Auszüge aus dem =>Buch "Raum der Liebe" von Wladimir Megre (Bd 3)

                Inhalt:

DIE ENTFÜHRUNG


"Der Hubschrauber näherte sich unserem Lager, und wir alle beobachteten, wie er landete", setzte Alexander fort. »Die Flieger kamen heraus und starrten nun Anastasia an. Eine Gruppe kräftiger, bewaffneter Männer, und ihnen gegenüber eine einzige Frau in einer alten Strickjacke. Dieses Bild sprach für sich. Und allen Beteiligten war bereits klar, dass die Gruppe kurz vorm Ziel ihrer Reise stand, kurz vor Anastasias Entführung. Jetzt galt es nur, das Geplante möglichst ruhig und korrekt durchzuführen.
Boris Moissejewitsch brach das lange Schweigen mit einer direkten Schilderung der Situation: 'Anastasia, die Wissenschaft braucht Sie. Über Ihren Umzug wurde bereits entschieden. Er ist notwendig und in Ihrem Interesse. Wenn Sie trotzdem diese Notwendigkeit nicht akzeptieren sollten, werden wir Sie gegen Ihren Willen mitnehmen müssen. Sie werden natürlich Ihr Kind in Ihren neuen Lebensraum mitnehmen wollen; zeigen Sie bitte auf der Karte* Ihre Lichtung, und Ihr Kind wird Ihnen mit dem Hubschrauber gebracht. Später werden wir auch einige Tiere aus Ihrer Umgebung fangen und Ihnen bringen. Ich wiederhole: Es ist notwendig und dient Ihrem Wohl, dem Wohl Ihres Kindes und dem Wohl vieler anderer Menschen. Sie wollen ja das Gute für die Menschen.'

,Ja, sprach Anastasia ruhig. Mein ganzes Wissen will ich an alle Menschen weitergeben, wenn sie es haben wollen. An alle und nicht an eine bestimmte Gruppe. Die Wissenschaftler jedoch bilden nur eine Gruppe, und ihr Wissen dient zuerst auch nur ganz bestimmten geschlossenen Gruppen. An die anderen Menschen wird dieses Wissen nur sehr eingeschränkt weitergeleitet. Sie wurden auch von einer Gruppe beauftragt, geben Sie es zu. Ich kann nicht mit Ihnen mitkommen. Ich werde hier bleiben, ich soll hier einen kleinen Menschen großziehen, meinen Sohn. Richtig wird es mir nur hier gelingen, hier, im Raum der Liebe. Diesen Raum hatten meine Urahnen und meine Ahnen vorbereitet, dieser kleine Raum verbindet mich mit allem Leben im Universum. Jeder Mensch sollte sich so einen Raum schaffen und seinem Kind weiter reichen. Jeder Mensch. Dann wird die ganze Erde zu einem leuchtenden Punkt im Universum, zur Quelle der Liebe. So wollte Er es, und dazu hat Er den Menschen vorbestimmt. Nur der Mensch ist fähig, diesen Auftrag zu erfüllen.'
Zwei starke Männer aus dem Wachtrupp liefen von hinten auf Anastasia zu, blickten sich an und packten gleichzeitig jeder einen Arm von ihr. Sie machten das schnell und gekonnt, ich spürte jedoch eine gewisse Unsicherheit in ihren Bewegungen. Hatte es ihnen ihr Kommandeur befohlen oder wurde es noch viel früher eingeübt? Die beiden hielten Anastasia an ihren Armen fest wie einen Vogel an seinen gespreizten Flügeln. Der Kommandant des Wachtrupps, ein untersetzter Mann mit kurzem Haarschnitt, trat vor und stellte sich neben Boris Moissejewitsch. Anastasias Gesicht war keine Angst abzulesen. Sie sah uns nicht mehr an, ihre Wimpern verdeckten vor uns ihren Blick, der zur Erde gerichtet war.
,Wenden Sie bitte keine Gewalt an, es ist gefährlich', sprach Anastasia so ruhig und gütig wie zuvor, ohne uns anzublicken.
,Für wen?', fragte mit heiserer Stimme der Kommandeur des Wachtrupps.
,Für Sie. Mir täte es leid.'
,Können Sie uns durch Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten Schmerzen zufügen?', fragte Boris Moissewitsch unruhig.
Ich bin nur ein Mensch. Wenn ich nicht mehr ausgeglichen bin, ist die Gefahr da.'
,Welche Gefahr?'
,Die Materie... Zellen... Atome... Atomkerne... elementare Teilchen, aus denen ein Atomkern besteht... Ihnen sind sie bekannt. Ich stelle sie mir vor, ich sehe sie vor mir, und wenn ich eines von ihnen aus dem Kern gleiten lasse, geschieht mit der Materie, geschieht, geschieht...'
Anastasia wandte ihren Kopf zur Seite und blickte zu einem auf dem Boden liegenden Stein. Der Stein begann zu zerbröseln und wurde bald zu einem Häufchen Sand. Dann richtete sie ihren konzentrierten Blick aus den zusammengekniffenen Augen auf den Kommandeur des Wachtrupps. Seinem linken Ohr entstieg Dampf. Das Ohrläppchen verschwand Millimeter für Millimeter. Ein junger Leibwächter mit erblasstem Gesicht zog plötzlich seine Pistole. Er tat es automatisch, so wie er es gelernt hatte. Er richtete die Pistole auf Anastasia und schoss das ganze Magazin leer.
Ich hörte einmal über Soldaten, die unter den extremen Bedingungen des Krieges ein Geschoss in seinem Flug hatten sehen können. In Todesgefahr erreichte ihre Wahrnehmung so eine Geschwindigkeit, dass sie die Bewegung der Objekte als sehr verlangsamt wahrnahmen.
Ich sah die Kugeln auf Anastasia zufliegen. Die erste streifte sie an ihrer Schläfe, die anderen zerrieselten im Flug zu Staub und trafen sie nicht. Wir alle standen reglos und sahen gebannt, wie Blut an Anastasias Wange unter dem Tuch hervortrat. Die beiden Leibwächter neben Anastasia sprangen während der Schüsse zur Seite, dabei hielten sie Anastasias Arme fest und zogen stark an ihnen.
Plötzlich sahen wir um uns herum ein bläuliches Licht die Erde überströmen. Die Quelle dieses wundersamen Lichtes war nicht zu sehen, sie befand sich irgendwo oben, über uns. Die Luft um uns leuchtete immer intensiver, und mit diesem Leuchten schien in uns eine ungewöhnliche Ruhe und eine tiefe Entspannung aufzukommen, so dass wir weder sprechen noch uns regen konnten.
Deutlich klangen in der entstandenen Stille Anastasias Worte: ,Lasst bitte meine Arme los, sonst kann es zu spät sein. Lasst mich bitte los.'
Die beiden Männer reagierten gar nicht. Sie standen wie versteinert da und hielten Anastasia an ihren Armen fest. Jetzt verstehe ich, was Anastasias erhobener Arm bei der Begegnung mit dir, Wladimir, bedeutete. Sie zeigte damit jemandem dort oben, dass sie keiner Hilfe bedarf. In unserem Fall konnte Anastasia ihren Arm nicht anheben...
Das bläuliche Licht um uns wurde heller, und nach einer Art Blitz sahen wir es. Über uns hing eine blau leuchtende Feuerkugel. Sie war wie ein großer Kugelblitz, der seinerseits aus vielen ineinander verwobenen Blitzen bestand. Diese Blitze drangen ab und zu nach außen, über die bläuliche Oberfläche der Kugel hindurch. Die Blitze berührten die Baumwipfel der hohen Bäume und die Blumen vor unseren Füßen, offensichtlich schadete es den Pflanzen nicht. Der Wasserlauf des vor uns liegenden Baches wurde durch einen Haufen Steine und durch einen umgefallenen Baum gestört. Als einer der Blitze den Haufen kurz antippte, wurde der Haufen zu einer Dampfwolke und verschwand vor unseren Augen.
Wahrscheinlich hatten diese bläulichen Blitze eine sehr hohe Energie, deren Art den Menschen noch nicht bekannt ist. Ihre Energie wurde von einem Wesen ganz gezielt angewendet. Dieses Wesen konnten wir zwar nicht erkennen, wir spürten aber deutlich seine Gegenwart. Das Erstaunliche daran war, dass dieses Gefühl, in der unmittelbaren Nähe eines mächtigen Unbekannten zu sein, nicht von Angst begleitet wurde. Mehr noch, wir verspürten eine stille Geborgenheit, ein grenzenloses Vertrauen, als wäre dieses Wesen eines unserer Liebsten gewesen.
Die Feuerkugel schwebte über unseren Köpfen, als hätte sie sich eine Vorstellung vom hier Geschehenen machen wollen. Danach stieg die Kugel Anastasia zu Füssen hernieder, indem sie eine kreisförmige Kurve in der Luft beschrieb. Ihr Blau leuchtete noch heller und wirkte so stark beruhigend, dass uns jegliche körperliche Regung, wie auch das Sprechen oder das Zuhören, als eine unnötige Anstrengung erschien.
Die Oberfläche der Feuerkugel ließ einige Blitze nach außen vordringen, sie erreichten Anastasia und berührten die Zehen ihrer nackten Füße, als wollten sie sie streicheln. Die entspannten Leibwächter konnten Anastasia nicht mehr festhalten, sie hob ungehindert ihre Arme hoch und streckte sie der Feuerkugel entgegen. Die Kugel reagierte sofort, sie stieg in die Höhe von Anastasias Gesicht und schickte ihr die Blitze entgegen. Wir sahen, wie die Feuerblitze, die vor kurzem einen Steinhaufen verdampft hatten, über die Arme einer Frau streiften. Anastasia sprach zur Kugel. Wir konnten nicht hören, was sie sagte, aber ihrer Gestik und ihrem Gesichtsausdruck nach bat sie die Kugel um etwas. Die Kugel schien ihr nicht zu antworten, Anastasias Reaktion verriet uns aber, dass die Kugel auf Anastasias Bitte negativ reagierte. Anastasia versuchte, die Kugel zu überzeugen. Vergeblich. Anastasia gab nicht auf, mit Röte im Gesicht sprach sie und überzeugte immer weiter. Aufgeregt nahm sie ihr Kopftuch ab, das goldgelbe Stroh ihres Haares bedeckte ihre Schulter und verbarg eine Blutspur an ihrer Wange. Erst jetzt, ohne das Kopftuch, konnten wir Anastasias Gesicht sehen. Es war schön, vollkommen, würde ich sagen.
Die Feuerkugel umflog Anastasia mehrmals wie ein Komet und blieb wieder vor ihrem Gesicht stehen. Tausende ganz dünner Blitze streckten sich dem goldenen Haar entgegen, sie berührten zärtlich einzelne Haare und hoben sie an. Einer dieser Feuerstrahlen hob zugleich eine ganze Haarsträhne über Anastasias Schläfe, ein anderer Strahl glitt langsam über ihre Wunde. Die Feuerkugel schien ihre Gedanken nicht durch Worte, sondern durch die Bewegung ihrer Strahlen auszudrücken. Als würde die Kugel Anastasia an das vorher Geschehene erinnern und ihre Argumente widerlegen.
Die Feuerkugel zog ihre Strahlen ein, Anastasia senkte ihren Kopf nieder und hörte auf zu sprechen. Die Kugel umkreiste noch einmal Anastasia und flog schnell in die Höhe. Das bläuliche Leuchten wurde schwächer, wir kehrten in unseren gewöhnlichen Zustand zurück. Das blaue Licht erblasste. Es wurde durch einen braunen Nebel ersetzt, der aus der Erde emporstieg und langsam den ganzen Raum um uns ausfüllte. Nur um Anastasia leuchtete noch ein kleiner blauer Kreis. Nachdem der braune Nebel uns völlig eingehüllt hatte, betraten wir die Hölle."
 
 

