Auszug aus dem =>Buch Krankheit als Weg von Rüdiger Dahlke

Hirnhälften / Rechte und linke Hemisphäre

Welche Funktionen übt die rechte Hirnhälfte im Unterschied zur linken Hirnhälfte aus?
Das menschliche Bewußtsein findet seinen körperlichen Ausdruck im Gehirn, wobei die typisch menschliche Unterscheidungsfähigkeit und Urteilskraft der Großhirnrinde zugeordnet wird. Kein Wunder, daß die Polarität des menschlichen Bewußtseins sich in der Anatomie des Großhirns als Signatur wiederfindet. Bekanntlich gliedert sich das Großhirn in zwei Hemisphären, die durch den sogenannten »Balken« (corpus callosum) miteinander verbunden sind. Die Medizin versuchte in der Vergangenheit, verschiedenen Symptomen, wie z.B. Epilepsie oder unerträglichen Schmerzen, dadurch zu begegnen, daß man diesen Balken chirurgisch durchschnitt und somit alle nervalen Verbindungsbahnen der beiden Hemisphären unterbrach (Commisurotomie).
So gewaltig dieser Eingriff anmutet, so zeigen sich doch nach einer solchen Operation auf Anhieb kaum nennenswerte Ausfälle. Auf diese Weise entdeckte man, daß offensichtlich die beiden Hemisphären zwei recht eigenständige Gehirne darstellen, die auch unabhängig voneinander ihre Arbeit tun können. Unterzog man jedoch die Patienten, bei denen die beiden Hemisphären getrennt worden waren, genaueren Testbedingungen, so zeigte sich immer deutlicher, daß sich beide Hemisphären in ihrer Eigenart und Zuständigkeit sehr deutlich unterscheiden. Wir wissen ja, daß sich die Nervenbahnen lateral überkreuzen und somit die rechte Körperhälfte des Menschen von der linken Gehirnhälfte innerviert wird und vice versa die linke Körperhälfte von der rechten Hemisphäre. Verbindet man solchem obengenannten Patienten die Augen und gibt ihm beispielsweise einen Korkenzieher in die linke Hand, so kann er diesen Gegenstand nicht benennen, d.h., er kann den Namen nicht finden, der zu diesem ertasteten Gegenstand gehört, aber es macht ihm keinerlei Schwierigkeit, ihn richtig anzuwenden. Diese Situation kehrt sich um, wenn man ihm den Gegenstand in die rechte Hand gibt: Nun weiß er den richtigen Namen, kennt aber den entsprechenden Gebrauch nicht.
Ebenso wie die Hände stehen auch Ohren und Augen jeweils mit der kontralateralen Hirnhälfte in Verbindung. In einem anderen Experiment wurden einer Patientin mit Balkentrennung verschiedene geometrische Figuren getrennt dem rechten und dem linken Auge dargeboten. Innerhalb dieser Serie wurde eine Aktaufnahme in das Sehfeld des linken Auges projiziert, so daß dieses Bild nur von der rechten Hirnhälfte wahrnehmbar war. Die Patientin errötete und kicherte, antwortete aber auf die Frage des Versuchsleiters, was sie gesehen habe: »Nichts, nur einen Lichtblitz«, und kicherte weiter. So führt das von der rechten Hemisphäre wahrgenommene Bild zwar zu einer Reaktion, kann aber gedanklich oder sprachlich nicht wahrgenommen und formuliert werden. Werden Gerüche nur dem linken Nasenloch zugänglich gemacht, findet zwar ebenfalls eine entsprechende Reaktion statt, jedoch kann der Patient den Geruch nicht bestimmen. Zeigt man einem Patienten ein zusammengesetztes Wort, wie z.B. Fußball, so, daß das linke Auge den ersten Teil »Fuß« und das rechte Auge den zweiten Teil »Ball« zu sehen bekommt, so liest der Patient lediglich »Ball«, da das Wort »Fuß« von der rechten Hirnhälfte sprachlich nicht analysiert werden kann.
