Diese Geschichte hatte noch eine ziemlich unerwartete Fortsetzung. Seit
dem beschriebenen Vorfall richtete ich jedes Mal beim Einkaufen auf dem
Markt meine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die beiden jungen Verkäuferinnen.
Inzwischen arbeiteten sie genauso geschickt wie ihre älteren Kollegen
und doch unterschieden sie sich stark von allen anderen. Sie waren schlank,
bescheiden und sauber angezogen, verwendeten nur wenig Make-up und bewegten
sich viel eleganter als ihre Kolleginnen. Die Mädchen arbeiteten noch
etwa ein Jahr lang auf dem Markt und verschwanden dann plötzlich zur
gleichen Zeit.
Ein halbes Jahr später im Sommer, fiel mir auf demselben
Markt eine elegante junge Frau auf, die entlang der Obststände spazierte.
Sie unterschied sich von vielen anderen Frauen durch ihre stolze Körperhaltung
und moderne, teure Kleidung. Hinter dieser eindrucksvollen Frau ging ein
respektabler Mann mit einem Korb voller Obst.
Die junge Dame zog begeisterte Männerblicke und neidische Frauenblicke
an und ich erkannte in ihr plötzlich die Freundin der Zigarettenverkäuferin,
Ich ging auf sie zu und erklärte dem jungen Paar, überwiegend
jedoch dem unruhig gewordenen Begleiter der Dame, den Grund meiner Neugier.
Nach kurzer Überlegung erkannte sie mich schließlich auch. Wir
setzten uns an einen Cafètisch unter freiem Himmel. Natascha, so
hieß sie, erzählte mir, was in den letzten anderthalb Jahren
alles geschehen war.
"An jenem Tag, als Katja vor den Augen vieler Stammbesucher des Marktes
ihren Konflikt mit dem angetrunkenen Kunden hatte, haben wir beide beschlossen
zu kündigen, um nicht noch weiter belächelt zu werden. Erinnern
Sie sich, dass Katja damals sagte, sie würde einen englischen Lord
heiraten? Das war die Hauptursache der allgemeinen Belustigung. Uns war
klar: Sie werden auch künftig darüber lachen und mit den Fingern
auf uns zeigen.
Es gelang uns aber nicht, einen anderen Job zu finden. Wir hatten doch
damals gerade erst die Schule beendet und und unsere Ergebnisse der Aufnahmeprüfungen
für die Hochschule waren nicht ausreichend, um einen Studienplatz
zu bekommen. Nun gut, ich hatte ja immer nur Durchschnittsnoten, Katja
war jedoch fast eine Musterschülerin. Trotz ihrer guten Durchschnittsnote
in den Aufnahmeprüfungen schaffte sie es nicht, den Platz zu kriegen.
Die Anzahl der kostenlosen, freien Studienplätze wurde reduziert und
sie war nicht in der Lage, ihr Studium aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Ihre Mutter verdiente zu wenig und ihren Vater kannte sie nicht. Da wir
nichts anderes fanden, nahmen wir den Job als Verkäuferinnen auf dem
Markt an.
Wir arbeiteten und bereiteten uns parallel für das nächste
Jahr auf die Hochschule vor. Etwa eine Woche nach dem Vorfall mit
dem Kunden sagte Katja plötzlich zu mir: ,Ich muss mich gut vorbereiten,
damit ich zu einer würdigen Ehefrau eines englischen Lords heranwachse.
Möchtest du, dass wir gemeinsam üben?'
Zuerst dachte ich, sie würde scherzen, doch weit gefehlt. Katja
war schon zu ihrer Schulzeit sehr hartnäckig.
Sie fand in der Bibliothek ein altes Ausbildungsprogramm für adlige
junge Frauen und passte es an die Bedürfnisse der heutigen Zeit an.
Danach fingen wir wie besessen an, uns nach Katjas Programm weiterzubilden.
Wir tanzten, machten Aerobic, lernten die englische Sprache und die
Geschichte Englands. Außerdem studierten wir die Regeln des guten
Benehmens, brachten uns selbst Manieren bei. Wir schauten uns politische
Diskussionen im Fernsehen an, damit wir uns darüber mit gebildeten
Menschen unterhalten konnten. Sogar bei der Arbeit bemühten wir uns,
wie zwei adlige Damen bei einem großen Empfang in der Oberschicht
aufzutreten, um unsere Manieren zu trainieren, damit diese für uns
natürlich wären.
Unser Verdienst gaben wir nicht aus und sparten sogar an der Kosmetik.
Schöne Kleidung und Tickets für eine Reise nach England waren
unser Sparziel.
Da keine englischen Lords über den kleinen Markt in Wladimir spazieren
gehen, meinte Katja, müssten wir selbst nach England fliegen. Dadurch
würden wir unsere Chancen deutlich steigern.
Und so geschah es, dass wir mit einer Reisegruppe in England ankamen.
Die zwei Wochen vor Ort verflogen sehr schnell. Dabei wurden wir, wie Sie
sich denken können, von keinem englischen Lord empfangen oder begleitet.
Ehrlich gesagt, rechnete ich damit auch gar nicht. Ich wollte nur Katja
Gesellschaft leisten und machte daher alles mit. Sie aber hatte Hoffnung.