DIE HÖLLE

"Die alten Bilder mit den Sündern, die sich auf den heißen Bratpfannen krümmen, oder die modernen Ungeheuer der Horrorfilme sind nicht zu vergleichen mit unseren Erlebnissen im Wald. Die menschliche Fantasie beschränkt sich auf verschiedene Darstellungen der körperlichen Qual."
"Was kann denn noch furchtbarer sein?", fragte ich Alexander ungeduldig.
„Als uns der rauchähnliche braune Nebel bedeckte, wurden unsere Körper in zwei Teile geteilt. Ja, stell dir vor, ich bestand aus zwei Hälften: Die erste Hälfte war mein Leib mit einer durchsichtig gewordenen Haut, durch die ich meine inneren Organe erkannte und mein Blut fließen sah. Die andere Hälfte war unsichtbar, sie bestand aus meinen Gefühlen, meinen Gedanken, meinen Wünschen und meinen Empfindungen."
"Und was war daran so besonders schrecklich? Wenn auch in zwei Hälften geteilt und mit durchsichtiger Haut, bist du doch du selbst geblieben."
"Der Unterschied war gravierend und er bestand darin, dass unsere Leiber selbständig zu leben anfingen. Wir konnten sie dabei beobachten, wir konnten durch unsere unsichtbaren Hälften ihre Lust und ihren Schmerz empfinden, doch etwas am Leben unserer Leiber zu ändern, lag nicht in unserer Macht."
"Als wäret ihr stark betrunken?"
"Die Betrunkenen verlieren gerade die Fähigkeit, sich selbst als Außenstehende zu betrachten. Wir aber sahen und spürten alles ganz genau, unsere Wahrnehmung war sogar präziser geworden. Ich sah die schönen Gräser und Blumen um mich wachsen, sah das Wasser im Fluss und hörte den Bach plätschern. Ich hörte die Vögel zwitschern und spürte, wie rein die Luft und wie warm die Sonnenstrahlen waren. Aber unsere Leiber... So wie wir vorhin nebeneinander gestanden hatten, bildeten auch unsere durchsichtigen Leiber eine Gruppe. Diese Gruppe geriet plötzlich in Bewegung und lief zum Bach hinunter.
Der Bach bildete dort eine flache Bucht. In ihrem reinen Wasser schwammen kleine Fische, auf dem Boden unter ihnen lagen kleine bunte Steine im Sand. Unsere Leiber stürzten in dieses still stehende Wasser. Sie planschten darin, sie entleerten sich in den Bach, und schon bald wurde das Wasser trüb und dreckig. Sie aber tranken dieses Wasser, und ich sah das dreckige, stinkende Wasser durch meine Gedärme fließen. Ein Gefühl des Entsetzens, mit einem Brechreiz verbunden, plagte mich.
Eine Veränderung trat ein. Unter einem Baum am Bach sahen wir jetzt zwei nackte weibliche Leiber liegen, ihre Haut war genauso durchsichtig wie unsere. Sie reckten sich und genossen die Sonnenwärme. Der Leib des Wachtruppkommandeurs und mein Leib liefen zu den Frauenleibern. Mein Leib begann den Leib der Frau zu streicheln, und ihr Leib erwiderte meine Liebkosungen. Unsere Leiber begannen sich zu vereinigen. Der andere männliche Leib stieß auf Ablehnung und begann den weiblichen Leib zu vergewaltigen. Indessen rannte der Leib eines Wachtruppsoldaten zum Baum und schlug meinen Leib am Rücken und am Kopf mit einem Stein. Dabei erlitt nicht mein physischer Leib, sondern mein unsichtbares Ich unerträgliche Schmerzen. Der Leib des Soldaten griff meinen Leib an den Beinen, schleppte ihn zur Seite und drang mit Gewalt in den Leib der Frau ein.
Unsere Leiber alterten sehr schnell, sie lebten in einem anderen, beschleunigten Tempo. Die vergewaltigte Frau wurde schwanger, ihre durchsichtige Haut ließ uns die Entstehung und die Entwicklung des Fötus beobachten. Der Leib unseres Wissenschaftlers Boris Moissejewitsch ging zu dem schwangeren Frauenleib und betrachtete aufmerksam den wachsenden Fötus. Nach einer Weile drang seine Hand in die Frau hinein und fing an, den Fötus aus ihr herauszureißen..
Der Leib von Stanislav beschäftigte sich in der Zeit mit dem Bau einer Art Hütte, er trug schnell Steine zu einem Haufen, riss wütend kleine Bäume aus dem Boden und verwendete alles aus seiner Umgebung als Baumaterial. Mein Leib begann seinem zu helfen. Als die Arbeit fast fertig war, versuchte mein Leib seinen Leib aus der Hütte zu verjagen.
Unsere Leiber schlugen aufeinander ein. Jedes Mal, wenn er meinen Leib traf, tat es mir, dem Unsichtbaren, weh. Durch unsere Schlägerei angelockt kamen die anderen Leiber auf uns zu. Sie warfen uns aus der Hütte hinaus und begannen selbst eine Schlägerei um die Hütte.
Mein Leib ist inzwischen sehr schwach geworden, und ich sah, wie er reglos unter einem Strauch lag und einen starken Verwesungsgestank verbreitete. Mein eigener Leib verweste vor meinen Augen! Ich sah Würmer an mir herumkriechen, ich sah sie in meine Innereien eindringen, ich sah sie mich fressen. Ich sah es alles deutlich, verspürte eine unerträgliche Qual und hoffte nur, dass die endgültige Verwesung meines Leibes meiner Qual bald ein Ende setzen würde.
Plötzlich fiel aus dem Bauch der zweiten vergewaltigten Frau ein Baby heraus, wuchs vor meinen Augen, richtete sich auf, versuchte zu laufen und fiel auf seinen Po... Den Schmerz von diesem Fallen spürte ich in mir und begriff mit Schrecken, dass dieses Baby mein neuer Leib ist und dass somit mein neues Leben anfängt, ein Leben unter diesen widerlichen Geschöpfen, die ohne jeglichen Verstand alles um sich herum und auch einander schänden. Mir wurde klar, dass mein unsichtbarer Anteil zur Rolle eines ewigen Betrachters verdammt ist, der bei vollem Bewusstsein und unter physischen und viel schlimmeren seelischen Schmerzen in das entsetzliche Geschehen nicht einzugreifen vermag.
Das Gleiche geschah mit den anderen. Ihre Leiber starben, verwesten, entstanden aufs Neue. Von Leben zu Leben wechselten die Leiber nur ihre Rollen in dem unverändert seinen Lauf nehmenden Spiel. Allmählich verschwanden aus unserer Umgebung die Pflanzen. An ihrer Stelle standen hässliche Bauten. Die einst saubere Bucht wurde zur stinkenden Pfütze..."
Alexander hörte auf zu sprechen. Ich spürte kein Mitleid mit ihm, um so mehr widerte mich das Erzählte an.
"Natürlich ist es euch schlecht ergangen", sagte ich. "Ihr Schweine seid aber selbst daran Schuld. Anastasia lebt allein in der Taiga, sie hat keinem von euch etwas getan, sie braucht von keinem etwas, weder Wohnung noch Geld. Warum wollt ihr sie nicht in Ruhe lassen?"
Offensichtlich hatten Alexander meine Worte nicht verletzt. Er seufzte nur und sagte: "Schlecht ergangen meintest du. Weißt du... Es ist schwer vorstellbar, aber es ergeht mir so, als wäre ich halb noch dort geblieben. Und ich denke, den anderen aus der Gruppe ergeht es nicht anders."
"Was heißt denn das? Du sitzt hier ganz ruhig, stocherst mit deinem Stock in der Glut.“
"Ja' ich sitze hier und stochere... Die erkannte Gegenwart von etwas Schrecklichem ist dabei nicht aus dem Bewusstsein. Dieses Schreckliche geschieht heute, jetzt, mit mir, mit uns allen.“
„Vielleicht geschieht so etwas mit dir. Mit mir aber nicht, auch nicht mit den anderen."
"Wladimir, kommt es dir nicht vor, dass das von mir Erlebte zwar in beschleunigter und verkürzter Form, jedoch präzise zeigt, wie die Menschheit heutzutage lebt?"
"Es kommt mir nicht so vor. Unsere Haut ist nicht durchsichtig und unsere Leiber gehorchen uns noch.“
„Jemand schützt uns vielleicht vor dieser Erkenntnis, lässt uns nicht klar sehen, was wir bereits angerichtet haben und was wir täglich weiter anrichten. Denn eine klare Erkenntnis, ein klarer Einblick in unser Leben würden unsere falschen Dogmen zerstören und würden uns womöglich unseren Verstand kosten.
Äußerlich gesehen leben wir anständig. Selbst wenn wir auch Böses tun, tun wir es nicht freiwillig, wir werden dazu gezwungen. Wir sind gut, aber schwach. Es gibt höhere Kräfte, sie beherrschen die Situation. Und wir? Unsereiner kann halt nicht anders. Einer Verführung nachgegeben, geraucht, gesoffen, jemanden erschlagen, irgendwo einen Krieg für irgendwelche Ideale angefangen, eine Bombe abgeworfen. So ist das Leben. Für alles haben wir eine Erklärung, eine Rechtfertigung, uns ist keine Abscheulichkeit zuwider.
Und wir sind es, die diese Abscheulichkeiten begehen, wir, und keiner außer uns. Bloß in unseren Rechtfertigungen unterscheiden wir uns voneinander. Mir ist eins klar geworden: Solange mein Bewusstsein über meinen Leib und seine Taten verfügt, bin nur ich allein für jede meiner Taten verantwortlich. Anastasia hat Recht, wenn sie sagt..."
"Zitiere bloß Anastasia nicht. ,Sie hat Recht' - welch ein folgsamer Schüler! Ihr habt Anastasia beinahe umgebracht. Sie hat es noch milde mit euch gemeint. Sie hätte euch etwas Stärkeres zeigen können, so dass euch allen das Hirn verrutscht wäre", ärgerte ich mich immer mehr über diese Bande. Da ich aber nur einen von ihnen vor mir sitzen sah, entlud sich mein Zorn über ihm.
"Und du selbst?“, erwiderte Alexander. "Wer hat uns denn den Weg zu Anastasia beschrieben? Und wohl nicht uns allein. Denkst du, wir sind eine Ausnahme gewesen? Denkst du, nach uns wird keiner ähnliche Versuche starten? In deinem Buch war der Name des Schiffes, mit dem du über den Fluss gefahren warst, nicht geändert, auch nicht der Name seines Kapitäns sowie der Name des Flusses selbst. An mögliche Folgen hast du nicht gedacht. Und von den anderen verlangst du, dass sie keine Fehler machen. Ich habe meinen bereits hinter mir, er ist mir für mein ganzes Leben ein Alptraum.“
"Und wie ging er zu Ende, euer Alptraum? Wie habt ihr aus ihm zurückgefunden?"
"Selbst hätten wir nicht zurückgefunden. Er war uns für immer vorbestimmt. So ein Gefühl hatte damals jeder von uns. Anastasia betrat die Fläche, die bislang nur unsere verwesenden oder noch funktionierenden Leiber füllten. Ihre Haut war wie vorher undurchsichtig, auch hatte sie wie vorher ihre alte Strickjacke und einen langen Rock an. Anastasia sprach etwas zu unseren Leibern, aber sie schienen Anastasia nicht wahrzunehmen. Sie funktionierten wie nach einem festgelegten Programm, und weder ihre Tode noch ihre Geburten brachten in dieses Funktionieren eine Veränderung.
Anastasia begann neben einer unserer Hütten aufzuräumen. Sie legte Steine und welkes Gras zu einem Haufen, lockerte mit einem Stock flach den Boden und streifte mit ihren Fingern über die von unseren Leibern niedergetrampelten Pflanzen. Sie richtete einen angebrochenen, etwa einen Meter großen Baumstamm wieder auf, nahm in ihre Hände feuchte Erde, presste sie zu einer breiigen Masse zusammen und bestrich damit die Wundstelle am Stamm. Eine Weile hielt sie den Stamm in ihren Händen fest und ließ ihn dann los. Der Baum blieb gerade, auch einige Grashalme an den festgetrampelten Stellen konnten sich aufrichten.
Anastasia setzte ihr Werk fort. Mitten in unserem lieblosen, kahlen Lebensraum entstand nach und nach eine Oase. Die Oase wurde zuerst vom Leib des Boris Moissejewitsch entdeckt. Er trampelte das bereits hoch stehende Gras nieder, wälzte sich auf dem Gras, sprang wieder auf und eilte fort. Bald kam er wieder, diesmal mit dem Leib eines aus dem Wachtrupp. Die beiden Leiber rissen den kleinen Baum ganz aus der Erde und fingen an, auf die kleine Grasfläche Steine und Stöcke aus dem Haufen zu schleppen, um hier eine neue hässliche Hütte aufzubauen.
Anastasia schlug vor Entsetzen die Hände zusammen. Sie sprach noch einmal unsere Leiber an, bis ihr von neuem klar wurde, dass ihr hier keiner zuhört. Anastasia blieb eine Weile reglos und mit gesenkten Armen stehen, kniete sich dann auf die Erde nieder und verdeckte ihr Gesicht mit den Händen. Die Haare an ihren Schultern begannen zu zittern, sie weinte wie ein hilfloses Kind.
Wie eine Antwort auf Anastasias Weinen wurde von neuem das bläuliche Licht sichtbar. Zuerst kaum wahrnehmbar, wurde es immer kräftiger. Das Blau drängte das Braun, das unsere Hölle umgeben hatte, wieder in die Erde. Unsere sichtbaren und unsere unsichtbaren Hälften fanden wieder zueinander. Wir bewegten uns aber nicht, waren wieder in die Wonne des blauen Lichtes eingetaucht. Und wieder kreiste im Himmel über uns die Feuerkugel.
Anastasia streckte ihre Arme der Feuerkugel entgegen, die Kugel kam ihr sofort näher und schwebte etwa einen Meter vor ihrem Gesicht. Diesmal konnte ich Anastasias Worte hören. Sie sprach: ,Ich danke dir. Du bist gut. Danke für deine Barmherzigkeit, für deine Liebe. Die Menschen werden es noch begreifen, unbedingt, sie werden es mit ihrem Herzen spüren. Strahle du nur, entziehe der Erde dein blaues Licht nicht, dein Licht der Liebe.'
Sie lächelte, und eine Träne floss über ihre Wange. Die dünnen Strahlen durchbrachen blitzartig die blaue Oberfläche der Feuerkugel. Sanft berührten sie Anastasias Wange, nahmen vorsichtig ihre in der Sonne glitzernde Träne ab und trugen sie leicht zitternd ins Innere der Feuerkugel. Die Feuerkugel zuckte zusammen, beschrieb einen Kreis um Anastasia, landete auf der Erde ihr zu Füssen, fuhr auf und verschwand bald im Himmel über uns.
Wir standen jetzt so wie vor der Erscheinung der Feuerkugel. Auf der Erde schien sich nichts geändert zu haben. Wie vorher leuchtete über uns die Sonne, wie vorher umgab uns der Wald, wie vorher stand uns gegenüber Anastasia. Ich betrachtete alles um mich herum und freute mich an allem. Ich denke, dass auch die anderen aus unserer Gruppe eine ähnliche Freude empfanden. Wir alle schwiegen, entweder vor dem von uns erlebten Graus oder vor der von  uns entdeckten Schönheit."
Alexander hörte auf zu sprechen und dachte nach. Ich versuchte ihn wieder in die Gegenwart zu holen und fragte ihn: ,Alexander hör bitte zu! Vielleicht geschah in Wirklichkeit auch nichts von dem, was du jetzt erzählt hast. Es könnte zum Beispiel sein, dass Anastasia zu einer Art Hypnose fähig ist, die sie bei euch angewendet hat. Ich habe gelesen, dass Einsiedler oft über solche Fähigkeiten verfügen. Also war das von dir Gesehene vielleicht nichts anderes als eine  Vision."
"Hypnose, Illusion... Hast du meine grauen Haare gesehen?"
"Ja, und?"
"Sie stammen von dieser ,Illusion'."
"Der erlebte Schreck könnte auch im hypnotisierten Zustand sehr groß sein."
"Es gibt auch andere Beweise. Zum Beispiel hatte jeder von uns einen großen Haufen aus Steinen und Bäumen gesehen, der das Wasser im Bach angestaut hatte. Nach dem Vorfall mit der Feuerkugel verschwand dieser Haufen spurlos, das Wasser kann jetzt frei fließen."
"Ja, so etwas..."
„Auch ist es für mich nicht von Bedeutung, was genau mit mir dort geschah. Von Bedeutung ist, dass es mich ganz verändert hat, dass ich nicht mehr wie früher leben will und dass ich noch nicht weiß, wie ich anders leben kann. Als ich nach der Begegnung mit Anastasia bei mir zu Hause ankam, verbrannte ich all die weisen Bücher über den Sinn des Lebens, von denen ich Unmengen besaß."
"Nun, das ist aber nicht gut. Wenn schon, dann hättest du die Bücher an andere verkaufen können."
"Daran habe ich nicht einmal gedacht. Meine Wut über diese großen Lehrer war und ist dafür viel zu groß."