Solche Experimente wurden in jüngster Zeit immer stärker ausgebaut und verfeinert und führten bis heute zu Erkenntnissen, die man etwa wie folgt zusammenfassen könnte: Beide Gehirnhälften unterscheiden sich deutlich in ihrem Funktions- und Leistungsbereich und in ihrer jeweiligen Zuständigkeit. Die linke Hemisphäre könnte man die »verbale Hemisphäre« nennen, denn sie ist zuständig für Logik und Struktur der Sprache, für Lesen und Schreiben. Sie schlüsselt alle Reize dieser Welt analytisch und rational auf, sie denkt also digital. So ist die linke Hirnhälfte auch für Zählen und Rechnen zuständig. Weiterhin ist das Zeitempfinden in der linken Hemisphäre zu Hause.
Alle hierzu polaren Fähigkeiten finden wir in der rechten Hirnhälfte: Statt Analyse finden wir hier die Fähigkeit zur ganzheitlichen Erfassung komplexer Zusammenhänge, Muster und Strukturen. So ermöglicht diese Hirnhälfte die Erfassung einer Ganzheit (Gestalt) aufgrund eines kleinen Teils (pars pro toto). Offensichtlich verdanken wir auch der rechten Hirnhälfte die Fähigkeit der Erfassung und Begriffsbildung von logischen Mengen (Oberbegriffe, Abstraktionen), die realiter nicht existieren. In der rechten Hälfte finden wir lediglich archaische Sprachformen, die statt einer Syntax eher Klangbildern und Assoziationen folgen. Sowohl Lyrik als auch die Sprache von Schizophrenen geben ein gutes Bild einer rechtshemisphärischen Sprache wieder. Hier ist auch das Analogiedenken und der Umgang mit Symbolen beheimatet. Die rechte Hälfte ist für den Bild- und Traumbereich der Seele zuständig und unterliegt nicht dem Zeitverständnis der linken Hemisphäre.
Je nach der Tätigkeit, die der Mensch gerade ausführt, ist jeweils eine der beiden Hemisphären dominant. So erzwingt logisches Denken, Lesen, Schreiben und Rechnen eine Dominanz der linken Hemisphäre, während bei Musikhören, Träumen, Imaginieren und Meditieren die rechte Hemisphäre in die Dominanz geht. Trotz der Dominanz jeweils einer Hirnhälfte stehen dem gesunden Menschen jederzeit auch die Informationen der subdominanten Hirnhälfte zur Verfügung, da über den Balken ein reger Informationsaustausch stattfindet. Die polare Spezialisierung der beiden Hemisphären deckt sich aber sehr genau mit uralten esoterischen Polaritätslehren. Im Taoismus nannte man die beiden Urprinzipien Yang (das männliche Prinzip) und Yin (das weibliche Prinzip), in die sich die Einheit des Tao spaltete. In der hermetischen Tradition wurde die gleiche Polarität durch die Symbole »Sonne« (männlich) und »Mond« (weiblich) ausgedrückt. Das chinesische Yang beziehungsweise die Sonne sind Symbole für das aktive, positive, männliche Prinzip, welches im psychologischen Bereich dem Tagesbewußtsein entspräche. Das Yin oder Mondprinzip umfaßt das negative, weibliche, aufnehmende Prinzip und entspricht dem Unbewußten des Menschen.
Diese klassischen Polaritäten lassen sich zwanglos auch auf die Ergebnisse der Hirnforschung übertragen. So ist die linke Hemisphäre Yang männlich, aktiv, oberbewußt und entspricht dem Symbol der Sonne und so der Tagseite im Menschen. Die linke Hirnhälfte innerviert ja auch die rechte, d.h. die aktive bzw. männliche Seite des Körpers. Die rechte Hemisphäre ist Yin, negativ, weiblich. Sie entspricht dem Mondprinzip bzw. der Nachtseite oder dem Unbewußten im Menschen und innerviert dementsprechend die linke Körperhälfte des Menschen. Zur leichteren Überschaubarkeit sind nach der folgenden Abbildung die analogen Begriffe tabellarisch aufgelistet.


