Es wird erzählt, als Jesus geboren werden sollte, erschien der Stern nicht nur den weisen Königen im Morgenlande, sondern auch einem König in Rußland. Er war kein mächtiger und reicher Herr, er war nur ein kleiner König, aber gutmütig und menschenfreundlich. Schon von seinen Vorvätern wußte er, daß einmal ein Stern erscheinen und den Beginn eines neuen Reiches der Güte ankündigen würde; wer dann König sei, müsse sofort aufbrechen und dem größeren Herrn dienen.
So ließ der kleine König sein Lieblingspferdchen Wanjka satteln, nahm etliche Rollen vom zartesten Linnen, einen Vorrat seltener Edelsteine und viele kleine Lederbeutel mit Goldkörnern; von seiner Mutter ließ er sich noch ein kleines irdenes Krüglein Honig hinzutun, den die samtpelzigen Bienen in den Linden Rußlands gesammelt hatten. Dies waren die Gaben, die der kleine König mitnahm,darin ritt er eines Nachts auf Wanjka davon, als der Stern am hellsten leuchtete. Er ritt durch sein ganzes Königreich, aber der Stern stand nicht still.
Zwei, drei Monde lang war er schon unterwegs, als er eines Nachts auf eine vornehme Reisegesellschaft stieß, die ebenso dem Stern folgte wie er. Es waren reiche Herren, die auf Kamelen ritten und eine große Gefolgschaft bei sich hatten. Der kleine König freute sich und versuchte mit Wanjka Schritt zu halten. In der Herberge aber nahmen die großen Herren allen Platz in Anspruch. Darum ging der kleine König in die Scheune, wie er's kannte, und schlief tief als läge er auf einem russischen Ofen.
Es war aber auch ein junges Bettelweib hier untergekrochen, und während der kleine König schlief, hatte sie einem Mädchen das Leben geschenkt. Als der kleine König ihre Armut sah, holte er Essen und Trinken aus der Herberge und füllte auch ihren leeren Beutel mit ein paar Prisen Gold, und weil das Kindchen nichts als die eigene dünne Haut mit auf die Welt bekam, trennte er vom Linnen ein halbes Dutzend der schönsten Windeln, volles, breites, russisches Maß, davon ab.
Nie mehr holte der kleine König die Karawane der Herren aus dem Morgenlande ein. Solange aber der Stern am Himmel stand, zog er unverdrossen seinen eigenen Weg. Krankheit und Hunger fraßen um sich, die Menschen verzagten und verstummten. Aber wenn die Not gar zu grausig wurde, dann griff er in seinen Gabenschatz und streckte daraus für den AlIherrscher bereits etwas vor. Auf diese Weise schrumpfte sein Gold zusammen, und es war abzusehen, wann der letzte Beutel leer sein würde.
Eines Abends war der kleine König Zeuge, wie zwei Aufseher die Arbeiterinnen und Arbeiter einer Pflanzung mit Stöcken schlugen, weil sie nicht schnell genug gewesen seien, und wie einige von ihnen zusammenbrachen. Da konnte er nicht weitergehen, sondern kaufte die ganze Schar frei. Diese aber kamen schon am nächsten Morgen und fragten, wer ihnen nun zu essen gäbe. Sie waren nicht nur den Stock, sondern auch die Suppe gewohnt und fanden die Freiheit beschwerlich. Da gab er ihnen nochmals Geld für die nächsten drei Tage. Als der kleine König an diesem Abend den restlichen Schatz zählte, beschloß er; von nun an die Gaben des Allherrschers nicht mehr anzugreifen.
Aber schon am nächsten Tag verstieß er gegen den eigenen Vorsatz, als er Aussätzigen begegnete, für die er eine ganze Rolle Linnen in feine Streifen zerschnitt, um ihre eiternden Schwären zu verbinden. Wieder ein paar Tage später fand er einen ausgeplünderten Kaufmann am Wege, dem er helfen mußte. So ging gerade ein Jahr vorbei, als der kleine König in allen Packtaschen den Boden fühlen konnte.
Auch Wanjka war ein Pferdejahr älter geworden, und das gilt mehr
als ein Jahr unter Menschen. Eines Morgens lag Wanjka krank auf dem Boden,
zu schwach aufzustehen, und wenig später war der treue Begleiter tot.
Der kleine König nahm lange Abschied, dann ging er zu Fuß weiter.
Er wußte, daß seine Reise nun länger dauern würde.
