www.jetzt.de           HEFT #43  22.10.01

KRIEG

Nur für Jungs:
 

Das Messer in der Hand, schneide ich ein Brot 
und mir in den Finger. Es blutet. Ein Mädchen 
würde in der Dramatik dieser Situation aufgehen. 
Würde sagen: Schau, das geht ja bis auf den 
Knochen! Würde sich überlegen, wie ein Leben 
mit neun Fingern ist, während ich als Junge 
weiter mein Leben mit zehn Fingern plane. Ich 
sage mir: Reden wir mal nicht nur über die 
Wunde, lassen wir mal Tatsachen sprechen. Ich 
erinnere mich an eine Studie, die sagt, dass nur 
sieben Prozent all derer, die sich ein Messer ins 
Fingerfleisch bringen, diesen Finger auch 
verlieren. Das ist meine Weise, mit Krieg 
umzugehen. Ich bin ein Junge und habe nicht 
Lust, Worte wie "unfassbar", "schrecklich", 
"unbeschreiblich" in die Welt zu husten. Am 
Ende mit hinterhergeblickter Leidensmiene 
versehen. Vielmehr: Da ist Krieg, und ich denke: 
unfassbar. Aber ich sage es nicht. Da ist Terror, 
Krieg, Vergeltung. Wie ich reagiere? Ich lege mir 
ein Fundament, auf das ich mich stellen kann, 
und sage: Ja, was da passiert, ist schlimm, 
aber: Ich darf nicht wanken in meinem Mut, nur 
weil ich schlimme Fernsehbilder sehe. Denn was 
wäre erst, wenn die Bilder zu mir kämen? Wenn 
Krieg bei mir und ich in ihm wäre? Wie ich dann 
erst wackeln würde. Und heulen. 

Was also tue ich? Ich klebe etwas auf die 
Ereignisse. Ich flüchte, in 
technisch-strategisch-logistische Sachfragen. 
Das ist das Pflaster auf der Wunde: Ich will 
keinen gefühlsschwangeren Kram reden, der 
mühsam versucht, den Problemen der Welt 
beizukommen. Ich rede über die Fakten. So 
etwa: "Ist es nicht der Hammer: Da starten die 
Amis in Amerika einen Tarnkappenbomber" - 
"Einen B-52" - "Nein, das sind doch 
Stealthfighter" - "Nee, vergiss es" - "Jedenfalls 
fliegen die von Amerika nach Afghanistan, 
bomben und lassen sich in der Luft betanken. In 
der Luft, Alter! - "Da haben die ein eigenes 
Ausbildungszentrum, wo die Piloten trainieren" - 
"Die haben ja auch die Delta Force". Es macht 
mich sicher, über etwas zu reden, das ich nicht 
verstehe, von dem ich aber weiß, dass andere 
es verstehen. Indem es andere verstehen, gebe 
ich meine Verantwortung ab, Krieg zu verstehen. 
Ich rede über Technik und Strategie und 
verdränge die Angst. Ich klebe ein Pflaster auf 
die Welt und sage, dass das Pflaster die Wunde 
ist und rede über das Pflaster. Das tut nicht 
weh.
Peter Wagner
 

Nur für Mädchen:
 

Es gibt einen Unterschied zwischen Furcht und 
Angst. Furcht macht schnell, Angst lähmt. 
Furcht haben wir vor Ereignissen und 
Situationen, die wir kennen. Wir wissen, wie wir 
reagieren müssen, um dem Furchtbaren zu zu 
entkommen. Im einfachsten Fall reicht es, wenn 
wir wegrennen. Im schwierigsten Fall müssen wir 
ihm entgegentreten und uns mit ihm schlagen. 
Angst haben wir vor dem Unberechenbaren, den 
Dingen, die verborgen sind. Angst frisst sich 
fest, sie macht, dass wir uns nicht mehr 
bewegen können. Sie ist ein Gast, der nicht 
geht, wenn wir ihn darum bitten. Sie bleibt, bis 
sie alles aufgefressen hat: die Sonne, das Licht, 
das Lächeln. Der Krieg, der zur Zeit herrscht, 
wird mit Angst geführt. Weil es eine neue Form 
des Krieges ist, die so noch niemand erlebt hat. 
Dieser Krieg ist die Zukunft, keiner kann sagen, 
wie er enden könnte. Alles ist möglich, wie in 
einem Alptraum. 

Das Magazin Der Spiegel hat die Deutschen 
gefragt, ob sie Angst davor haben, dass Europa 
in den Krieg gezogen wird. Nur 56 Prozent der 
Männer beantworteten diese Frage mit "Ja", bei 
den Frauen waren es 85 Prozent. Mädchen 
reagieren auf schreckliche Dinge anders als 
Jungs. Jungs wenden sich dem zu, was sie 
kennen: Waffen, Strategien, Flugzeuge. Sie 
reden darüber, wie man wo am besten vorgeht 
und mit was. Sie denken einen Anfang und ein 
Ende, damit befinden sie sich auf sicherem 
Boden. Statt Angst zu haben fürchten sie sich, 
aber dagegen kann man ja was tun. Mädchen 
können Konflikte nur dann lösen, wenn sie sie 
verstehen. Aber an diesem Krieg gibt es nichts 
zu verstehen, er ist kompletter Irrsinn und 
entzieht sich jeder Logik. Das macht ihnen 
Angst, sie müssen daran denken, was passieren 
könnte, und dadurch wird die Angst noch 
schlimmer. Mädchen denken daran, dass ihr 
Freund vielleicht an irgendeine Front geschickt 
werden könnte oder ihr Vater plötzlich nicht 
mehr da sein könnte, und dass sie dagegen 
dann auch überhaupt nichts tun könnten. Oder, 
wenn sie ein Baby haben, wissen sie nicht, wie 
sie es vor einer Bedrohung schützen sollten, die 
sie nicht einmal selbst kennen. Mädchen haben 
Angst um ihre Lieben, nicht um sich selbst. 

Wenn ein Mädchen ins Krankenhaus muss, wird 
sie nicht weinen. Sollte aber ihr Freund eine 
schlimme Krankheit haben, wird sie es sofort 
tun. So wurden vor Jahrtausenden die Rollen 
verteilt: Der Mann kämpft vor der Höhle mit 
Waffen gegen die Starken, die Frau sitzt drinnen 
und schützt mit Wärme die Schwachen. Und so 
mittelalterlich wie dieser Krieg mit neuem 
Schrecken ist, so mittelalterlich ist deshalb auch 
die Angstverteilung. Es ist die neue alte 
Ohnmacht, die den Frauen Angst macht. Die 
Männer greifen einfach zur Waffe und führen 
Krieg. Gegen wen oder was auch immer.
Simone Buchholz