwei meiner Freunde
und ich, Sheriff Brown einen Streich zu spielen. Nachdem wir schon ein
paar Bier getrunken hatten, besorgten wir uns eine Dose rote Farbe, kletterten
auf den Wasserturm im Zentrum der Stadt und pinselten in leuchtend roten
Lettern darauf »Sheriff Brown ist ein S. 0. B. (shabby old bastard).«
Mit dem Anbruch des neuen Tages war unsere glorreiche Inschrift für
jedermann deutlich zu sehen. Es dauerte keine zwei Stunden, bis Sheriff
Brown uns in seine Amtsstube zitiert hatte. Meine Freunde gestanden, ich
aber verleugnete meine Mittäterschaft. Die Wahrheit kam nie ans Licht.
Fast zwanzig Jahre später schrieb
ich den Namen von Sheriff Brown auf meine Liste. Ich wusste noch nicht
einmal, ob er überhaupt noch lebte. Am vergangenen Wochenende rief
ich die Auskunft in meiner Heimatstadt an. Und tatsächlich, da gab
es immer noch einen Roger Brown. Ich wählte seine Nummer. Nachdem
es ein paar Mal geklingelt hatte, meldete sich eine Stimme. »Hallo?«
»Sheriff Brown?«, fragte ich. Pause. »Ja.« »Also,
ich bin Jimmy Calkins. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich es getan habe.«
Pause. »Ich habe es gewusst!«, brüllte er los. Dann lachten
wir und unterhielten uns eine Weile angeregt miteinander. Zum Abschied
meinte er: »Jimmy, du hast mir immer Leid getan, weil deine Freunde
die Sache von der Seele hatten. Du dagegen musstest sie all die Jahre mit
dir herumschleppen. Danke, dass du mich angerufen hast... um deinetwillen!«
Jimmys Beispiel ermutigte mich, alle
einhundertein Punkte von meiner Liste zu klären. Ich habe fast zwei
Jahre dazu gebraucht, aber die Sache wurde zum Sprungbrett und der Triebfeder
meiner Karriere als Konfliktmediatorin. Wie schwierig eine Auseinandersetzung,
Krise oder Situation auch sein mag, ich denke öfter daran, dass es
nie zu spät ist, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen und nach
Lösungen zu suchen.
Marilyn Manning
...
Die Endstation
Irgendwo in den Tiefen unseres Unterbewusstseins
verbirgt Sich eine idyllische Vision. Wir sehen uns auf einer langen Reise,
die den ganzen Kontinent umspannt. Wir sind mit dem Zug unterwegs. Am Fenster
ziehen Landschaften vorbei, fahrende Autos, winkende Kinder an einem Bahnübergang,
weidende Kühe auf einem entlegenen Hang, die rauchenden Schlote eines
Kraftwerks, eine endlose Folge von Mais- und Weizenfeldern, von Ebenen
und Tälern, von Bergen und Hügeln, Städten und Dörfern.
Ganz zuoberst in unserem Kopf aber ist
das letztendliche Ziel. An einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde
werden wir in die Endstation einfahren. Kapellen werden spielen und Flaggen
wehen. Und sind wir erst einmal da, werden viele wunderbare Träume
Wirklichkeit und es ist, als würden sich die Einzelteile unseres Lebens
wie bei einem Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Wie rastlos
wir in den Gängen hin- und herrennen, wie wir jede Verzögerung
verfluchen, während wir warten, warten, warten, dass wir die Endstation
endlich erreichen.
»Wenn wir unser Ziel erst einmal
erreicht haben, dann ist alles gut!«, schreien wir. »Wenn ich
achtzehn bin!« »Wenn ich einen neuen Mercedes Benz 450 SL habe!«
»Wenn ich das letzte Kind durchs College geschleust habe!«
»Wenn ich die Hypothek abbezahlt habe!« »Wenn ich die
Beförderung in der Tasche habe!« »Wenn ich erst einmal
in Rente bin, dann kann ich endlich in Glück und Frieden leben!«
Früher oder später müssen
wir erkennen, dass es keine Endstation gibt - keinen Ort, an dem wir ankommen
und für immer bleiben. Die wahre Freude des Lebens liegt im Reisen
an sich. Die Endstation ist nur ein Traum. Sie entzieht sich uns permanent.
»Genieße den Augenblick«,
ist ein guter Leitspruch, besonders wenn wir ihn gemeinsam mit Psalm 118,24
betrachten: »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen
jubeln und uns an ihm freuen.« Es sind nicht die Bürden des
heutigen Tages, die den Menschen um den Verstand bringen. Es ist das Hadern
mit dem Gestern und die Angst vor dem Morgen. Bedauern und Furcht sind
die beiden Diebe, die uns das Heute stehlen.
Hört auf, in den Gängen hin-
und herzuhasten und die zurückgelegten Meilen zu zählen. Klettert
stattdessen lieber öfter auf Berge, esst Eis, geht öfter barfuß,
schwimmt in Flüssen, schaut euch Sonnenuntergänge an, lacht mehr
und weint nicht so oft. Das Leben muss im Vorübergehen gelebt werden.
Zur Endstation gelangen wir noch früh genug.
Robert J. Hastings