Er ging und ging, ging tagsüber und nachts, und eigentlich konnte
man sagen, daß der kleine König aus Rußland eine Art Landstreicher
wurde.
Schließlich kam er ans Meer, in eine fremdartige Hafenstadt.
Er schaute einer Galeere zu, die im Hafen lag, zur Abfahrt bereit; nur
fehlte ein Mann, denn von den Ruderknechten war einer tot. Es war ein Schuldner
des Schiffsherrn gewesen. Nun verlangte dieser den noch jungen Sohn
des Toten, während die erschreckte Mutter um Erbarmen flehte. Den
kleinen König rührte die junge Frau. Als der Schiffsherr Befehl
gab, mit Gewalt den Jungen seiner Mutter zu entreißen, trat der kleine
König unter die Leute und sagte leise, dann gehe er statt des Knaben.
Oho! Traue er sich es zu? Das solle er dreimal überlegen. Damit
trete er in eine große Schuldenlast ein, und die Reise sei nicht
so bald zu Ende. Der kleine König blickte die junge Witwe an, deren
Augen überweit geworden waren. "Es bleibt so", sagte er leise, stieg
ins Schiff hinunter, wo der Galeerenvogt ihn in die Eisen schloß.
Nun kam die Zeit im Leben des kleinen Königs, von der so schnell
erzählt ist, und die doch so grausam lange währte, beinahe dreißig
Jahre lang. Dreißig Jahre auf der Galeere. Derweil starb der Schiffsherr,
sein Sohn erbte ihn; die Galeerenvögte wechselten mehrmals, bald wußte
niemand mehr, daß er nur an Stelle eines anderen an die Ruderbank
geschmiedet war. Am Ende war der kleine König nur noch ein Schatten
seiner selbst. Als man ihn eines Tages aus dem Sklavendienst entließ,
mußte man ihn an Land tragen. Er taugte nicht mehr zur Arbeit. Er
taugte nur noch zum Sterben.
Nur langsam, ganz langsam kam er wieder zu sich. Er fand Menschen,
die ihm zu essen und trinken gaben, auch einen Platz zum Schlafen, solange
er noch nicht wieder gehen konnte. Als seine Füße ihn wieder
trugen, schwach und unsicher genug,ging er wieder auf die Landstraßen
hinaus. Der Stern war längst erloschen, doch von früher wußte
er noch, wo sein Stern zum letzten Mal geleuchtet hatte; so folgte er weiter
dieser Richtung. Mit der Zeit mehrte sich das Leben ringsum. Die Zahl der
Menschen, die durch seine Straßen zogen, wurde größer;
eine bedeutende Stadt mußte voraus liegen. Gegen Abend konnte man
ihre Tore und Paläste sehen. Aber der kleine König wollte in
das Getümmel nicht mehr eintauchen. Er suchte sich einen Schlafplatz
in einem Wäldchen von Ölbäumen dicht vor den Toren der Stadt.
Sein krankes Herz fühlte am kommenden Morgen, daß es ein schwüler
Tag würde. Es ging schon gegen Mittag, als er langsam den Hügel
hinabstieg und mit schwerem Atem der Stadt zustrebte. Da war ein Gedränge
und Gehast, die Menschen voller Aufruhr. "Sie haben den Größten,
und sie wollen ihn zum Geringsten machen", sagte eine alte Bettlerin "Er
hat die Armen geliebt, die Blinden sehend und die Lahmen gehend gemacht.
Jetzt wollen sie ihn ans Kreuz schlagen." Der kleine König war wie
von Sinnen. „Wie alt ist er?" fragte er. „So um die dreißig." Die
Menge schob ihn weiter. Bald stand der kleine König auf dem Schindanger
der Stadt. Eben richteten Knechte drei große Kreuze auf, an denen
zum Tode verurteilte Menschen hingen. Schritt um Schritt kam er näher,
seine Augen nur auf den in der Mitte gerichtet. Der kleine König wußte,
daß Er es war, der in der Mitte hing, der größte aller
Zeiten, dem er als Kind zu huldigen vor mehr als dreißig Jahren aus
Rußland ausgezogen war. Er wußte es, wenn er Ihn nur anschaute
und von Ihm angeschaut wurde.
Aber das war zuviel für des kleinen Königs Herz. Einen Augenblick
dachte er gequält: Ich habe nichts mehr von allem, was ich dir mitbringen
wollte. Alles ist hin und vertan. Doch dann flüsterten seine Lippen,
ohne daß er es da noch wußte: "Aber mein Herz, Herr, mein Herz,
nimmst du es an?"
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