Eigenschaften der Hirnhälften
LINKS

Logik
Sprache (Syntax, Grammatik)
 
 

Verbale Hemisphäre:
Lesen
Schreiben
Rechnen
Zählen
Aufschlüsselung der Umwelt
Digitales Denken
Lineares Denken
Zeitabhängigkeit
Analyse
Intelligenz
 

Aktivität 
elektrisch 
sauer 
rechte Körperhälfte 
rechte Hand
 

YANG

Sonne 
männlich 
Tag 
bewußt 
Leben
 

RECHTS

Gestaltwahrnehmung
Ganzheitserfassung
Raumempfinden
archaische Sprachformen
 

Musik
Geruch
Muster

geschlossenes Weltbild 
Analoges Denken 
Symbolik
Zeitlosigkeit 
Holistik 
logische Mengen 
Intuition

Passivität 
magnetisch 
alkalisch 
linke Körperhälfte 
linke Hand
 

YIN
-
Mond 
weiblich 
Nacht 
unbewußt 
Tod

Die folgende Tabelle ist jetzt nicht von Rüdiger Dahlke sondern die hat mir Ralf geschickt:

Einzelne moderne Strömungen in der Psychologie beginnen bereits, die alte, horizontale Topographie des Bewußtseins (Freud) um 1900 zu kippen und die Begriffe Oberbewußtsein und Unbewußtes durch linke und rechte Hemisphäre zu ersetzen. Diese Umbenennung ist aber lediglich eine Formfrage und ändert an den Inhalten wenig, wie der Vergleich unserer jeweiligen Ausführungen zeigen dürfte. Sowohl die horizontale als auch die vertikale Topographie ist nur eine Spezifikation des alten chinesischen Symbols, genannt »Tai Chi«, welches einen Kreis (Ganzheit, Einheit) in eine weiße und eine schwarze Hälfte unterteilt, die jeweils wieder einen gegenpolaren Keim (gegenfarbigen Punkt) enthalten. Die Einheit zerfällt gleichsam in unserem Bewußtsein in Polaritäten, welche sich gegenseitig ergänzen.
Es ist leicht einzusehen, wie unheil ein Mensch wäre, der nur eine der beiden Hirnhälften besäße; doch genauso unheil ist in Wirklichkeit das übliche, wissenschaftlich genannte Weltbild unserer Zeit, denn es ist das Weltbild der linken Hirnhälfte. Aus dieser einen Sicht gibt es natürlich nur das Rationale, Vernünftige, Analytisch-Konkrete, gibt es nur von Kausalität und Zeit abhängige Erscheinungsformen. Doch ein solches rationales Weltbild ist eben nur die halbe Wahrheit, denn sie ist die Sichtweise des halben Bewußtseins bzw. des halben Gehirns. All jene Bewußtseinsinhalte, die man so gerne als irrational, unvernünftig, versponnen, okkult und phantastisch abwertet, sind lediglich die gegenpolaren Fähigkeiten des Menschen, Welt zu betrachten.
Wie unterschiedlich diese beiden sich ergänzenden Standpunkte meistens bewertet werden, zeigt sich schon in dem Umstand, daß man bei der Erforschung der unterschiedlichen Fähigkeiten der beiden Hirnhälften sehr schnell die Leistungen der linken Seite erkannte und beschreiben konnte, lange Zeit aber über die Sinnhaftigkeit der rechten Hemisphäre rätselte, schien sie doch keine vernünftigen Leistungen zu produzieren. Die Natur schätzt die Leistungsfähigkeit der rechten, unvernünftigen Hälfte offenbar wesentlich höher ein, denn in einer lebensbedrohlichen Gefahrensituation schaltet sie automatisch von der Dominanz der linken Hälfte auf die Dominanz der rechten Hälfte um, da eine gefährliche Situation durch ein analytisches Vorgehen nicht adäquat bewältigt werden kann. Durch die Dominanz der rechten Hemisphäre wird dank des ganzheitlichen Begreifens der Lage noch die Möglichkeit geboten, ruhig und situationsadäquat zu handeln. Auf dieser Umschaltung beruht übrigens auch das altbekannte Phänomen des sogenannten Lebensfilms. In Todesnähe überblickt der Mensch noch einmal sein ganzes Leben bzw. erlebt alle Situationen seines Lebens noch einmal - ein gutes Beispiel für das, was wir oben die Zeitlosigkeit der rechten Hälfte nannten.
