www.jetzt.de           HEFT #43  22.10.01
   Text: Tobias Moorstedt
 

DAS ENDE VOM ANFANG?


Ein paar Wochen ist es erst her, da galt die Anti- Globalisierungs-Bewegung als politische Kraft, an der niemand mehr vorbeikommt. Doch was zählt davon noch, in Zeiten von Bombenteppichen und Milzbrand-Panik?

Mein Freund Alex war mir voraus. Er war in Göteborg und in Innsbruck und in Davos gewesen. Und natürlich war Alex auch in Genua, wo auf dem G8-Gipfel im Juli 200000 Menschen gegen die Ungerechtigkeit des globalen Kapitalismus demonstrierten. Und wenn mich noch vor ein paar Wochen jemand gefragt hätte, was Alex denn für einer sei, dann hätte ich ohne Zögern geantwortet:
Alex gehört zum Volk von Seattle, er ist die Zukunft, Mann.

Ich habe Alex drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September angerufen und wollte ihn fragen, wie es denn nun weitergehen soll. Ich hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Er rief lange nicht zurück.

Als am 21. Juli 2001 eine Pistolenkugel dem Leben von Carlo Giuliani ein Ende setzte, glaubten viele daran, sein Tod sei ein Anfang gewesen. Vielleicht sogar der Beginn einer neuen Welt. Wenn nicht einer besseren, dann zumindest einer, die sich stärker um Gerechtigkeit bemüht. Als sieben Wochen später vier zur Waffe gewordene Flugzeuge dem Leben von mehr als 6000 Menschen in New York, Washington und Pennsylvania ein Ende setzten, waren sich alle einig, dies sei das Ende von etwas. Das Ende der Berechenbarkeit, der Sicherheit, des Friedens. Gut möglich, dass der 11. September auch das vorläufige Ende der großen Proteste gegen die Ungerechtigkeit der Globalisierung bedeutet. Ganz so, als habe in dem Moment, als Flug 11 der American Airlines seinen Kurs verließ, auch die Geschichte dieser Bewegung eine scharfe Kurve gemacht. Nach rechts oder nach links, ganz egal, die Richtung ist nun ein andere.

Nach Genua stand in der Zeit , "zwei Drittel der Deutschen bekundeten in einer Umfrage, sie hielten das Anliegen der Globalisierungsgegner für richtig". Zwei Drittel der Menschen, die mir damals über den Weg liefen. Die Frau im Supermarkt mit ihrem kleinen Kind, der Mann im Anzug, der mich auf der Rolltreppe überholte, der Handwerker auf dem Dach gegenüber. Alles Menschen, denen es sehr gut ging in diesem System und die sich schlecht dabei fühlten. Das "Schluchzen des weißen Mannes" nannte es der französische Schriftsteller Pascal Bruckner.

Diese zwei Drittel waren die wahre Kraft der Anti-Globalisierungs-Bewegung. Nicht die 200000 Demonstranten in Genua, nicht der eine tote Demonstrant. Denn zwei Drittel der Bevölkerung sind ziemlich viele Wählerstimmen. Und deshalb lud Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang August einige Globalisierungsgegner zu Gesprächen ins Kanzleramt und forderte einen "Dialog mit der Zivilgesellschaft".

Alex lachte damals über Schröders Angebot an die "Zivilgesellschaft". Sollte dieser Dialog nicht eigentlich selbstverständlich sein? Und ist es nicht eher so, dass die Politik für die Bevölkerung nicht gleichberechtigter Gesprächspartner ist, sondern weisungsbefugter Vertreter? Doch natürlich hat sich Alex auch gefreut. Es gab ihm das Gefühl, dass endlich etwas vorwärts geht in dieser Welt.

Und jetzt, sieben Wochen später? In einer Zeit, da sich Bombenteppiche auf Afghanistan legen und in Wiesbaden die Angst vor dem Milzbrand umgeht: Ist es da noch angebracht, über die "Entwaffnung der Finanzmächte" nachzudenken? Zwar sind die Auswirkungen des globalen Kapitalismus nicht geringer geworden. Doch der öffentliche Druck auf die Politik, dabei endlich regulierend einzugreifen, ist bereits fast verschwunden. Laut einer Spiegel-Umfrage bezeichnen 75 Prozent der Deutschen nun den "globalen Terrorismus" als ihre größte Sorge. 75 Prozent - die junge Mutter, der Anwalt, der Handwerker und noch viele mehr haben ihre Meinung geändert.