???
 

WIE WORTE DAS SCHICKSAL VERÄNDERN

"Unsere Gruppe erholte sich vom Erlebten. Noch sprach keiner mit keinem. Erst nach einer Weile drehten wir unsere Köpfe nach allen Seiten. Wir sahen uns um, als hätten wir die uns umgebende Welt noch nie gekannt.
Eine andere Gruppe näherte sich uns. Alle Dorfbewohner des kleinen, nur noch aus sechs Häusern bestehenden Dorfes liefen Anastasia zu Hilfe. Es waren um die zwölf alte Menschen, und einige von ihnen konnten kaum noch laufen. Eine Greisin, ganz zur Erde gebückt, hinkte mit einem Stock den anderen hinterher. Diejenigen aber, die noch ohne Stock laufen konnten, trugen in ihren Händen ein Ruder oder ein Schulterjoch. Die Alten und Schwachen gingen los gegen die Jungen und Kräftigen. Die Entschlossenheit dieser Zwölf erschreckte uns.
Ein alter Mann in Gummistiefeln und mit einem Ruder in den Händen lief ein wenig vor den anderen. Als er unseren Platz erreichte, hielt er an. Die anderen blieben auch stehen. Keiner von ihnen würdigte uns eines Blickes, sie ignorierten uns.
Der Alte blickte zu Anastasia, streifte mit der Hand über seinen Bart und sagte langsam und mit großer Achtung: ,Sei gegrüßt von uns allen, liebe Anastasjuschka!'
,Ich grüße Euch auch herzlich, liebe Leute!', antwortete Anastasia, hob ihre Hand zum Herzen und verneigte sich vor dem Alten.
,Früh nimmt dieses Jahr das Wasser im Fluss ab', setzte der Alte fort, ,in diesem Sommer hat es nicht oft geregnet.'
,Nicht oft, da haben Sie Recht', bekräftigte Anastasia. ,Es wird noch regnen. Der Fluss wird noch zu seiner Kraft kommen.'
Mitten im Gespräch trat ein Mädchen, um die sechs Jahre, vor die alten Menschen. Das Mädchen war sehr dünn und hatte eine ungesunde, gelbliche Hautfarbe. Sie trug eine ärmliche Jacke, die aus irgendeinem Kleidungsstück umgenäht worden war. An ihren Beinen hing eine geflickte Strumpfhose, und ihre Füße steckten in alten, abgetragenen Schuhen.
Ich habe mich später nach diesem Mädchen erkundigt. Sie hieß Anjuta und litt seit ihrer Geburt an Herzschwäche. Die Mutter brachte die halbjährige Anjuta ins Dorf, fuhr weg und kam nicht wieder. Die Leute erzählten, dass sie mit Malerarbeiten auf Baustellen ihr Geld verdient. Seitdem blieb das Mädchen bei ihren Großeltern.
Anjuta kam zu Anastasia, zupfte an ihrem Rock und flüsterte: ,Bücke dich, Tante Anastasia, bücke dich zu mir!'
Anastasia sah zum Mädchen hin und ging vor ihr in die Hocke. Anjuta nahm ihr altes, weißes Kopftuch ab und versuchte damit, das Blut von Anastasias Wange wegzuwischen. Sie streifte mit dem Tuch über die trockene Blutspur und sprach dabei: ,Tante Anastasjuschka, warum besuchst du deinen Baumstamm nicht mehr? Mein Opa zeigte mir den und sagte, dass du früher oft auf ihm gesessen und in den Fluss geguckt hast. Ich kenne jetzt diesen Stamm. Ich laufe oft zu ihm, sitze dort und warte. Ich warte auf dich, Tante Anastasjuschka, weil ich ein Geheimnis habe, ein Geheimnis für dich. Kommst du nicht, weil das Holz schon so morsch ist? Ich habe lange, lange meinen Opa gebeten, und er brachte einen neuen Stamm zu dem alten. Jetzt liegen sie beide aneinander am Wasser.'
Das Mädchen zog Anastasia an der Hand und sprach zu ihr: ,Komm, komm bitte, Tante Anastasjuschka, komm zu dem neuen Baum. Opa hat mit seiner Axt sogar zwei Sitze hineingeritzt. Ich habe ihn darum gebeten, um mit dir auf dem neuen Baum sitzen zu können.'
Anastasia folgte dem Mädchen zu den Stämmen, die direkt vor uns am Flussufer lagen. Die beiden setzten sich auf den neuen Baumstamm. Sie saßen dicht aneinander und schwiegen, als wäre kein anderer in ihrer Nähe. Alle anderen schwiegen auch und rührten sich nicht. In dieser Stille erklang Anjutas Stimme: ,Meine Oma hat mir viel von dir erzählt, Tante Anastasjuschka. Und als sie tot war, habe ich den Opa darum gebeten. Und er tut das auch. Jedes Mal, wenn er mir von dir erzählt, denke ich an mein Geheimnis. Mein Opa erzählte auch, wie du mir geholfen hast, liebe Tante Anastasjuschka. Als ich ganz, ganz klein war, war mein Herzlein sehr krank und konnte gar nicht so richtig klopfen. Und einmal klopfte mein Herzlein fast nicht mehr, so dass zu mir die Tante Doktor mit dem Boot kam. Die Tante Doktor sagte: ,Das arme Herzlein ist sehr, sehr schwach, ich kann ihm nicht helfen. Es wird bald gar nicht mehr leben.' Mein Opa erzählte, du hast, Tante Anastasjuschka, wie immer auf deinem alten Baum gesessen und dir das Wasser angeguckt. An diesem Tag aber, als mein Herzlein sehr krank wurde, bist du, Tante Anastasjuschka, zu uns ins Haus gekommen, du hast mich auf deinen Arm genommen und mich auf den Hof getragen. Du hast mich, Tante Anastasjuschka, auf das Gras gelegt und hast dich neben mich gelegt. Und deine Hand, Tante Anastasjuschka, legtest du hierher', das Mädchen drückte ihre kleine Hand an die linke Brusthälfte, ,zu meinem kranken Herzlein. Mein Opa erzählte noch, wie du, Tante Anastasjuschka, es so machtest, dass dein Herzlein auch so selten klopfte wie meins. Du konntest dabei nur so selten atmen wie ich auch. Dann aber klopfte dein Herzlein schneller und schneller, und es rief meinem Herzlein zu: ,Mach mit, mach mit!' Und mein Herzlein hat mitgemacht.
Opa sagt, dass mein Herzlein seitdem gut klopfen kann. Stimmt es, Tante Anastasjuschka?'
,Ja, Anjetschka, dein Opa hat Recht. Dein Herzlein wird jetzt gut bleiben.'
,Mein Herzlein hat auf dein Herzlein gehört, stimmt das?'
,Ja, Anjetschka, das stimmt.'
,Darf ich dir von meinem Geheimnis erzählen? Mein Geheimnis ist sehr, sehr wichtig.'
,Erzähle mir bitte, Anjetschka, von deinem Geheimnis!' Anjuta stand vom Baumstamm auf, drückte ihre mageren Hände an die Brust und fiel vor Anastasia auf die Knie. Ihre kindliche Stimme klang wie verschüttet: ,Tante Anastasjuschka, liebe Tante Anastasjuschka, bitte dein Herzlein, bitte es darum... darum, dass.. dass meine Mama zu mir kommt. Für einen Tag, nur für einen Tag! Das ist mein Geheimnis: Meine Mama wird mit ihrem Herzlein hören und... Bitte dein Herzlein... Bitte es...'
Anjuta hüstelte vor Aufregung, sprach nicht weiter und guckte unaufhörlich zu Anastasia. Anastasias zusammengekniffene Augen schauten in die Ferne. Nach einer Weile blickte sie wieder zum Mädchen hin und sprach ihre vernichtenden Worte aus, sprach wie zu einem Erwachsenen: ,Mein Herz, Anjetschka, kann das Herz deiner Mama nicht zu dir bringen. Deine Mama ist weit von hier, in einer Stadt. Sie wollte dort ihr Glück finden und hat es nicht gefunden. Sie hat dort weder ein Zuhause noch Geld für Geschenke. Und ohne Geschenke will sie nicht zu dir kommen. Schwer ist das Leben deiner Mama in der Stadt. Kommt sie aber zu dir, so wird ihr Leben viel schwerer werden. Zu einer Folter, zu einer Qual wird ihr Leben werden, wenn sie dich, krank und schlecht angezogen, sieht, wenn sie die kaputten Häuser deines Dorfes sieht, wenn sie Schmutz und Unordnung bei dir zu Hause findet. Deine Mama glaubt nicht
mehr, etwas Gutes für dich tun zu können. Sie denkt, dass sie alles schon ausprobiert hat und dass es ihr Schicksal ist, unglücklich und ohne dich zu leben. Sie ist ihrer ausgedachten Ausweglosigkeit zum Opfer gefallen.'
Die kleine Anjuta hörte Anastasia zu und zitterte am ganzen Leib. Wozu wurde dem Kind die Wahrheit mitgeteilt, der es nicht gewachsen war? War es nicht eine Grausamkeit? War es nicht möglich, das Kind über den Kopf zu streicheln und ihm eine Hoffnung auf Mamas Besuch zu machen?
Anastasia sah, wie das Mädchen zittert, wartete eine Weile und sprach wieder: ,Ich weiß, Anjetschka, du liebst dein Mama.'
,Ja, ich liebe... ich liebe sie... auch unglücklich... meine Mama', versuchte Anjuta, die Tränen zu unterdrücken.
,Dann mach sie glücklich. Das kannst nur du, nur du allein auf dieser Erde. Es ist möglich. Werde gesund und kräftig, lerne singen. Du wirst Sängerin. Deine Stimme wird eine besondere Reinheit, einen besonderen Glanz erreichen, denn deine Seele wird immer mitsingen. Deine Mama wird dich in zwanzig Jahren sehen, und sie wird glücklich werden. Es ist aber möglich, dass deine Mama dich bereits im nächsten Sommer besucht. Werde schon zu dieser Zeit gesund und kräftig, und das werden deine Geschenke für deine Mama sein. Damit wirst du deine Mama, solange sie bei dir bleibt, glücklich machen.'
,Ich bin aber nicht gesund. Ich kann nie gesund und kräftig werden.'
,Warum?'
,Tante Doktor im weißen Kittel sagte es meiner Oma, und ich habe es gehört. Sie sagte: ,Das Mädchen wird schwächlich bleiben. Was wollen Sie von einer, die nicht mal die Mutterbrust kennt.' Ich habe nie aus Mamas Brust getrunken, meine Mama hatte keine Milch. Die anderen Kinder, wenn sie ganz, ganz klein sind, trinken aus der Brust. Ich habe es einmal gesehen. Eine Tante mit ihrem kleinen Kind war kurz in unserem Dorf zu Besuch. Ich bin damals in das Haus gegangen, in dem sie wohnte. Ich wollte sehen, wie ein Kind aus der Brust trinkt. Ich saß ganz, ganz ruhig dabei. Ich durfte aber nicht im Haus bleiben. >Was starrt sie mich an, ohne zu zwinkern?<, fragte diese Tante. Und sie hatte Recht. Ich versuchte nicht zu zwinkern, ich wollte nichts verpassen.'
,Denkst du, Anjetschka, Tante Doktor hatte Recht, als sie meinte, dass du für immer schwächlich bleibst?'
,Diese Tante Doktor hat immer Recht. Sie hat einen weißen Kittel an. Alle tun das, was sie sagt, sogar Opas und Omas. Sie weiß alles. Sie wusste, dass ich von meiner Mama keine Milch getrunken habe.'
,Warum wolltest du sehen, wie ein Baby von der Mutterbrust trinkt?'
,Ich dachte, wenn ich sehe, wie es dem Kleinen dabei gut geht, so wird es mir auch besser gehen.'
,Dir wird es besser gehen, Anjetschka, du wirst gesund und kräftig sein', sagte Anastasia voller Zuversicht, knöpfte die Jacke auf und machte ihren Busen frei.
Erstarrt betrachtete Anjetschka Anastasias Busen und kleine Milchtropfen an den Brustwarzen. ,Milch! Da ist Milch!.. Hast du auch ein kleines Kind, bist du auch Mama, Tante Anastasjuschka?'
,Ja, mein kleiner Sohn trinkt diese Milch.'
Die Milchtropfen an Anastasias Brustwarzen wurden größer. Einen Tropfen nahm der Wind mit und trieb ihn der Erde zu. Der magere Körper des Mädchens machte einen blitzartigen Sprung, und - stell dir vor - diese schwächliche Anjutka fing den Milchtropfen in der Luft auf. Beim Fallen hatte sie ihre Handflächen nach oben gerichtet, und jetzt konnte sie einen kleinen, nassen Fleck an ihren Händen bestaunen.
Sie streckte ihre Hände Anastasia entgegen und sprach:
,Hier. Ich habe den Milchtropfen für Ihren Sohn. Der ist nicht weg.'
,Du hast diesen Tropfen gerettet', erwiderte Anastasia. ,Jetzt gehört er dir, Anjetschka.'
,Mir?'
,Ja. Nur dir.'
Anjuta nahm ihre Hände zum Mund und berührte mit den Lippen die Handflächen. Sie machte dabei die Augen zu und verharrte in dieser Haltung. Dann ließ sie ihre Hände sinken, blickte zu Anastasia auf und flüsterte voller Dankbarkeit: ,Danke.'
,Komm zu mir, Anjetschka!', rief Anastasia.
Das Mädchen stand vor der Frau. Die Frau drückte das Mädchen zärtlich an den Schultern, streichelte ihr übers Haar. Die Frau nahm das Mädchen zu sich auf den Schoß, zog sie wie einen Säugling an die Brust und begann, leise zu singen. Die Lippen des Mädchens näherten sich vorsichtig, wie im Halbschlaf, der feuchten, wartenden Brustwarze, erreichten sie und umschlossen sie. Das Mädchen zuckte zusammen und begann von der übervollen Brust der Frau zu trinken.
Laut meinem Diktiergerät wachte Anjetschka nach etwa neun Minuten auf. Sie hob den Kopf an und sprang von Anastasias Schoß auf die Erde herunter.
,Was... Was habe ich gemacht? Ich habe Ihrem Sohn die Milch weggetrunken!'
,Keine Angst, Anjetschka, für meinen Sohn ist genug Milch übrig geblieben. Du hast nur von einer Brust getrunken, und die andere ist noch voll. Mein Sohn kann auch vom Blütenpollen essen, wenn er Hunger hat. Und dich wird jetzt nichts mehr daran hindern gesund, schön und glücklich zu werden. Lebe ein glückliches Leben, Anjetschka, lebe glücklich jeden deiner Tage.'
,Ich werde jetzt gesund und stark. Ich werde an meine Mama denken, daran, wie sie mich besucht und wie ich alles so gut mache, dass sie sich freuen kann. Aber singen, das kann ich nicht. Früher, als meine Oma noch lebte, haben wir noch gemeinsam gesungen. Und mein Opa singt nicht, wenn ich ihn darum bitte. Nur wenn er Wodka trinkt, singt er für mich, und ich singe mit. Mit ihm zu singen ist aber schwer, er hat so eine rauhe Stimme. Auch mit unserem Radio kann ich nicht mitsingen, es ist schon alt und rauscht so sehr, dass ich nichts verstehen kann.'
,Versuche, Anjetschka, erst ohne Worte zu singen. Höre, wie die Vögel singen und wie das Wasser murmelt, höre, wie die Blätter rauschen und wie der Wind in den Zweigen pfeift. Auch das Gras singt verschiedene Töne. Höre dich in diese Klänge hinein, versuche, sie mit deiner Stimme nachzuahmen, lass diese reinen Klänge zu deinen Lehrern werden. Ich muss jetzt aber gehen. Lebe wohl, Anjetschka!'
Anjetschka blieb auf dem Baum sitzen und hörte den Klängen ihrer Umgebung zu. Anastasia stand auf und ging zu dem jungen Wachmann, der vorher auf sie geschossen hatte. Sein Gesicht war immer noch ganz blass und seine Hände zitterten. Seine Pistole lag im Gras neben seinen Füßen.
,Machen Sie sich keine Vorwürfe, nehmen Sie keine Schuld auf ihre Seele', sprach Anastasia zum Wachmann,
,Ihr Vorgehen war nicht von Ihrer Seele, sondern vom Instinkt geleitet. Sie haben gelernt, schnell zu handeln, fremde Befehle zu erfüllen, weder zu überlegen noch zu zögern. Das hat sich bei Ihnen zum Instinkt entwickelt. Doch wenn Instinkt vorherrscht und der Mensch dem Instinkt nachgibt, geht der Mensch im Menschen verloren. Vielleicht entscheiden Sie sich wieder für den Menschen.'
Anastasias Stimme wirkte beruhigend. Die Hände des jungen Wachmannes zitterten nicht mehr, die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Und als Anastasia aufhörte, war sein Gesicht bis zu den Ohrenspitzen purpurrot.
Anastasia verabschiedete sich von den älteren Dorfbewohnern und ging in die Taiga. Wir schwiegen und sahen Anastasia noch lange nach. In dieser Stille erklang unerwartet die reine Stimme eines Kindes. Anjuta saß auf ihrem Baumstamm und sang irgendein altes Lied, das sie wahrscheinlich noch von ihrer Oma kannte. Sie sang bezaubernd! Ihre ganz hohe Stimme schien den Raum um uns zu füllen und in uns selbst nachzuhallen.