Die Bedeutung der Hemisphärentheorie liegt unserer Meinung nach darin, daß die Wissenschaft noch begreifen könnte, wie einseitig und halb ihr bisheriges Weltbild ist, und über die Beschäftigung mit der rechten Hemisphäre die Berechtigung und Notwendigkeit jener anderen Art, die Welt zu betrachten, sehen lernt. Gleichzeitig könnte man an diesem Beispiel das Polaritätsgesetz als das zentrale Weltgesetz begreifen lernen, doch meist scheitert ein solcher Schritt an der absoluten Unfähigkeit der Wissenschaft, analog zu denken (rechte Hälfte).
Uns sollte an diesem Beispiel noch einmal das Gesetz der Polarität deutlich werden: Einheit spaltet sich im menschlichen Bewußtsein polar auf. Die beiden Pole ergänzen (kompensieren) sich gegenseitig und benötigen daher zu ihrer Existenz ihren Gegenpol. Die Polarität bringt die Unfähigkeit mit sich, die beiden Aspekte einer Einheit gleichzeitig zu betrachten, und zwingt uns so zum Nacheinander, wodurch die Phänomene »Rhythmus«, »Zeit« und »Raum« entstehen. Will ein polares Bewußtsein Einheit sprachlich umschreiben, so kann es dies nur mit Hilfe einer Paradoxie. Der Vorteil, den uns die Polarität beschert, ist die Erkenntnisfähigkeit, welche ohne Polarität nicht möglich ist. Ziel und Sehnsucht eines polaren Bewußtseins ist es, sein durch die Zeit bedingtes Un-heil-Sein zu überwinden und wieder heil d.h. ganz zu werden.
Jeder Heilsweg oder Ein-weihungsweg ist der Weg aus der Polarität in die Einheit. Der Schritt aus der Polarität in die Einheit ist eine so radikale, qualitative Veränderung, daß sie für das polare Bewußtsein schwer bis gar nicht vorstellbar ist. Alle metaphysischen Systeme, Religionen und esoterischen Schulen lehren einzig und allein diesen Weg aus der Zweiheit in die Einheit. Daraus ergibt sich bereits zwingend, daß all diese Lehren nicht an einer »Verbesserung dieser Welt« interessiert sind, sondern am »Verlassen dieser Welt«.
Genau dieser Punkt ist der große Ansatzpunkt für alle Kritiker und Gegner dieser Lehren. Sie weisen auf die Ungerechtigkeiten und Nöte dieser Welt hin und werfen den metaphysisch orientierten Lehren vor, wie unsozial und lieblos sie diesen Herausforderungen gegenüber wären, weil sie nur an ihrer eigenen, egoistischen Erlösung interessiert seien. Weltflucht und mangelndes Engagement heißen die Schlagworte der Kritik. Leider nehmen sich die Kritiker niemals die Zeit, eine Lehre erst einmal ganz zu begreifen, bevor sie sie bekämpfen, und so vermischt man vorschnell die eigenen Ansichten mit ein paar mißverstandenen Begriffen einer anderen Lehre und nennt diese Ungereimtheit dann »Kritik«.