Wenn nicht mehr über die Folgen der Globalisierung gesprochen wird, wird dann auch nicht mehr darüber nachgedacht? Wenn nicht mehr weitergedacht wird, wie soll es dann weitergehen?

Zu Besuch auf der Homepage von Attac, einer französischen Anti-Globalisierungs-Gruppe, von der Alex eine Menge hält: Dort hat sich nicht viel verändert. In einer Pressemitteilung verurteilt Attac die "Anschläge von New York und Washington zwar aufs Schärfste", erwähnt jedoch auch gleich, dass die "sozioökonomischen Ungleichheiten in der Welt, die sich in den letzten Jahren wieder verschärft haben", einen idealen "Nährboden für Gewalt" bilden. Und: "Sie zu bekämpfen ist integraler Bestandteil einer wirksamen Strategie gegen den Terrorismus." Sie haben recht damit. Doch hört man ihnen überhaupt noch zu? Könnte es sein, dass die Globalisierungsgegner mit diesen Einerseits-Andererseits-Äußerungen großen Kredit in der Öffentlichkeit verspielen? Weil man mit solchen Sätzen zurzeit eben schnell in den Verdacht gerät, man betrachte den gegenwärtigen Terrorismus als die Durchsetzung legitimer Forderungen mit den falschen Mitteln.

Auch in Genua sah man amerikanische Flaggen brennen. Ich habe Alex nicht danach gefragt, doch er würde wahrscheinlich den Leuten zustimmen, die jetzt sagen, die Amerikaner trügen selbst die "Schuld" an den Terroranschlägen. Wegen ihrer Außen- und Wirtschaftspolitik.

Die meisten Menschen weigern sich aber, solchen Gedankenketten zu folgen. Sie weigern sich nachzuvollziehen, warum die 6000 Opfer von New York und Washington mehr Schuld auf sich geladen haben sollen als wir selbst. Und viele werden auch in nächster Zeit nicht mehr genau unterscheiden wollen zwischen den brennenden US-Flaggen von Genua und den Stars-and-Stripes, die in diesen Tagen in Pakistan und anderswo auf der Welt in Flammen aufgehen. Die kanadische Autorin Naomi Klein ("No Logo") schrieb dazu letzte Woche in einem Zeitungsbeitrag: "Jede Taktik, die darauf beruht, sichtbare Symbole des Kapitalismus anzugreifen - und wäre es auch noch so friedlich -, findet sich nach dem 11. September in einer vollkommen veränderten semiotischen Landschaft wieder."

Als Alex aus Genua zurückkam, dauerte es ein paar Tage, bis die Zornesröte aus seinem Gesicht verschwunden war. "Diese Verbrecher", sagte er nur. Ihm selbst war nichts passiert. Doch er hatte DAVON gehört. Von Folter und Verfolgung. Er sagte: "Auf die Politiker können wir uns nicht verlassen. Wir müssen selbst handeln." Und Alex war sich sicher, dass dieses "Wir" nach Genua geeinter und stärker als je zuvor war.

Gut möglich, dass die Anti-Globalisierungs-Bewegung, die noch nie sehr geschlossen war, diese gerade gewonnene Einigkeit verlieren wird: Dadurch, dass man über die Vergeltungsschläge der Amerikaner sehr unterschiedlicher Meinung sein kann. Dadurch, dass man das Weltwirtschaftssystem wohl kaum mit gleichbleibender Kraft kritisieren kann, wenn zeitgleich ein viel bedrohlicherer Kampf tobt, dessen Frontverlauf auch noch vollkommen unklar ist. Auch dadurch, dass das, was so eine Bewegung dringend braucht, auf lange Sicht nun nicht mehr absehbar ist: ein Erfolg - und sei es nur die öffentliche Anerkennung des eigenen Zweifelns an der Richtigkeit der herrschenden Verhältnisse.

Doch die Zeiten des Zweifels an der Regierung sind offenbar vorbei. 70 Prozent der Bevölkerung stehen nun hinter Bundeskanzler Schröder. Mittlerweile würden 75 Prozent der Deutschen "sehr viele Freiheitsrechte" aufgeben, nur um sicherzustellen, in der Zukunft sicher zu leben. Wenn das kein Vertrauen ist in die vor kurzem noch so angezweifelte Macht des Staates.