Es regnet heut wie gestern,
Der Bruder wiegt die Schwester.
Der Bruder wiegt die Schwester,
Schlafe, schlafe fester.

Anjuta sang zu Ende und guckte sich eine Weile unsere still stehende Gruppe an. Dann nahm sie eine dünne Rute von der Erde auf und sagte: ,Ihr seid böse Onkel. Ihr seid schon so groß und doch böse.'
Nach diesen Worten ging sie auf uns los, mit der winzigen Rute in der Hand. Die Dorfbewohner begannen schweigsam hinter ihr herzulaufen.
Unsere Gruppe ergriff genauso schweigsam die Flucht. Wir liefen rückwärts bis zu dem am Ufer liegenden Schiff, bestiegen eilig und zusammengedrängt seine Treppe. Wir wollten schon abfahren, als der Kapitän des Schiffes die beiden Piloten erblickte;,Was macht ihr denn hier? Habt ihr den Hubschrauber vergessen?', schrie er aus seiner Kabine. Die beiden sprangen ans Ufer und rannten zurück zu ihrer Maschine.
Wir fuhren weg. Am Ufer blieben die Zelte unseres Lagers stehen, vergessen lagen die vollen Fässer mit Treibstoff. Keiner von uns dachte jetzt daran, etwas mitzunehmen."
 
 