Diese Mißverständnisse reichen weit zurück. Jesus lehrte allein diesen einen Weg, der aus der Zweiheit zur Einheit führt  und er wurde nicht einmal von seinen eigenen Jüngern ganz verstanden (Johannes ist die Ausnahme). Jesus nannte die Polarität „diese Welt“  und die Einheit „Himmelreich“ oder die „Wohnung meines Vaters“ oder auch ganz einfach „Vater“. Er betonte, daß „sein Reich“ nicht von dieser Welt sei, und lehrte den Weg zum Vater. Doch alle seine Äußerungen wurden immer zuerst konkret und materiell verstanden und auf diese Welt bezogen. Das Johannes-Evangelium zeigt Kapitel für Kapitel diese Mißverständnisse: Jesus redet vom Tempel, den er in drei Tagen wieder aufbauen will - dabei denken die Jünger an den Tempel Jerusalems, er aber meint seinen Leib. Jesus redet mit Nikodemus von der Wiedergeburt im Geiste, doch dieser denkt an eine Kindsgeburt. Jesus erzählt der Frau am Brunnen vom Wasser des Lebens, sie denkt an Trinkwasser. Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen, Jesus und seine Jünger haben gänzlich verschiedene Bezugspunkte. Jesus versucht, den Blick des Menschen auf die Bedeutung und Wichtigkeit der Einheit zu lenken, während seine Zuhörer sich krampfhaft und ängstlich an der polaren Welt festklammern. Wir kennen von Jesus keine einzige Aufforderung, die Welt zu verbessern und in ein Paradies umzugestalten - aber in jedem Satz versucht er, die Menschen zu ermutigen, den Schritt zu wagen, der zum Heil führt.
Doch dieser Weg löst zuerst immer Angst aus, denn er führt auch durch Leid und durch das Grauen hindurch. Welt läßt sich nur dadurch überwinden, daß man sie auf sich nimmt  Leid läßt sich nur dadurch vernichten, daß man es auf sich nimmt, denn Welt ist immer auch Leid. Esoterik lehrt nicht Weltflucht, sondern »Weltüberwindung«. Weltüberwindung ist aber nur ein anderes Wort für »Überwindung der Polarität«, die identisch ist mit der Aufgabe des Ichs, des Ego, denn Ganzheit erlangt nur jener, der sich nicht weiterhin durch sein Ich vom Sein abgrenzt. Es entbehrt deshalb nicht einer gewissen Ironie,
wenn ein Weg, dessen Ziel die Vernichtung des Ego und die Verschmelzung mit allem ist, als »egoistischer Heilsweg« bezeichnet wird. Auch liegt die Motivation solcher Heilswege nicht in der Hoffnung auf ein »besseres Jenseits« oder eine »Belohnung für die Leiden dieser Welt« (»Opium fürs Volk«), sondern in der Einsicht, daß diese konkrete Welt, in der wir leben, nur dann einen Sinn bekommt, wenn sie einen außerhalb von ihr selbst liegenden Bezugspunkt hat.
Im Beispiel: Wenn man eine Schule besucht, für die es weder ein Ziel noch einen Abschluß gibt, in der man lernt nur um des Lernens willen, ohne Perspektive, ohne Ende, ohne Ziel, dann wird das Lernen selbst sinnlos. Einen Sinn bekommt die Schule und das Lernen erst, wenn es einen Bezugspunkt gibt, der außerhalb der Schule liegt. Einen Beruf vor Augen zu haben, ist nicht identisch mit »Flucht aus der Schule«, sondern im Gegenteil: Dieses Ziel ermöglicht erst eine aktive und sinnvolle Hinwendung zum Lernstoff. Ebenso bekommt dieses Leben und diese Welt erst dann eine inhaltliche Dimensionalität, wenn unser Ziel ist, sie zu überwinden. So liegt der Sinn einer Treppe nicht darin, auf ihr stehenzubleiben, sondern sie durch Benutzung zu überwinden.