Hat das große Feuer von New York Volk und Regierung wieder zusammengeschweißt? Und welche Auswirkung wird diese neue Einigkeit auf die künftige Diskussion um die Globalisierung haben?

Es sieht so aus, als hätten wir ein neues Feindbild. Ein bequemes Feindbild. Denn der Angriff kommt von außen. Der Feind sind nicht mehr, wie noch vor ein paar Wochen, wir selbst.

"Mit mir ist eine Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft nicht zu machen." Knapp zwei Monate ist dieser Satz von Bundeskanzler Schröder erst alt. Doch er wirkt schon wie ein Ausspruch aus längst vergangenen Zeiten. Dieser Satz war zwar sowohl inhaltlich eine Absage an den totalen Wirtschaftsliberalismus als auch ein Symbol für ein neues, europäisches Selbstbewusstsein.

Doch ist jetzt die berechtigte Kritik an der amerikanischen Umwelt- und Wirtschaftspolitik noch möglich? In einer Zeit, in der Bild 100 Gründe nennt, warum der Deutsche Amerika zu lieben hat. Und sich dabei zwar mehr mit dem Umfang des Hinterns von J-Lo beschäftigt (Grund 68), aber eben auch einen grundliegenden Wandel in der öffentlichen Meinung auslöst und unterstützt?

Im Fernsehen sehe ich einen jungen Mann vor der amerikanischen Botschaft in Berlin. Er trägt eine US-Flagge um die Schultern. Er sagt: "Wir stehen jetzt zusammen, so lange bis der Gegner mit dem Gesicht nach unten im Staub liegt." Er sagt das wirklich.

Wenige Tage nach den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center schrieb der Philosophieprofessor Dieter Thomä in der Süddeutschen Zeitung über das "global village" als "Lebenslüge der Moderne": "Wenn die Welt ein Dorf wäre", so Thomä, "dann würde man die kennen, die man trifft, und die treffen, die man kennt." Und man würde diese Menschen auch verstehen.

Ohne zu verstehen blicken viele Menschen nun nach New York, wo die letzten Trümmer noch immer glühen, oder auf die zensierten Fernsehbilder, die aus Afghanistian kommen. Ohne zu verstehen sehen sie im Fernsehen die ewig gleichen Demonstrationen von brüllenden Pakistani, die ihrer Regierung drohen, weil sie helfen will, Bin Laden zu fassen. Ist es falsch, Angst zu haben, dieses Unverständnis könne sich negativ auf die so genannte globale Solidarität auswirken? Und ist diese Solidarität nicht die Grundlage jeder Reform zugunsten der ärmeren Länder?

Im Stern , #38, schreibt eine junge Frau einen Leserbrief. "Jetzt ist Schluss mit der Humanität", sagt sie. "Jetzt gilt Auge um Auge, Zahn um Zahn. Zeigen wir es dem Islam."

Der weiße Mann schluchzt in diesen Tagen wieder um sich selbst. Doch diesmal ganz anders. Wenn die Fernsehkameras trauernde Broker an der New Yorker Wall Street filmen, die sagen, sie würden "nun erst recht weitermachen", das seien sie ihren toten Kollegen schuldig; wenn Spendenkonten für Investmentbanken eingerichtet werden; wenn US-Senatoren die toten Feuerwehrmänner zu "Märtyrern der Freiheit und des Kapitalismus" erklären, dann scheint es länger her zu sein als nur zwei Monate, dass der französische Präsident Jacques Chirac die Börsenspekulanten ungestraft als das "Aids der Gesellschaft" geißeln durfte.

Wenn einem Märtyrer eine einigende Wirkung zugeschrieben wird, welche Wirkung haben dann wohl 6000?

Vier Wochen nach dem 11. September hat endlich Alex angerufen. Er sei unterwegs gewesen. Ja, auf einer Demo. Alex sagt, es sei schwer gewesen, die Leute jetzt für die Anti-Globalisierungs-Bewegung zu mobilisieren. Und nein, sagt Alex dann noch, er wisse auch nicht, ob es jetzt noch weitergeht. Er sagt, Genua hätte ein Anfang sein können.

Für was?

Vielleicht werden wir es nie erfahren. <