SCHMIEDE DEIN GLÜCK

Als Alexander seine Erzählung unterbrochen hatte, zeigte ich ihm meine wachsende Antipathie: "Alles klar. Die Zelte sind stehen geblieben. Und die Fässer. Und was habt ihr mitgenommen? Wo ist euere Entlohnung? Graues Haar. Reicht es aus? Anastasia ist nicht von dieser Welt. Jeder aus dieser Welt hätte gleich verstanden, was ihr wolltet. Und sie... Sie hat euch noch ihr Herz ausgeschüttet."
"Sie verstand, wer wir sind und was wir von ihr wollten", erwiderte Alexander, „Sie sprach trotzdem mit uns. Doch nicht die dunkle, sondern die gute Seite jedes einzelnen Ich sprach sie an. Gerade deswegen gelang es ihr, uns alle zu verändern. Mein Studium und Psychologie als Hobby machen mir solche Aussagen möglich."
„Aha. Studiert... Schlecht ist bloß, erst im Nachhinein gut zu analysieren."
"Ja. Du hast Recht. Das Leben ist oft viel schneller und bringt uns seine eigene Logik als Realität bei. Und Anastasia...Wie auch die... Nein, darüber kann ich noch nichts sagen.
"Worüber denn?"
"Über diese Erscheinung... über diese Alten, die uns immer noch verfolgen... Wie soll ich es beschreiben? Sie gehen immer noch auf uns zu, auch jetzt, in diesem Augenblick. Diese alten Männer und Frauen aus dem Dorf: Und ihnen voran - das kleine Mädchen mit der Rute in ihrer Hand."
,Auf wen gehen sie zu? Wo?"
,Auf uns alle. Auf jeden, der dort gewesen... Ich dachte, es geschieht nur mir so. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie. Oder ganz unerwartet. Wahrscheinlich passt ihnen etwas nicht von dem, was ich gerade tue. Und dann kommen sie. Ich dachte, sie kommen nur zu mir. Bis ich von den anderen aus der Gruppe hörte... sie erleben es so."
"Es sind nur eure Gedanken, nur ein Bild und nichts weiter."
"Ja. Nur ein Bild. Wir weichen aber vor ihm genauso wie damals vor den Menschen."
"Was erschreckt euch an diesen alten, schwachen Menschen?"
"Was erschreckt uns? Ich weiß bis heute nicht, was. Vielleicht schrecken wir vor uns selbst zurück, wenn wir diese Menschen sehen. Vielleicht ahnen wir, dass wir wieder eine Grenze überschritten haben, die uns vom ,alles erlaubt', die uns vom Frevel trennt."
"Welche Grenze? Mit solcher Philosophie kann man bald verrückt werden. Muss man sich ständig, bei jedem bisschen, kontrollieren?"
"Möglicherweise. Wir alle müssten unser Leben hinterfragen."
"Gut. Das reicht... Sag lieber, von welchen großen Veränderungen du vorhin gesprochen hast. Was hat sich am Schicksal des Mädchens nach ihrem Gespräch mit Anastasia geändert? Was hat sich am Schicksal ihrer Mutter geändert? Am Schicksal der anderen Dorfbewohner?"
"Wissenschaftlich ausgedrückt: Anastasia hat den ganzen Lebensplan der kleinen Anjuta geändert. Das Mädchen saß abwesend in einer Ecke des schmutzigen, unaufgeräumten Zimmers und wartete auf ihre Mama. Man beteuerte ihr: ,Deine Mama kommt bald. Sie wird dir Geschenke bringen. Sie wird mit dir spielen.' Und ihre Mutter ging in der Stadt am Alkohol zu Grunde.
So leben wir nicht selten eine uns vorgelogene Hoffnung.
Wir warten auf jemanden, der uns glücklich machen kommt.
Selbst aber tun wir wenig oder nichts für unser Schicksal.
Wir wollen gar nicht wissen, wie viel uns gegeben ist. Statt mit Klagen könnten wir den, der zu uns kommt, mit Geschenken empfangen.
Und was machte Anastasia? Sie ist einfach ehrlich geblieben, und mit einfachen Worten hat sie das Leben des Mädchens in eine neue Bahn geleitet.
Ich hörte mir mehrmals die Aufnahme dieses Gespräches an. Anastasias Geheimnis liegt in ihrer Aufrichtigkeit. Sie hat nicht gelogen. Sie hat Anjuta nicht bemitleidet, sie wollte ihr helfen. Und sie fand Worte, mit denen auch jeder andere Anjuta hätte helfen können. Die Dogmen vom Karma, vom vorbestimmten Schicksal eines kranken Kindes, ließ Anastasia unbeachtet. Sie war stärker als das Karma, als Vorbestimmtheit. Wie kommt sie bloß zu dieser Kraft, wie findet sie die richtigen Worte? Ich denke, die Reinheit der Absichten ist hier die Lösung. Die Reinheit der Absichten, von der Anastasia auch selber spricht, sie findet zur Kraft, sie findet zum Wort."
»Das sind ja deine großen Theorien. Und was ist hier Wirklichkeit? Du kannst nur in der Zukunft von irgendeiner Veränderung sprechen. Veränderung... Es müsste tat- sächlich ein Wunder geschehen, dass es dem Mädchen besser geht."
"Und es geschah bereits und bezeugte: Die Wunder sind in uns.“
"Was geschah?"
"Die kleine Anjuta hat ihren Lebensplan geändert. Sie hat ihr Karma und die Karmas vieler anderer Menschen gebrochen."
"Was heißt gebrochen? Woher weißt du das?"
"Ich weiß es. Ich war wieder in Anjutas Dorf, mit einem neuen Radio für sie. Auch eine Antenne wollte ich ihr ans Dach anbringen.
So gehe ich durch das Dorf und sehe: Am Holzsteg zwischen den Häusern hat jemand die alten morschen Bretter ausgewechselt. Was ist hier los, denke ich, wer macht hier
schon so etwas? Dann sehe ich Anjutas Opa vor seinem Haus sitzen. Und was macht er? Er putzt seine Gummistiefel im Wassereimer. Ich grüße ihn und erzähle, weshalb ich gekommen bin. Am Anfang misstrauisch, lädt er mich jedoch ins Haus ein und bittet mich, meine Schuhe vorm Eingang auszuziehen. Ich betrete eine einfach eingerichtete, typische Dorfstube. Sie ist aber besonders sauber und gemütlich. ,Meine Enkelin hat bei uns solche Ordnung eingeführt', erklärt er, ,mit viel Mühe. Den Fußboden hat sie gescheuert, jedes Teil im Hause gewaschen. Eine ganze Woche von früh bis spät gearbeitet. Mich hat sie überredet, die Wände zu weißen. Sauber ist es bei uns geworden. Wenn ich jetzt mit meinen Stiefeln rein komme, wischt sie mir hinterher die Tapsen weg. So ist es besser, die Schuhe vor der Tür stehen zu lassen. Hausschuhe hatten wir nie. Dafür hat sie jetzt die Überschuhe von unseren Filzstiefeln genommen. Zieh sie dir an und setz dich an den Tisch.' Das alte Tischtuch ist frisch gewaschen und mit einem bunten Flicken versehen. Der kleine Flicken hat die Form eines Hasen. In der Tischmitte stecken in einem Glas Papierblätter aus einem Heft. Ihre nach oben gerichteten Ecken verraten ihren Zweck: Sie ersetzen auf dem Tisch Servietten. Die Hand eines Kindes gestaltet offensichtlich diese ganze Stube sorgfältig um.
,Wie ich so sehe', sagte ich Anjutas Opa, ,hat die Verwaltung an ihr Dorf gedacht, den Steg zwischen den Häusern erneuert.'
,Ach wo', antwortete er, ,welche Verwaltung? Sie haben uns schon längst abgeschrieben. Anjuta war es, meine Enkelin. Überall sucht sie sich jetzt eine Arbeit.'
,Wie Anjuta? Sie schafft solch ein Brett nicht einmal anzuheben.'
,Ja, die Bretter sind schwer... Damals wollte ich auf die Jagd. Auf Anjuta wollte unsere Nachbarin aufpassen. Anjuta sagte mir noch vor dem Abschied: ,Geh, geh, Opa, habe keine Angst! Ich komme auch allein zurecht. Erlaube mir bloß an dem Brett zu sägen, das an der Scheune steht.' Ich fragte mich zwar, was sie mit dem Brett machen will, legte ihr aber das Brett und eine Holzsäge bereit. irgendein neues Spiel, dachte ich, hat die Kleine im Kopf. Es wird schon gut gehen. Und die Nachbarin erzählte mir danach...
Anjuta holte die Reste von einem kaputten morschen Brett aus dem Steg, maß die Breite vom Steg mit einer Strippe ab und fing an zu sägen. Einen halben Tag hat sie zum Sägen gebraucht, wurde nun fertig und schleppte das neue Brett zum Steg.'
,Wie?'
,Einen Helfer hat sie neuerdings. Im Dorf ist vor zwei Monaten eine Alte gestorben. Ihr Hund ist übrig geblieben, ein großer sibirischer Eskimohund. Anjuta hat diesen Hund gleich ins Herz geschlossen, bereits beim Begräbnis immer gestreichelt und später dem Hund zu fressen gebracht. Der Hund blieb ja an seinem Haus liegen, obgleich das Haus leer war: Die Alte hatte allein gelebt. Anjuta fütterte dort den Hund, und einmal ging er Anjuta hinterher. Seitdem begleitet er sie überall und macht alle Späße der Kleinen mit. Auch das Brett transportierten sie zu zweit. Anjuta hatte um das Brett eine Strippe gewickelt. Von einer Seite nahm sie selber die Strippe, von der anderen hielt sie der Hund fest in seinen Zähnen. So schleppten sie das Brett zum Steg. Dann holte Anjuta von meiner Nachbarin Hammer und Nägel, und ab da wollte es nicht weiter gehen. Anjuta saß vor dem Brett, hämmerte und hämmerte, aber den Nagel bekam sie nicht rein. Die Nachbarin sah, wie das Mädchen sich die Finger wund schlug und wie der Hund neben ihr saß und winselte. Sie kam, nahm Anjuta den Hammer ab und klopfte die Nägel rein.
Bloß am nächsten Morgen wiederholte sich die Geschichte: Anjuta und ihr Hund kamen mit einem neuen Brett an. Anjuta, wirst du jedes Loch hier zustopfen? Gibt es
nichts Besseres zu tun für ein Mädchen?' rief gleich die Nachbarin entgegen. ,Es ist sehr, sehr wichtig!' antwortete Anjuta. ,Wenn zu jemandem von uns Gäste kommen, die hier entlang gehen, dann werden sie traurig werden. Auch meine Mama wird traurig werden, wenn sie unseren Steg sieht.' Die Nachbarin brachte also auch das zweite Brett an, und dann ging sie zu den anderen und rief: ,Bringt den Steg vor euren Häusern in Ordnung! Ich kann nicht mehr zusehen, wie das kleine Kind eurer Faulheit wegen sich Wunden antut.' Hier kamen nun alle und jeder reparierte sein Stück, um dieses Geschrei nicht mehr zu hören.'
,Wo ist denn jetzt eure Enkelin?', fragte ich neugierig.
,Farbe hat sie zum letzten Haus im Dorf, zu den alten Losins, geschleppt', antwortete der Alte. ,Wer weiß, ob sie heute noch zurückkommt oder bei ihnen übernachten wird... Ja, wahrscheinlich wird sie heute dort schlafen.'
,Welche Farbe? Wozu?'
,Eine ganz normale Ölfarbe, Hellorange. Am Schiff hat sie Fische gegen Farbe getauscht. Eine neue Idee hat sie...'
,Was für eine Idee?'
,Die Häuser im Dorf sollen lustig aussehen', sagt sie. ,Lustig, fröhlich sollen sie werden. Und wenn das Motorschiff anlegt, zu dem unsere Fischer ihren Fang bringen, schleppt auch Anjuta ihr Zeug hin. Dafür bekommt sie ihre Farbe und schleppt nun die Farbe zu irgendeinem Haus. Dort bittet sie die Alten, dass sie ihre Fensterläden damit anstreichen. Und sie tun das. Bald kommt mein Haus an die Reihe. Dann muss ich auch streichen. Und was solls, ich werde es auch tun. Vielleicht hat sie sogar Recht. Es ist schon nicht schlecht, wenn die Häuser fröhlich anzuschauen sind.'
,Wo nimmt sie aber den Fisch her?'
,Sie fängt Fische. Jeden Morgen bringt sie zwei, drei gute herbei. Jeden Morgen muss ich aufstehen, ob ich Rheuma habe oder nicht. Sie wird mich schon aus dem Bett kriegen, mit ihrem: ,Steh auf, Opa, salze den Fisch ein!'
,Wie kommt sie mit den Fanggeräten klar?'
,Ich sagte dir ja, der Hund hilft ihr immer. Er ist alt und klug. So nimmt Anjuta meine alte Wurfangel mit fünf Haken dran und setzt Köder darauf. Abends bringt sie die Angel zum Fluss, an ihre Lieblingsstelle. Und ihr Eskimohund ist natürlich mit dabei. Sie macht die Angelsehne an einem Pflock fest, der am Ufer in der Erde steckt. Ans andere Ende der Sehne kommt ein Stock, an dem die Angelhaken hängen. Der Hund nimmt den Stock ins Maul und schwimmt mit ihm los. Anjuta steht am Ufer und ruft dem Hund zu:
,Schwimm, Druschok, schwimm!' Und wenn er weit genug ist, ruft sie: ,Komm her, Druschok, komm her!' Der Hund lässt dabei den Stock los und schwimmt ans Ufer zurück.'
Nach dieser Erklärung sagte Anjutas Opa müde: ,Jetzt aber lass uns schlafen gehen.' Wir gingen schlafen. Er schlief auf der Ofenbank seines großen Lehmofens und ich auf einem hölzernen Sofa.
Ich wachte kurz nach dem Sonnenaufgang auf und sah alles mit eigenen Augen. Am Fluss unten nahmen Anjuta und ihr Hund die Angelleine aus dem Wasser. Beide zogen an einem Ring, der Hund lief dabei rückwärts. Die Leine ließ sich nur schwer bewegen, was offensichtlich einen guten Fang versprach. Als die Angelhaken nahe genug am Ufer waren, nahm Anjuta ein Fangnetz und lief damit ins Wasser. Der Hund blieb am Ufer und hielt den Ring in seinen Zähnen fest.
In ihren Fischerstiefeln, die dem kleinen Mädchen viel zu groß waren, schritt Anjuta jetzt nun mit dem Fang in den Händen zum Hund, der weiterhin am Ring zog. Auf dem Trockenen nahm Anjuta drei große Fische von den Haken ab und legte sie in einen Sack. Auch den Sack schleppten Anjuta und ihr Druschok zu zweit nach Hause, indem sie den Sack auf eine dünne Furnierplatte legten und diese an einem Strick hinter sich her zogen. Unterwegs musste Anjuta ihre Stiefel ausziehen, denn sie war doch tiefer im Fluss gewesen, als die Höhe der Stiefel dies erlaubte. Sie stand eine Weile barfuss auf der nackten Erde, schüttete das Wasser aus ihren Stiefeln aus, schlüpfte wieder mit ihren nackten Füßen in die Stiefel hinein und lief mit dem Hund weiter zu ihrem Haus.
Als Anjuta am Haus angekommen war, erblickte ich ihr Gesicht und war vollkommen überrascht. Ich sah die roten Wangen, die glänzenden Augen und das glückliche Lächeln eines neuen Kindes. Dieses Kind schien nichts Gemeinsames mit der kränklichen, gelb-blassen Anjuta zu haben, die ich einmal kennen gelernt hatte.
Anjuta weckte ihren Opa. Der verließ keuchend seine warme Ofenbank, zog sich eine Jacke über die Schulter und ging die Fische verarbeiten. Das Mädchen kochte mir einen Tee und setzte sich zu mir an den Tisch. Ich fragte sie, warum sie jeden Tag ihren Fischfang treibt und dafür in aller Frühe aufsteht.
,Die Onkel vom Schiff nehmen unsere Fische', antwortete mir Anjuta, ,Sie geben mir Geld oder etwas, was ich brauche. Sie brachten mir Farbe für unsere Häuser. Sie brachten mir einen sehr schönen Stoff. Für diesen Stoff habe ich ihnen alle Fische gegeben, die ich in der Woche davor gefangen habe.' Das Mädchen zeigte mir ein großes Stück von der prächtigen Seide.
,Das ist nicht gerade wenig Stoff, sagte ich ihr. ,Er reicht für mehrere Kleider.'
,Dieser Stoff ist nicht für mich. Ich möchte ihn meiner Mama schenken, wenn sie uns besucht. Ich habe hier noch einige Geschenke für sie.' Mit diesen Worten klappte Anjuta einen alten Koffer auf und zeigte mir eine teure Damenstrumpfhose, eine lange Perlenkette und ein schönes buntes Kopftuch. Dabei sagte sie noch: ,Meine Mama soll sich keine Gedanken mehr machen, wenn sie mir nichts schenken kann. Ich kann ihr jetzt selbst alles kaufen. Sie soll nicht mehr unglücklich sein.'
Ich beobachtete, wie fröhlich Anjuta ihre vorbereiteten Geschenke auspackte, und dachte mir: "Das hilflose und auf Hilfe wartende Kind ist zu einem Menschen geworden, der genug Kraft hat, um für sich zu sorgen und die anderen zu beschenken... und glücklich zu werden.
Unser Glück ist doch in uns. Der Weg zu ihm führt über die Erkenntnis. Wie können wir solche Klarheit über unser Leben erreichen, wie dieses Mädchen mit Hilfe von Anastasia? Wer hilft uns allen dabei? Anastasia? Oder sollten wir es selbst versuchen?.."
Alexander schwieg. Ich kuschelte mich in meine Watte-Jacke ein, nahm statt Kopfkissen einen Baumstamm und legte mich auf den Rücken. Hell schienen über mir die Sterne des nördlichen Himmels, als wären sie ganz nah bei uns, als wollten sie sich auch an unserem Lagerfeuer wärmen...
Nach einem kurzen Schlaf gingen wir wieder zum Fluss. Schon am Boot überraschte mich Alexander: "Ich glaube... Ich bin mir sogar sicher. Es ist sinnlos, Anastasia in der Taiga zu suchen. Auch für dich sinnlos."
„Warum denn das?"
"Sie hat ihren Platz verlassen. Sie ist tief in den Wald gegangen. Du kennst dich in der Taiga nicht aus. Du kannst dort umkommen. Und du musst noch weiter schreiben. Das hast du ihr ja versprochen."
"Ja, gerade dafür brauche ich jetzt Anastasia. Mir sind ihre Antworten auf die Fragen der Leser wichtig, ihre Meinung über die Kindererziehung, über verschiedene Religionen..."
"Du findest sie aber nicht."
"Das willst du mir wohl einreden? Natürlich finde ich sie. Ich weiß noch den Weg zu ihrer Lichtung."
"Du findest Anastasia nicht. Diese Jagd nach ihr ist ihr doch auch bewusst geworden."

........
 

Und es geschah noch ein Phänomen, das in seiner Intensität die anderen Wunder übertrat, die ich mit Anastasia erlebt und in meinen Büchern über sie beschrieben hatte. In einem Augenblick sah ich in mir oder vor mir einen Reigen von Gestalten. Es waren alles Menschen. Verschieden alt, aus verschiedenen Teilen dieser Erde. Verschieden, aber schön waren ihre Gesichter wie auch ihr begeistertes Tun. Ich sah ihre Umgebung, sah die wichtigsten Ereignisse aus ihrer Vergangenheit, sah, was sie heute beschäftigte. Alle gehörten sie der Gegenwart an. Für so viel Information benötigt man Archive, Jahre, kilometerweise Film. Mir wurde das in einem Augenblick zuteil.
Als es vorbei war, sah ich Anastasia genauso wie vorher neben mir sitzen. Sie sprach zu mir: "Wladimir, rätsle nicht, wieso, mit wessen Hilfe und was hier eigentlich geschah. Sag lieber, hast du auch Kinder gesehen? Denn nach Erziehung wolltest du mich fragen. Denn Kinder sind das Wichtigste."
"Ja, ich sah auch Kinder. Die Gesichter voll Herzlichkeit und Reife. Alle bauen an einem großen und sehr schönen Haus, von einem grauhaarigen Mann geleitet. Er ist Akademiker und scheint sehr viel zu wissen. Trotzdem meint er, Kinder seien viel weiser als Gelehrte. Damit bin ich schor gar nicht einverstanden... Und die Kinder... Sie sprechen diesen Mann vertraut an, wie einen gleichen, jedoch mit Achtung.
Na ja, ich sah noch vieles: Was und wie sie lernen und  wovon sie träumen... Doch das waren nur Bilder, und die Wirklichkeit ist anders."
"Es ist die Wirklichkeit, Wladimir, darin wirst du schon bald bestätigt."
Und stellen Sie sich vor, tatsächlich! Es kam bald die Bestätigung!