Sie ist, wie gesagt, sehr hartnäckig. Auf der Suche nach
ihrem Traummann schaute sich Katja die Gesichter der Engländer
aufmerksam an. Wir besuchten sogar zweimal einen Tanzclub, wurden jedoch
kein einziges Mal zum Tanzen aufgefordert.
Am Tag der Abreise waren wir schon auf dem Weg zum Bus, der uns zum
Flughafen bringen sollte, während Katja sich immer noch hoffnungsvoll
umschaute. An einer Treppe hielten wir an. Sie stellte plötzlich ihre
Tasche ab und sagte: ,Da kommt er ja.'
Ich sah, dass ein junger Mann, in Gedanken vertieft, ohne uns anzuschauen,
auf den Hoteleingang zulief. Meine Vermutung hatte mich nicht getäuscht.
Er erreichte unsere Stufe und ging, ohne auf Katja einen Blick geworfen
zu haben, an uns vorbei.
Stellt euch nur vor, was dann geschah! Plötzlich drehte sich Katja
um und sprach ihren Traummann laut an.
Der junge Mann drehte sich in unsere Richtung um. Langsam, aber entschlossen
ging Katja auf ihn zu und sprach auf Englisch: ,Ich heiße Katja.
Ich komme aus Russland. Ich fahre jetzt mit meiner Reisegruppe zum Flughafen.
Ich sprach Sie an ... ich spürte, dass ich eine gute Ehefrau für
Sie werden kann. Ich liebe Sie zwar noch nicht, aber ich werde Sie lieben.
Und Sie werden mich lieben lernen. Wir werden wunderbare Kinder haben.
Einen Jungen und ein Mädchen. Wir werden glücklich sein. Und
jetzt, natürlich nur wenn Sie wollen, können Sie mich zum Flughafen
begleiten.'
Der junge Engländer sah Katja mit ernstem Blick an und brachte
kein Wort heraus. Wahrscheinlich war er vor Überraschung ganz gelähmt.
Dann sagte er, er habe gleich ein wichtiges geschäftliches Treffen,
wünschte eine gute Reise und setzte seinen Weg fort.
Auf dem Weg zum Flughafen schaute Katja die ganze Zeit aus dem Fenster.
Wir sprachen kein Wort. Es war uns beiden peinlich, dass die Mitreisenden
das Geschehen am Hoteleingang mitbekommen hatten. Trotz der Stille nahm
ich mit meinem ganzen Körper wahr, wie Katja von ihnen belächelt
und verurteilt wurde.
Als wir am Flughafen ankamen und Katja die Treppe herunter lief, wurde
sie von ihrem jungen Engländer mit einem riesigen Blumenstrauß
überrascht.
Sie stellte ihre Tasche auf dem Asphalt ab, nein - sie ließ sie
einfach fallen, beachtete den Blumenstrauß nicht, schmiegte sich
fest an seine Brust und fing an zu weinen.
Er ließ den Strauß fallen. Die Blumen fielen ungeordnet
auf die Straße. Die Mitreisenden und ich fingen an, die Blumen aufzusammeln.
Die beiden standen aber da, als ob es niemanden um sie herum gäbe.
Der Engländer fuhr mit seiner Hand durch Katjas Haare und sagte zu
ihr: ,Was für ein Dummkopf muss ich gewesen sein. Beinahe hätte
ich die Frau meines Lebens verpasst. Ich hätte es mir mein ganzes
Leben lang nicht verziehen, wenn ich sie jetzt verpasst hätte. Ich
danke dir, dass du mich gefunden hast.' Der Abflug der Maschine nach Wladimir
wurde verschoben. Ich erzähle jetzt nicht, wie ich es geschafft habe,
aber es ist mir gelungen, sie aufzuhalten.
Wie sich später herausstellte, stammte ihr Engländer aus
einer Diplomatenfamilie und hatte auch selbst vor, in einer Botschaft zu
arbeiten.
Als wir nach Russland zurückgekehrt waren, rief er Katja jeden
Tag an. Sie unterhielten sich jedes Mal sehr lange. Jetzt lebt sie in England
und ist schwanger. Ich glaube, sie lieben einander wirklich sehr. Seitdem
glaube ich an die Liebe auf den ersten Blick."
Nachdem Natascha mir diese wundervolle Geschichte erzählt hatte,
lächelte sie den Begleiter an ihrer Seite an. Ich fragte ihn, wie
lange sie einander schon kennen würden. Und der junge Mann antwortete:
"Ich war doch selbst damals einer der Mitreisenden. Als der Engländer
seine Blumen verstreute und Natascha sie aufsammelte, half ich ihr dabei.
Und nun laufe ich hinter ihr her und muss den Korb mit den Früchten
tragen. Ach, wäre ich doch ein englischer Lord!"
Natascha legte ihre Hand sanft auf die Schulter ihres Begleiters und
sagte lächelnd: "Die englischen Lords können doch den echten
russischen Männern nicht das Wasser reichen."
Dann drehte sich die glückliche Frau zu mir um und sagte: "Andrej
und ich haben vor einem Monat geheiratet. Wir sind hierhergekommen, um
meine Eltern zu besuchen."