Nur für Jungs:
Das Messer in der Hand, schneide ich ein
Brot
und mir in den Finger. Es blutet. Ein
Mädchen
würde in der Dramatik dieser Situation
aufgehen.
Würde sagen: Schau, das geht ja bis
auf den
Knochen! Würde sich überlegen,
wie ein Leben
mit neun Fingern ist, während ich
als Junge
weiter mein Leben mit zehn Fingern plane.
Ich
sage mir: Reden wir mal nicht nur über
die
Wunde, lassen wir mal Tatsachen sprechen.
Ich
erinnere mich an eine Studie, die sagt,
dass nur
sieben Prozent all derer, die sich ein
Messer ins
Fingerfleisch bringen, diesen Finger auch
verlieren. Das ist meine Weise, mit Krieg
umzugehen. Ich bin ein Junge und habe
nicht
Lust, Worte wie "unfassbar", "schrecklich",
"unbeschreiblich" in die Welt zu husten.
Am
Ende mit hinterhergeblickter Leidensmiene
versehen. Vielmehr: Da ist Krieg, und
ich denke:
unfassbar. Aber ich sage es nicht. Da
ist Terror,
Krieg, Vergeltung. Wie ich reagiere? Ich
lege mir
ein Fundament, auf das ich mich stellen
kann,
und sage: Ja, was da passiert, ist schlimm,
aber: Ich darf nicht wanken in meinem
Mut, nur
weil ich schlimme Fernsehbilder sehe.
Denn was
wäre erst, wenn die Bilder zu mir
kämen? Wenn
Krieg bei mir und ich in ihm wäre?
Wie ich dann
erst wackeln würde. Und heulen.
Was also tue ich? Ich klebe etwas auf die
Ereignisse. Ich flüchte, in
technisch-strategisch-logistische Sachfragen.
Das ist das Pflaster auf der Wunde: Ich
will
keinen gefühlsschwangeren Kram reden,
der
mühsam versucht, den Problemen der
Welt
beizukommen. Ich rede über die Fakten.
So
etwa: "Ist es nicht der Hammer: Da starten
die
Amis in Amerika einen Tarnkappenbomber"
-
"Einen B-52" - "Nein, das sind doch
Stealthfighter" - "Nee, vergiss es" -
"Jedenfalls
fliegen die von Amerika nach Afghanistan,
bomben und lassen sich in der Luft betanken.
In
der Luft, Alter! - "Da haben die ein eigenes
Ausbildungszentrum, wo die Piloten trainieren"
-
"Die haben ja auch die Delta Force". Es
macht
mich sicher, über etwas zu reden,
das ich nicht
verstehe, von dem ich aber weiß,
dass andere
es verstehen. Indem es andere verstehen,
gebe
ich meine Verantwortung ab, Krieg zu verstehen.
Ich rede über Technik und Strategie
und
verdränge die Angst. Ich klebe ein
Pflaster auf
die Welt und sage, dass das Pflaster die
Wunde
ist und rede über das Pflaster. Das
tut nicht
weh.
Peter Wagner
|
Nur für Mädchen:
Es gibt einen Unterschied zwischen Furcht
und
Angst. Furcht macht schnell, Angst lähmt.
Furcht haben wir vor Ereignissen und
Situationen, die wir kennen. Wir wissen,
wie wir
reagieren müssen, um dem Furchtbaren
zu zu
entkommen. Im einfachsten Fall reicht
es, wenn
wir wegrennen. Im schwierigsten Fall müssen
wir
ihm entgegentreten und uns mit ihm schlagen.
Angst haben wir vor dem Unberechenbaren,
den
Dingen, die verborgen sind. Angst frisst
sich
fest, sie macht, dass wir uns nicht mehr
bewegen können. Sie ist ein Gast,
der nicht
geht, wenn wir ihn darum bitten. Sie bleibt,
bis
sie alles aufgefressen hat: die Sonne,
das Licht,
das Lächeln. Der Krieg, der zur Zeit
herrscht,
wird mit Angst geführt. Weil es eine
neue Form
des Krieges ist, die so noch niemand erlebt
hat.
Dieser Krieg ist die Zukunft, keiner kann
sagen,
wie er enden könnte. Alles ist möglich,
wie in
einem Alptraum.
Das Magazin Der Spiegel hat die Deutschen
gefragt, ob sie Angst davor haben, dass
Europa
in den Krieg gezogen wird. Nur 56 Prozent
der
Männer beantworteten diese Frage
mit "Ja", bei
den Frauen waren es 85 Prozent. Mädchen
reagieren auf schreckliche Dinge anders
als
Jungs. Jungs wenden sich dem zu, was sie
kennen: Waffen, Strategien, Flugzeuge.
Sie
reden darüber, wie man wo am besten
vorgeht
und mit was. Sie denken einen Anfang und
ein
Ende, damit befinden sie sich auf sicherem
Boden. Statt Angst zu haben fürchten
sie sich,
aber dagegen kann man ja was tun. Mädchen
können Konflikte nur dann lösen,
wenn sie sie
verstehen. Aber an diesem Krieg gibt es
nichts
zu verstehen, er ist kompletter Irrsinn
und
entzieht sich jeder Logik. Das macht ihnen
Angst, sie müssen daran denken, was
passieren
könnte, und dadurch wird die Angst
noch
schlimmer. Mädchen denken daran,
dass ihr
Freund vielleicht an irgendeine Front
geschickt
werden könnte oder ihr Vater plötzlich
nicht
mehr da sein könnte, und dass sie
dagegen
dann auch überhaupt nichts tun könnten.
Oder,
wenn sie ein Baby haben, wissen sie nicht,
wie
sie es vor einer Bedrohung schützen
sollten, die
sie nicht einmal selbst kennen. Mädchen
haben
Angst um ihre Lieben, nicht um sich selbst.
Wenn ein Mädchen ins Krankenhaus muss,
wird
sie nicht weinen. Sollte aber ihr Freund
eine
schlimme Krankheit haben, wird sie es
sofort
tun. So wurden vor Jahrtausenden die Rollen
verteilt: Der Mann kämpft vor der
Höhle mit
Waffen gegen die Starken, die Frau sitzt
drinnen
und schützt mit Wärme die Schwachen.
Und so
mittelalterlich wie dieser Krieg mit neuem
Schrecken ist, so mittelalterlich ist
deshalb auch
die Angstverteilung. Es ist die neue alte
Ohnmacht, die den Frauen Angst macht.
Die
Männer greifen einfach zur Waffe
und führen
Krieg. Gegen wen oder was auch immer.
Simone Buchholz |