GELEBTE VORSTELLUNG

Kurz nach meiner Rückkehr von Anastasia fuhr ich wieder nach Gelendschik, diesmal zu einer Leserkonferenz. Ein Vertreter der dortigen Kreisverwaltung wollte mir eine besondere Schule in der Nähe der Stadt zeigen. So lernte ich die sogenannte Waldschule vom Akademiker Michail Petrowitsch Schetinin kennen.
Ein enger Schotterweg führte von der Autostraße zu einem in den Bergen versteckten bewaldeten Tal. Der Weg endete bald an einer merkwürdigen Baustelle. Durch die leeren Fensterlücken eines ungewöhnlich aussehenden zweistöckigen Hauses hörte man Kinderstimmen ein russisches Volkslied singen Im Wald wirkte es auf mich wie eine Fata Morgana. Wortlos kletterte ich über die gestapelten Baumaterialien hinüber, um mich mit meinen eigenen Händen zu überzeugen, dass ich nicht träumte.
Als ich am Haus stand, sah ich ein etwa zehnjähriges Mädchen eine Leiter heruntersteigen. Das war eine einfache Leiter ohne Geländer, die aus dem oberen Stockwerk führte. Das Mädchen ging zu einem Haufen kleiner runder Kieselsteine und machte sich davon eine große Konservendose voll. Sie kletterte damit ganz geschickt die Leiter wieder hoch. Ich folgte ihr und dem einladenden Widerhall des Liedes. Im Obergeschoss des Hauses arbeiteten mehrere Kinder an der Verzierung der Wände. Sie waren auch so alt wie das Mädchen oder ein wenig älter als sie. Konzentriert und zügig verrichteten sie ihr Werk ohne Erwachsenenaufsicht. Aus den Kieselsteinen legten sie ein schönes Muster aus, indem sie die Steine mit Mörtel an der Wand befestigten. Zwei Mädchen polierten jeden neugelegten Stein mit feuchten Tüchern vorsichtig nach.
Später erfuhr ich, dass auch jeder Ziegelstein des Hauses von Kindern selbst gelegt wurde. Sie haben das Haus entworfen und von unten bis oben selbst errichtet. Und dieses Haus war nicht das einzige seiner Art. An diesem Ort schien es selbstverständlich, dass die Kinder selbst ihr Wohnen und ihr Leben gestalten und dass die Kinder viel singen. Ein zehnjähriges Mädchen kann hier beispielsweise ein Haus bauen und ein leckeres Essen zubereiten, wunderschön malen und tanzen, kennt eine traditionelle russische Kampfart. Die Kinder aus der Waldschule kannten Anastasia bereits. Sie fragten nicht, sondern erzählten mir selbst von ihr.
Die Waldschule vom Akademiker Schetinin ist eine staatliche Einrichtung und gehört dem Ministerium für Schulbildung der Russischen Föderation an. Das heißt, dass die Eltern nichts für die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen. Die Schule wirbt nicht für sich. Dabei liegen circa zweieinhalbtausend Bewerbungen für einen eventuell frei werdenden Platz vor. Die Schule nimmt nicht speziell Wunderkinder auf und verfolgt nicht die Absicht, aus den Kindern solche zu machen. Dabei erlernen ihre Schüler in einem Jahr das zehnjährige Mathematikprogramm einer normalen Schule. Vor allem aber sind die Kinder in der Waldschule glücklich. Ich weiß nicht, mit welchen Worten man die strahlenden Gesichter der Kinder beschreiben könnte, und bringe als Beispiel den Eindruck eines Kindes, das die Schule zum ersten Mal gesehen hat.
Gleich nach der Leserkonferenz in Gelendschik besuchte ich wieder die Waldschule. Diesmal mit einer Gruppe von Lesern, die diese Schule auch kennen lernen wollten. Unter ihnen war die als Schauspielerin, Regisseurin, Vorstandsmitglied der Roerich-Gesellschaft und einfach als guter Mensch bekannte Natalia Sergejewna Bondartschuk. Auf der Konferenz sprach sie über Rerich und über das esoterische Wissen. Viel klarer als ich erzählte sie über Anastasia. Auf die Fahrt zur Waldschule nahm sie ihre zehnjährige Tochter Maschenka mit. Die beiden hatten noch eine sehr interessante Reise nach Anapa zu einem Kinofestival vor, die für Maschenka besonders dadurch verlockend wurde, dass ihre liebe Oma, die Schauspielerin Inna Makarowa, auch an den Festspielen teilnehmen sollte. Daher kam Maschenkas Wunsch, während des Festivals in der Waldschule bleiben zu wollen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel für ihre Mutter. Als Natalia Sergejewna aber sah, dass ihre sonst eher unselbständige Tochter sich wirklich dazu entschlossen hatte, drei Tage an einem unbekannten Ort allein zu bleiben, sagte sie traurig: "Wir übersehen viel zu oft die Bedürfnisse unserer eigenen Kinder."
Natalia Sergejewna wurde von einem Kameramann begleitet. Er nahm Interviews mit den Schülern auf, in denen es um ihre Ansichten in verschiedenen Lebensbereichen und auch um Anastasia ging. Wir Gäste waren alle sehr neugierig und stillten die Neugier in den Gesprächen mit unseren Gastgebern. Wie zum Beispiel im folgenden Gespräch, das Natalia Sergejewna und ich mit den Kindern führten, während sie mit dem Bau ihres neues Hauses beschäftigt waren: "Wir haben den Eindruck, dass jeder dieser Ziegelsteine von einer hellen Energie durchdrungen ist.“
"Es ist auch so", antwortete ein älteres rothaariges Mädchen. "Die Steine haben die Energie der Menschen, die sie berührten. Und wir legten sie mit Liebe, wir wollten der Zukunft nur das Gute senden."
"Wer hat dieses Haus und seine Einzelteile, zum Beispiel die Säulen, entworfen?"
"Das alles ist ein Ergebnis unserer gemeinsamen Überlegungen."
„Soll ich das so verstehen, dass jeder hier nur äußerlich seine eigene Arbeit macht, dabei aber an das Ganze denkt?"
"Ja. Wir treffen uns jeden Abend und planen den nächsten Tag vor. Wir stellen uns das vor, was wir realisieren wollen. Einige unserer Schüler sind Architekten. Sie nehmen alle Vorschläge auf und fassen sie zu einem Entwurf zusammen."
"Was für eine Vorstellung hattet ihr für diesen Raum?"
„Die Gestalt von Swarog, der Feuergewalt des Himmels. Man kann diese Gestalt an den Symbolen im Raum erkennen."
"Habt ihr einen Bauleiter?"
"Ja. Wichtiger als der Leiter ist aber die gemeinsame Idee oder Lava, wie wir sie nennen."
"Was ist Lava? Eine Idee?"
„Ja, ein gemeinsames Gefühl, eine gemeinsame Gestalt, ein gemeinsamer Wunsch."
"Ihr scheint alle gerne und mit Freude zu arbeiten. Ist die Arbeit für keinen von euch nur Pflicht?"
"Das ist unser Leben. Wir tun das, was wir können, für das, was wir wollen."
"Sagtest du mir vor kurzem, dass jeder Stein sein Herz, seinen Rhythmus hat?"
"Ja. Einmal am Tag schlägt es."
"Ist es bei allen Steinen so? Oder sind es bei einigen zwei Schläge pro Tag?"
"Bei allen Steinen schlägt das Herz einmal am Tag."
"Habt ihr nicht auch den Eindruck, dass ihr eigentlich an einem Tempel baut?"
"Ja. Wenn es so ist, dann liegt es nicht an der Form. Der Tempel ist ein Zustand. Die Form ist nur ein Hilfsmittel für den erwünschten Zustand, der vom Gefühl geschaffen wird. Zum Beispiel, die Kuppeln an unserem Haus gehören keiner Tempelanlage an. Dennoch symbolisieren sie die Ausrichtung zum Himmel, den himmlischen Segen."
"Wenn jeder Stein hier mit Liebe gelegt wurde, kann dieses Haus auch heilen?"
„Natürlich."
"Gab es dafür konkrete Beispiele?"
"Ja."
Ich sah mir die Mädchen an, die weiterhin an dem Ornament aus Kieselsteinen arbeiteten. Sie waren ganz schlicht angezogen und auf den ersten Blick alles andere als auffällig. Ihre Schönheit war eine besondere und nicht gleich zu erkennen.
Mir ging durch den Kopf: Wo lernen wir Männer unsere künftigen Ehefrauen kennen? An Tanzabenden und in Kurorten. Wir heiraten geschminkte Gesichter und lange Beine und stürzen uns ins glückliche Eheleben. Bald ist aber die vermeintliche Schönheit abgeschminkt, und zu Tage kommt ein hässliches Subjekt, das dasitzt und unterhalten werden will, auch und vor allem im Sinne des Lebensunterhalts. So ein Reinfall! Hätten wir was Besseres verdient? Nein. Genau das haben wir verdient, wenn wir die Schönheit an der Länge der Beine messen. Und jemand wird aber einen richtigen Treffer landen. Jemand wird später eines dieser scheinbar unscheinbaren Mädchen heiraten. Sie kennen sich mit dem Hausbau und mit dem Haushalt aus, können verschiedene Fremdsprachen, sind klug und schön ohne Schminke. Und sie werden mit dem Alter nur schöner und klüger. Na ja, so einfach zu bekommen werden sie auch nicht sein. Wen werden sie denn heiraten wollen?
Und diese Frage kam in einem Interview mit den Mädchen vor.
„Ich stelle mir meinen Ehemann als einen herzlichen und geduldigen Menschen vor", sagte eine von ihnen. „Er sollte seine Heimat lieben und auf seine Ehre achten.
"Was verstehst du unter Ehre?"
"Für mich ist es eine Ehre, ein russischer Mensch zu sein.“
„Was ist für dich ein russischer Mensch?"
„Ein Mensch, der seine Heimat liebt, ihr auch in der Not beisteht und sich in jeder Situation als Teil seiner Heimat versteht."
„Möchtest du, dass deine Kinder sich auch für ihre Heimat einsetzen?"
„Ja!"
„Sollte dein Mann diese Ansichten unbedingt teilen?"
„Natürlich."
Und das zweite Mädchen sagte dazu: „Mein Mann sollte ein Mensch sein, der Wärme und Licht anderen Menschen schenkt. So ein Mensch bringt Freude in die Welt und in seine Familie. Nur große geistige Kraft ist wahrer Reichtum."
Das allerkleinste Mädchen wurde nicht interviewt und ich selbst fragte sie nach ihrer Meinung. Als Antwort kam:
„Vielleicht sind, wenn ich groß bin, alle ganz guten Männer schon verheiratet. Wenn mein Mann kein ganz guter und kein glücklicher Mensch sein sollte, dann werde ich ihm selbst helfen, so ein Mensch zu werden. So wie Ihnen Anastasia geholfen hat."
Spätestens nach diesen Worten wurde mir klar, dass Anastasia im geistigen Austausch mit den Kindern aus der Schule vom Akademiker Schetinin steht. Warum gerade mit diesen Kindern? Weil Michail Petrowitsch Schetinin selbst ein großer Magier vom irdischen Raum der Liebe ist und seine Schüler in diesem Sinne erzieht. Die heranwachsenden Anastasias werden ihre Oasen auf der Erde anlegen bis sie zu einem einzigen Raum der Liebe wird.
Von Ornamenten und Bildern des neu errichteten Hauses umgeben, hatte ich das Gefühl, im großen Tempel der guten Mächte zu sein, den die besten Meister der Erde mit ihren Werken ausgeschmückt hatten. Vielleicht wohnt in diesem Haus, das an jedem Fleckchen eine zärtliche Berührung der Kinderhände erfahren hat, eine helle Energie, die in ihrer Intensität einigen Tempeln dieser Erde nicht nachsteht? Ich sann nach...
Wir Erwachsene gehen mit modernen Bautechnologien an die zerfallenden Tempel unserer Heimat heran. Wir können sie mehr oder weniger schnell wieder instandsetzen. Wir sagen uns: "Wir haben unser Bestes getan." Wir werden die restaurierten Gotteshäuser betreten. Wir werden in ihnen um den Segen Gottes beten. Und Gott wird uns nicht segnen. Er wird uns nicht anhören. Er wird gerade im anderen Haus sein, hier, wo die Kinder sich überlegen werden, was sie statt der fehlenden Holzlatten und Ziegelsteine zum Bauen nehmen. Jeden aber, der diesen Kindern hilft, wird Gott segnen.
Ich wollte der Außenwelt diese wunderbaren kleinen Menschen aus der Waldschule zeigen und fiel damit der Versuchung anheim, vor der mich Anastasia gewarnt hatte:
„Wer kann den Keimling gegen Hagel schützen?"
Ich holte die Keimlinge ans Licht und setzte sie damit auch dem Hagel aus. So fing es an.
Ich ging an den Tischen vorbei, an denen die Kinder eine Mahlzeit zubereiteten. Ich spürte plötzlich eine angenehme Wärme auf meiner Haut. Man hätte eine Heizung in der Nähe vermuten können, aber ich kannte diese weiche Wärme schon, die ich unter dem Blick von Anastasia genoss, wenn sie mich konzentriert anschaute. Die Empfindung diesmal war sehr ähnlich, wenn auch viel schwächer. Ich blieb stehen und schaute mich um. Ein elfjähriges Mädchen verlas Reiskörner. Dabei blickte sie zu mir und lächelte mich an. Ich setzte mich an ihren Tisch und spürte eine noch intensivere Wärme in der Nähe ihrer strahlenden hellblauen Augen.
"Wie heißt du?", fragte ich.
"Guten Tag. Ich heiße Nasija", antwortete sie höflich.
"Du kannst also mit deinem Blick wärmen, so wie Anastasia?"
"Ja."
Inzwischen setzte sich Natalia Sergejewria zu uns, und der Kameramann begann unser Gespräch aufzunehmen.
"Wer beschenkt euch mit solchen Gaben?" "Die Sterne."
"Was hast du aus dem Kontakt mit Anastasia gelernt?"
"Dass es ganz wichtig ist, die eigene Heimat zu verstehen und zu lieben."
"Warum ist es so wichtig?"
"Weil die Heimat das Werk unserer Ahnen ist."
"Wer sind deine Eltern? Wo arbeitet dein Vater?"
"Mein Vater arbeitet als Lehrer. Die Schule, in der er unterrichtet, ist auch gut. Doch die Waldschule gefällt mir besser."
"Ihr habt hier eine Art glückliche Großfamilie. Vergesst ihr nicht eure eigenen Eltern?"
"Im Gegenteil, wir lieben sie immer mehr und senden ihnen unsere guten Gedanken zu Hilfe."
Ich wollte so sehr, dass dieses kleine Mädchen allen Zweiflern zeigt, was sie kann. Darum bat ich sie: "Nastjenka, diese Sendung werden im Fernsehen viele Menschen sehen. Kannst du bitte in die Kamera schauen und all diese Menschen mit deinem Blick erwärmen."
"Ich denke, wenn es viele Menschen sind, werde ich es nicht können", sagte das Mädchen.
Ich beharrte aber auf meinem Wunsch, und hier geschah das, was ich schon einmal mit Anastasia erlebt hatte. Ich berichtete in meinem ersten Buch, wie Anastasia eine Frau und einen Mann, die von Banditen gefoltert wurden, zu retten versuchte. Anastasia zeigte mir damals diese Szene, die sich in dem Augenblick irgendwo weit von uns abspielte. Meine Bitte, etwas daran zu ändern, lehnte Anastasia ab, denn sie meinte, es läge nicht mehr in ihrer Macht, in das Geschehene einzugreifen. Ich akzeptierte ihre Antwort nicht und drängelte weiter. Anastasia war meiner Bitte doch nachgekommen und schwebte in Lebensgefahr.
Nastjenka atmete zweimal tief ein, ohne auszuatmen, schloss ihre Augen und saß so eine Weile. Sie öffnete ihre Augen und blickte ruhig in die Kamera. Der Kameramann erstarrte vor Staunen. Und plötzlich sprang Natalia Sergejewna auf und warf das Tuch von ihren Schultern über das Mädchen. Die Frau hatte als erste gemerkt, wie blass Nastjenkas Gesicht wurde und wie ihr Körper zu vibrieren anfing. Erst jetzt bereute ich mein Verhalten: Wozu? Was kann schon einen, der nicht glauben will, überzeugen? Bewirkt es nicht nur das böse Gegenteil?
Viele Erwachsene, die mit mir die Waldschule besuchten, konnten sich auch nicht zurückhalten. Sie tätschelten, streichelten und umarmten die Kinder wie kleine Kätzchen. Wozu brachte ich so viele mit? Es war mir doch klar, dass diese Schule von Delegationen und Besuchern verschiedener Art schon immer belagert wurde. Die Neugier und der Wunsch, am Segen dieser Kinder teilzuhaben, führen viele Menschen her. Und die meisten nehmen ihren Teil des Segens mit und reisen ab, ohne von sich etwas Vergleichbares zu geben. Anastasia hat doch Recht, wenn sie sagt: "Wenn du den Segen eines Wallfahrtsortes suchst, so überlege vorher, was du selbst ihm bringen kannst. Es wäre schade, wenn das Empfangene nicht weiterstrahlt, sondern zu deinem Gefangenen geworden ist."
Ich gebe zu, mich hat in die Waldschule auch nur meine Neugier geführt. Und nur dank Anastasia wurde ich vom Akademiker Michail Petrowitsch Schetinin zu einem Gespräch eingeladen. Die Kinder deckten uns reich die Tische.
Und wir machten uns satt, und nicht nur am Essen. Wir sogen das Licht aus den Augen der Kinder in uns hinein. Und womit beschenkten wir die Kinder? Damit, dass wir sie majestätisch über die Köpfe streichelten?
So stand ich einmal fern aller anderen Besucher aus meiner Gruppe und grübelte nach. Unmerklich näherten sich mir Lena und Nastjenka, zwei Mädchen, die ich bereits gut kannte. "Ärgern Sie sich bitte nicht, lassen Sie diese Gedanken", sagte mir Nastjenka leise. "Die Erwachsenen können nicht anders. Sie wollen uns streicheln, uns umarmen. Für die Erwachsenen ist es ganz wichtig. Und Sie? Warum ärgern Sie sich den ganzen Morgen darüber? Kommen Sie lieber mit uns mit, wir können Ihnen von Anastasia erzählen. Ich weiß, in welchem Raum sie im Moment ist."
Unterwegs aber gesellte sich der Kameramann zu uns. "Lass uns die beiden interviewen", sagte er. "Endlich stört keiner, und dieser Wald als Hintergrund... Es kann eine geniale Aufnahme werden!"
"Wozu", erwiderte ich, "sind sie nicht oft genug ausgefragt worden?"
"Für dich machen sie es doch gerne. Versteh mich doch! Als Profi sage ich dir: Was wir hier drehen, ist ein Unikat! Weißt du, als einfacher Pressevertreter oder gar als Privatperson hätte ich hier nie drehen dürfen."
Ich nahm das Mikrofon in die Hand und sprach hinein:
„Liebe Mädchen! Habt ihr nichts dagegen, wenn wir ein Interview mit euch aufnehmen? Ihr werdet auf meine Fragen antworten."
"Fragen Sie uns, wenn Sie wollen", sagte Lena.
„Ja, natürlich werden wir Ihnen antworten", ergänzte Nastjenka.
Die Mädchen stellten sich nebeneinander, legten ihre langen blonden Zöpfe zurecht und guckten mir in die Augen. Nach zwei ganz banalen Fragen wusste ich nicht weiter. Mir wurde plötzlich klar, dass solche nichts sagenden Fragen ganz oft an sie gestellt werden. Und sie antworten geduldig verschiedenen Vertretern, Journalisten und einfachen Besuchern. Dabei sind sie fähig, solche Rätsel zu lösen, die auch Menschen mit großer Lebenserfahrung verschlossen bleiben. Ein Kosakenataman hatte vollkommen Recht, indem er sagte: "Mein Sohn ist erst drei Monate in dieser Schule, und schon merke ich, dass ich schnell einiges dazulernen muss, um in seinen Augen nicht als dumm zu gelten." Unterschätzen wir die Kinder nur in der Waldschule und nicht überall? Erniedrigen wir sie nicht auf Schritt und Tritt mit unseren primitiven Fragen? Reden wir ihnen nicht indirekt ein, wie klein und unwissend sie sind?
So stand ich vor den Mädchen, hielt das Mikrofon in meiner Hand und schwieg nun. Ich sah ihren Gesichtern an, dass ich ihnen in meiner Verlegenheit leid tat. Deswegen gab ich vor ihnen einfach zu: „Ja, mir fällt keine Frage ein, die ich euch stellen könnte." Danach wurde es ganz eigenartig: Zwei kleine Mädchen erklärten uns, zwei großen Männern, wie man ein Interview macht, wie man ein Gespräch mit einem anderen Menschen führt.
„Seien Sie ganz locker, lassen Sie los. Dies zu können ist wichtig. Und dann versuchen Sie ganz offen, aus Ihrem Herzen heraus, zu sprechen."
"Machen Sie sich keine Sorgen um uns. Das Mitgefühl mit Ihrem Gesprächspartner ist zwar notwendig, aber lassen Sie sich nicht schwermütig machen. Lösen Sie sich von den Sorgen los."
"Fragen Sie aus dem Herzen und denken Sie nicht daran, wie wir auf Ihre Fragen antworten werden. Überlassen Sie uns die Antworten."
"Wenn Ihnen keine Fragen einfallen, lassen Sie uns selber etwas erzählen."
Die beiden Mädchen liefen über eine Lichtung im Wald, berührten liebevoll die Grashalme und sprachen zu uns. Sie erzählten uns von der Schöpfung. Das tiefe Wissen ihrer reinen Seelen, der offene und herzliche Blick ihrer Augen verliehen ein ruhiges und sicheres Gefühl. Der Kameramann nahm die Mädchen aus der Ferne auf ohne die Position der Kamera zu wechseln. Natalia Sergejewna Bondartschuk schenkte mir später eine Kassette mit den Videoaufnahmen aus der Waldschule, und ich sah am liebsten die Filmszene mit diesen kleinen bezopften Magierinnen, die langsam über die Weite der Waldlichtung laufen. Und sie werden groß! Wie ihre dreihundert Mitschülern
Diese Seiten des Buches dienen nicht der Überzeugung der Ungläubigen. Ich schrieb über die Schule für Menschen, die Anastasia verstehen und mit Anastasia fühlen. Ich schrieb es ihnen zur Freude. Und alle, die mir nicht glauben, die mich für meinen schlechten Stil, für meine schlechte Grammatik und für meinen vermeintlichen Merkantilismus kritisieren, brauchen gar nicht weiter zu lesen. Ich warne am besten gleich vor: Ich schreibe jetzt das nächste Buch, und dort ist noch mehr „Irrsinn" und kein besserer Stil. Die, die sich bereits über mich ärgern, sollten erst gar nicht hineinschauen, ihrer Nerven wegen.
 
