Der weiße Freund des roten Mannes horchte, lächelte und sagte
dann:
»Alles was ich höre, ist das Hupen der Autos und das Rattern
der Omnibusse. Und dann freilich auch die Stimmen und die Schritte der
vielen Menschen. Was hörst du denn?« »Ich höre ganz
in der Nähe eine Grille zirpen«, antwortete der Indianer. Wieder
horchte der weiße Mann. Er schüttelte den Kopf. »Du mußt
dich täuschen«, meinte er dann, »hier gibt es keine Grillen.
Und selbst wenn es hier irgendwo eine Grille gäbe, würde man
doch ihr Zirpen bei dem Lärm, den die Autos machen, nicht hören.«
Der Indianer ging ein paar Schritte. Vor einer Hauswand blieb er stehen. Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob die Blätter auseinander, und da -sehr zum Erstaunen des weißen Mannes -saß tatsächlich eine Grille, die laut zirpte.
Nun, da der weiße Mann die Grille sehen konnte, fiel auch ihm das Geräusch auf, das sie von sich gab. Als sie weitergegangen waren, sagte der Weiße nach einer Weile zu seinem Freund, dem Indianer: »Natürlich hast du die Grille hören können. Dein Gehör ist eben besser geschult als meines. Indianer können besser hören als Weiße.« Der Indianer lächelte, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Da täuscht du dich, mein Freund. Das Gehör eines Indianers ist nicht besser und nicht schlechter als das eines weißen Mannes. Paß auf, ich will es dir beweisen.«
Er griff in die Tasche, holte ein 50-Cent-Stück hervor und warf
es auf das Pflaster. Es klimperte auf dem Asphalt, und Leute, die mehrere
Meter von dem weißen und dem roten Mann entfernt gingen, wurden auf
das Geräusch aufmerksam und sahen sich um. Endlich hob einer das Geldstück
auf, steckte es ein und ging seines Weges. »Siehst du«, sagte
der Indianer zu seinem Freund, »das Geräusch, das das 50-Cent-Stück
gemacht hat, war nicht lauter als das der Grille, und doch hörten
es viele der weißen Männer und drehten sich danach um, während
das Geräusch der Grille niemand hörte außer mir. Der Grund
dafür liegt nicht darin, daß das Gehör der Indianer besser
ist. Der Grund liegt darin, daß wir alle stets das gut hören,
worauf wir zu achten gewohnt sind.«
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Hans Christian Kirsch
aus: 255 Kurzgeschichten f. Gottesdienst, Schule u. Gruppe
im Internet:http://www.horstweyrich.de/luw/indigril.htm