 

AKADEMIKER SCHETININ


Wer ist er? Wir sind gewöhnt, einen uns unbekannten Menschen anhand seines Lebenslaufs und seiner Titel zu beurteilen. Beim Akademiker Schetinin bringt uns das nicht weiter. In der Bibel steht: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Die Früchte vom Akademiker Schetinin sind die glücklichen Gesichter seiner Schüler und ihrer Eltern. Natalia Sergejewna Bondartschuk, Verdiente Künstlerin Russlands und Vorstandsmitglied des Internationalen Rörich-Zentrums (einer von der UNO anerkannten Organisation), meinte: „Ich habe viele namhafte Lehrer und bekannte Prediger aus verschiedenen Ländern kennen gelernt, und keiner hinterließ auf mich eine vergleichbare Wirkung. Ich vermute, wir begegnen hier einem Weisen, der uns unerahnte Wege durchs Leben weist."
Ich könnte meinen Eindruck von Michail Petrowitsch Schetinin und von seiner Schule auch äußern, hüte mich aber lieber davor. Ich bin kein Spezialist auf dem Gebiet der Bildung und könnte manches falsch interpretieren. Ich beschränke mich darauf möglichst unverzerrt die eigenen Worte vom Akademiker Schetinin wiederzugeben.
Natalia Sergejewna, ihr Kameramann, Michail Petrowitsch und ich gingen durch den Flur des Schulgebäudes. Der große offene Raum, der direkt an den Flur grenzte, war voll von Kindern verschiedenen Alters. Sie waren mit irgendeiner Aufgabe beschäftigt und ließen sich weder von unserem Besuch noch von der laufenden Videoaufnahme ablenken. Einige Kinder standen auf und gingen für kurze Zeit aus dem Raum. Die anderen liefen durch den Raum oder blieben vor Tafeln mit irgendwelchen Zahlen stehen. Wieder andere sprachen miteinander, als wollten sie einander etwas beweisen.
"Michail Petrowitsch, was geschieht hier?", fragte Natalia Sergewna.
"Hier beobachten Sie im Grunde einen Kontaktversuch. Wem der Kontakt gelingt, der wird den Mathematiklehrstoff des zehnjährigen Schulprogramms spätestens in einem Jahr beherrschen. Diese Aufgabe steht vor den Kindern. Sie suchen nach Menschen, die bereits über die notwendigen Mathematikkenntnisse verfügen. Sie suchen den Kontakt im Bereich des bio-energetischen Feldes. Wenn der Kontakt zwischen den beiden Feldstrukturen geschlossen wird, kann der Informationsaustausch stattfinden. Es ist wie bei der Liebe auf den ersten Blick: Du hast noch nicht das Wort ausgesprochen, und dein Partner hat dich bereits verstanden.
Sie sehen, in diesem Raum sind alle Voraussetzungen für ein freies Verhalten jedes Kindes geschaffen. Die Kinder können beliebige Fragen aussprechen, aufstehen, laufen, herein- und hinausgehen. Wichtig ist, im Kontakt zu bleiben. Die Kontaktaufnahme, die Beziehung an sich, ist überhaupt unser Schwerpunkt. Die Fähigkeit dazu wird vom Schüler wie vom Lehrer gleichermaßen verlangt. Wir versuchen alle Hindernisse, wie zum Beispiel die Altersstufen, aus dem Weg zu räumen. Sie sehen hier neben dem fünfzehnjährigen Iwan Alexandrowitsch die zehnjährige Pascha sitzen. Und neben den beiden sehen Sie Sergej Alexandrowitsch. Er ist Student und schließt in diesem Jahr sein Universitätsstudium ab.“
"Wie alt ist Sergej Alexandrowitsch?"
"Er wird in diesem Jahr achtzehn."
"Wie bitte? Mit siebzehn ist er bereits im Abschlussjahr an der Universität?"
"Ja, in dieser Generation ist er siebzehn. Wir versuchen vom Alter überhaupt abzusehen. Hier sehen Sie, dass auch die Lehrer von den Schülern kaum zu unterscheiden sind. Ich muss zugeben, vor uns ist eine besondere Gruppe. Im Raum sind jetzt diejenigen, die am Bau des neuen Hauses nicht teilnehmen konnten. Sie befassen sich dafür mit Mathematik, um später die gewonnenen Kenntnisse an die anderen weiterzugeben. Diese spätere Aufgabe wird ihnen auch gelingen, denn sie entwickeln jetzt ein sogenanntes Integrationsmuster der aneinander angepassten Elemente.
Unser kollektives Gedächtnis kennt die Struktur des Kosmos wie auch jede seiner Lebensformen. Man darf dem Kind auf keinen Fall sagen, du weißt dies oder jenes nicht. Wenn ein Lehrer Unwissenheit seiner Schüler voraussetzt - und sei es auch nur in seinen Gedanken - werden seine Schüler auch unwissend. Das Wichtigste für den Lehrer, der etwas zu erklären sucht, ist eine Kontaktaufnahme zu den Schülern im Bereich der gemeinsamen Suche. Der Schüler sollte nicht auf den Lernvorgang an sich und schon gar nicht auf den Gedanken „Mein Lehrer weiß Bescheid“ konzentriert werden. Es zählt nur eine Mitarbeit der Gleichen. Und die Erkenntnis, die während der Lösung einer Aufgabe gewonnen wird, ist eigentlich kein neues Wissen, sondern das wiedererlangte vergessene Wissen. Die Erkenntnis ist die Nachwirkung eines Reflexbogens, einer stimulierten Reaktion, die Pawlow mit den Worten, Notwendigkeit bringt die ,Lösung' beschrieb.
Deswegen ist bei jedem Erkenntnisprozess die Verbindung zur Gegenwart, zu den Sorgen der Mitmenschen das Primäre. Diese Kinder, die vor Ihren Augen an einer Aufgabe arbeiten, tun es nicht für sich selbst, nicht für die Zensur, mit der sie belohnt werden. Sie tun es für die anderen. Sie sollen das gewonnene Wissen in wenigen Tagen an ihre Arbeitsgruppen weitergeben. Jeder hier ist für eine Gruppe, die am Bau beschäftigt ist, verantwortlich. Jeder leitet dort den Lernvorgang an. Jeder bringt sein Wissen in seine Gruppe. Jeder sieht zu, dass seine Gruppe am Bau nicht schlechter als die anderen vorankommt. Jeder will dem anderen dienen. Je stärker die Motivation, desto schneller der Lernvorgang.
Eigentlich lernen sie nicht Mathematik. Mathematik ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg der Erkenntnis. Sie studieren den Menschen, der sich mit Mathematik befasst. Sie lernen, die Seele, die Wünsche und die Gedanken eines Menschen verstehen. Voraussetzung dafür ist die Offenheit. Deswegen sind Kränkungen und Beleidigungen aller Art zu meiden, und dies bereits beim Wortgebrauch. So fehlen unserer Umgangssprache hier solche Ausdrücke wie ,falsch'. In der alten russischen Sprache gab es keine Wörter, die den Gedankenfluss verhindern, gab es keine Negativ- begriffe. Genauso war es bei allen Urvölkern. Die ,schlechten' Wörter gab es nicht. Das Negative, das Schlechte existiert nicht, also gibt es keine Begriffe dafür. Angenommen, Sie geraten in eine Sackgasse. Die Bemerkung: ,Sie sind am falschen Ort', wird Sie nicht weiterbringen. Sie brauchen eine Wegweisung: ,Gehen Sie nach rechts, dann wieder nach links, dann nach oben...'
Die Behauptung moderner Russophoben*, die Schimpfwörter kämen aus dem Altrussischen, ist eine Lästerung. Dagegen lesen wir bei Kobsew:

Bei unsern slawischen Urahnen
War hoch gerühmt die Kunst zu reden.
Über das täglich Tun erhaben,
Erklang das Wort als wahrer Segen.

* Ein Mensch, der alles Russische ablehnt.

Es ist von großer Bedeutung, die Sprache von überflüssigen Wörtern zu reinigen. An solchen Wörtern verliert sich der Gedanke. Die Bausteine der Sprache sollten einen tiefen Sinn und ein tiefes Gefühl tragen.
Das wahre Erbe ist das des Geistes. Notwendig ist für die Eltern, ihrem Kind zu einem Einstieg in den natürlichen kosmischen Prozess zu verhelfen, zum Einstieg in die ewige Wiedererzeugung des Lebens. Damit öffnet sich dem Kind die Freude an dem Unvergänglichen, an dem Wirklichen.
Wenn du dem Kind ein Hemd, eine Hose, ein Paar Schuhe kaufst, reicht es für eine Saison. Schenkst du dem Kind deinen guten Ruf, deine Würde, dein Werk und deine Freunde, die unter glücklichen Menschen deines Volkes weiterleben, wird dein Kind selbst ein Haus bauen und sich mit allem versorgen. Schenkst du dem Kind deine Erkenntnis des wahren und des weisen Lebens, wird dein Kind ein glücklicher Mensch sein."
Als ich dem Akademiker Schetinin zuhörte, merkte ich, wie sehr seine Beziehung zu den Kindern den Gedanken von Anastasia entspricht. Wie kann es bloß sein, dachte ich, dass eine sibirische Einsiedlerin und ein grauhaariger Akademiker soviel Gemeinsames haben? Warum spricht er mit mir, lässt mich an den Mahlzeiten teilnehmen und führt mich durch seine Schule? Von Pädagogik verstehe ich nichts und bin schon als Schüler schlecht gewesen. Natürlich hilft mir wieder Anastasia.
Es war mir klar, dass ich nur dank Anastasia in der Waldschule gelandet bin. Dabei habe ich mit dem Akademiker Schetinin über Anastasia nicht gesprochen. Und auch über mein Buch äußerte er sich nur kurz: "Es ist eine sehr genaue Darstellung."
Oft sprach ich mit Michail Petrowitsch über meine Alltagssorgen, oft besuchte ich mit ihm den werdenden Haus-Tempel. Es vergingen bereits mehrere Tage seit meinem missglückten Interview mit der Wärme spendenden Nastjenka. Immer wenn ich durch die Waldschule ging, hoffte ich, sie zu treffen, suchte wie wir alle nach Licht und Wärme. Während ich mich so einmal intuitiv nach Nastjenka umguckte, sagte Michail Petrowitsch, der mich begleitete:
"Nastjenka erlischt. Ich versuche, sie wieder zu stärken. Es wird aber noch eine Weile dauern."
"Erlischt? Warum? Sie ist doch so stark. Was ist geschehen?"
"Ja, sie ist stark. Aber ihre emotionale Überanstrengung war auch sehr stark."
Ich stand im Arbeitszimmer vom Akademiker Schetinin und ärgerte mich schwarz über mich selbst. Wozu? Wozu nur wollte ich jemandem etwas beweisen?

....

Manche Menschen hören innere Stimmen:
„Wann redet sie die Wahrheit? So viele von den Mittlern sind der Meinung, zu ihnen spricht das Höhere Bewusstsein."
"Die Wahrheit wird an dem Gefühl erkannt. Spürst du die Wärme in der Seele, Wladimir, spürst Düfte, Klänge, Tränen aufkommen, fühlst eine ungeahnte Freude, sei dir sicher: Mit ihnen kommt die Wahrheit. Denn sie läutert die Seele und lädt sie ein zum Schöpfen.
Vernimmst du Informationen ohne Regung der Seele, und scheinen sie ganz wichtig, sind sie unwahr und leer, nicht vom Licht. Stellt sich ihr Sender dar als mächtig, groß und weise, so sucht er nach Sklaven jenes Unvollkommenen, das herrschen will und das nicht herrschen kann."
 
 

GEHEN WIR ALLE IN DEN WALD?


,Anastasia, mir ist noch ein Wunsch von vielen Lesern eingefallen. Viele wollen so leben wie du. Einige fragen bereits, wie sie dich im Wald finden. Die anderen wollen ihre eigenen Siedlungen in der Taiga aufbauen und schicken ihre Vorschläge nach Moskau, in das Forschungszentrum deines Namens. Eigentlich sind solche Ideen nicht neu. Viele Menschen verlassen die Städte und  ziehen aufs Land. Manche von ihnen gründen Gemeinschaften. Ich habe über solche Gemeinschaften gelesen. Es gibt sie in Indien, in Amerika und auch in Russland, zum Beispiel im Kreis Krasnojarsk. Viele Leser richten ihre Fragen direkt an dich: Wie sollten sie ihr Vorhaben am besten verwirklichen?"
"Umsiedeln wollen sie. Warum?"
"Warum? Das sollte dir doch klar sein. Diese Menschen wollen die verschmutzten Städte verlassen. Dort ist die Luft schlecht, dort ist Lärm, dort lebt man gestreßt. Sie wollen dorthin ziehen, wo es sich gut lebt, wo die Ökologie noch stimmt und wo es noch sauber ist. Sie selber wollen dadurch reiner werden."
"Wer soll dort aufräumen, wo sie leben? Die anderen?" "Ich weiß nicht, wer. Es ist doch auf alle Fälle gut, wenn die Menschen wieder in die freie Natur hinauswandern." "Ihr Wunsch ist gut und doch ersetzt er nicht ihre Verantwortung für ihren Lebensraum. Was bringen diese Menschen der Natur, wenn sie dem Schmutz entfliehen? Nur den Schmutz. Wenn sie dort aufräumen, wo sie sind, werden sie selber rein."
"Das Aufräumen also. Wie soll das in der Praxis aussehen?"
"Es fängt mit der Erkenntnis an. Wenn eine Arbeit als notwendig erkannt wird, findet jeder die optimale praktische Anwendung für seine Kraft. Die Ausrichtung der Gedanken gleicht einem Bach, der sich durch Berge schlängelt zum Flusse hin.
Achte auf die Wirklichkeit, Wladimir. Geschieht nicht langsam das, wovon wir sprechen? Wenn die Fabriken schließen, wenn Armeen nun mehr ums Geld vom Staate kämpfen, wenn vor allem nicht die als Helden gelten, die die Erde verschmutzen und verwüsten. Und der Wald? Der Mensch ist heute für den Wald ein Fremdling, der seit der Urzeit Wald gerodet hatte, um ohne ihn zu leben.
Den Wald entstehen lassen in der Wüste, so heißt die Aufgabe heutzutage. Die kleinen Gärten um die Städte sind der Anfang der neuen Erde, die dem Menschen wieder zum Haus und zum Raum der Liebe wird. Wladimir, achte hoch die kleinen Gärten, es sind Oasen in der Welt des Seelenlosen. Hier kennt und liebt den Menschen jede Pflanze. Hier heilt der Raum die Seele des Menschen. Hier zeichnet sich der Weg ins Paradies."

......

Welch in Glanz! Und jegliche Bewegung hörte auf. Die Vögel schwiegen und der Wind hielt an, die Luft stand bläulich über Zedernwipfeln, als würde es warten auf ihr Wort. Und überzeugt, und laut, fast verwegen erklang in dieser Stille ihre Stimme. Sie sandte ihre Worte in den Raum, der Raum klang, Anastasia sprach:
"He, ihr Propheten! Ist es denn unmöglich, hier auf der Erde glücklich je zu werden? Ihr predigtet die Hölle, das Gericht, und so Jahrtausende lang. Jetzt werdet still, denn
es ist eure Schuld, dass zu dem Himmlischen der Mensch selten findet.
He, Nostradamus! Deinem Geist entsprangen die großen Katastrophen dieser Erde. Dein Geist zwang erst die Menschen, dir zu folgen und so die Katastrophen zu bereiten. Deine Idee schwebt über der Erde, für viele scheint bis heute unumgänglich die dunkle Zukunft deiner Prophezeihung. Doch deine Zukunft lasse ich nicht zu. Meine Gedanken fordern deine auf zum Kampf! Was sehe ich: Du fliehst?
He, alle selbsternannten Seelenführer! Ihr großen Lehrer, die ihr lehrt, wie schwach im Geiste, wie irrend und wie lind ein jeder wäre, und wie er euch, den Sehern, folgen solle und wie er euch, den Auserwählten, danke. Ihr irrt euch, es ist nicht die Stimme Gottes, die aus euch spricht, sondern euer Stolz. Verdeckt dem Menschen nicht des Gottes Schöpfung! Ersetzt die Wahrheit nicht durch dunkle Dogmen! Versperrt dem Menschen nicht den Weg zum Vater! So werdet leise! Denn des Mittlers bedarf Gott nicht!
Gott spricht zu jedem ohne Mittler, jedem gab er die ganze Schöpfung und die ganze Wahrheit. Die Wahrheit Gottes lebt in jeder Seele, der Weg zu ihr, zum Glück, ins Paradies steht jedem offen, heute, nicht erst morgen."
Es ist ein Spiel! Ihr Spiel! Natürlich ist es nur Spiel!
Warum jedoch ist über ihr und über der Taiga ein sonderbares Licht? Als wollte selbst der Himmel Anastasias Worte aufzeichnen...
„He, aller Zeiten finstere Hellseher! In Gottes Namen drohtet ihr den Menschen, ihr drohtet mit der Hölle: Eure Drohung gebar die Hölle. So entstand die Hölle zuerst im Raum eurer Gedanken und, gut gepflegt in eurer Vorstellung, sie wurde in den Menschen dann zu Angst. Ich bin bereit, die ganzen finstren Dogmen mit meinem Strahl zu tilgen, bin bereit, die Hölle dieser Erde zu entmachten. So komm bloß her, das Böse, flieg zu mir, lass die von dir gequälte Erde ruhen!
Ihr Glaubenskrieger, wartet nicht mit Freude auf mich, ich bin nicht aus dem Lager, wo Krieg ausgebrütet und geboren wird. Hier werden nicht die andern für mich sterben, ich bin zum Kampf doch nicht zum Krieg bereit. Die ihr den Krieg nur kennt, versucht zu kämpfen, versucht es gegen mich allein!
Doch stehe ich hier nicht ganz allein, mir helfen die Gottesdiener dieser ganzen Erde, die in verschiedenen Religionen dem Gott im Herzen dienen. Gebet ihnen, oh meine lieben Ahnen, gebet diesen Menschen das REINE LICHT des Ursprungs, gebet ihnen, was ihr für mich behutsam aufbewahrt. An alle, die das Licht empfangen können, gebet das LICHT!
Das Böse wird im Kampf sich selber plagen, es hat den Zugang zu der Seele nicht. Und wenn es ihm gelingt, mich zu zerstören, so wird mein Leib zerstört, und meine Seele, sie gebe ich den Menschen hin, bestehe in ihnen weiter... Richte dich zum Kampf, du dunkle Macht, geh von der Erde fort, komm auf mich zu: Denn ein Mensch erwartet dich!
Ich bin ein Mensch! Ich bin DER-MENSCH-DES-URSPRUNGS! Ich bin Anastasia."
„Ach lass, wozu die ganzen Bösen holen", sprach ich zu ihr, blieb selber aber ruhig, ich hielt das alles weiter für ein Spiel.