Durch den Verlust jenes metaphysischen Bezugspunktes ist das Leben unserer Zeit für so viele sinnlos geworden, denn der einzige Sinn, der uns geblieben ist, nennt sich Fortschritt Doch Fortschritt kennt kein anderes Ziel als noch mehr Fortschritt. So wurde aus einem Weg ein Trip.
Es ist für unser Verständnis von Krankheit und Heilung wichtig, zu verstehen, was eigentlich Heilung meint. Verliert man aus dem Auge, daß Heilung immer Annäherung ans Heilsein im Sinne der Einheit bedeutet, dann versucht man, das Ziel der Heilung innerhalb der Polarität zu finden - und einem solchen Versuch ist der Mißerfolg sicher. Wenn wir unser bisheriges Verständnis von Einheit, die immer nur durch eine Verbindung der Gegensätze, einer »coniunctio oppositorum«, erreicht werden kann, noch einmal auf das Gebiet der Hirnhemisphären übertragen, so wird deutlich, daß unser Ziel der Überwindung der Polarität auf dieser Ebene mit einem Ende der wechselnden Dominanz der Hirnhälften einhergeht. Auch auf der Ebene des Gehirns muß das »Entweder«/»Oder« zu einem »Sowohl- Als-auch« werden, muß sich das »Nacheinander« zu einem »Gleichzeitig« wandeln.
Hierbei wird die eigentliche Bedeutung des corpus callosum (Balken) sichtbar, der einmal so durchlässig werden muß, daß aus den »zwei Gehirnen« eines wird. Die gleichzeitige Verfügung über die Möglichkeiten beider Hirnhälften  wäre das körperliche Korrelat der Erleuchtung. Es ist der gleiche Vorgang, den wir schon an unserem horizontalen Bewußtseinsmodell schilderten: Erst, wenn das subjektive Oberbewußtsein eins wird mit dem objektiven Unbewußten, ist Ganzheit erreicht.
Das universale Wissen um diesen Schritt von der Polarität zur Einheit finden wir in unzähligen Ausdrucksformen immer wieder. Erwähnt wurde schon die chinesische Philosophie des Taoismus, in der die beiden Weltenkräfte Yang und Yin genannt werden. Die Hermetiker sprachen von der Vereinigung von Sonne und Mond oder der Hochzeit von Feuer und Wasser. Weiterhin drückten sie das Geheimnis der Gegensatzvereinigung in paradoxen Sätzen aus wie: »Das Fixe muß flüchtig und das Flüchtige muß fix gemacht werden.« Das uralte Symbol des Hermesstabes (caduceus) kündet vom gleichen Gesetz: Hier stellen die beiden Schlangen die polaren Kräfte dar, die im Stab geeint werden müssen. Dieses Bild finden wir in der indischen Philosophie wieder als die beiden polaren Energieströme im menschlichen Körper, genannt Ida (weiblich) und Pingala (männlich), welche schlangenartig den mittleren Kanal Shushumna umwinden. Gelingt es dem Yogi, die Schlangenkraft in diesem mittleren Kanal nach oben zu führen, so erlebt er den Bewußtseinszustand der Einheit.
Der Kabbalist stellt diesen Zusammenhang durch die drei Säulen des Lebensbaumes dar, und der Dialektiker nennt es »These«, »Antithese« und »Synthese«. All diese Systeme, von denen hier nur ein paar genannt werden, stehen in keinem kausalen Zusammenhang, sondern sind alle Ausdruck eines zentralen metaphysischen Gesetzes, das diese Systeme auf unterschiedlichen konkreten oder symbolischen Ebenen zum Ausdruck bringen wollten. Uns geht es nicht um ein bestimmtes System, sondern um den Blick für das Gesetz der Polarität und dessen Gültigkeit auf allen Ebenen der Welt der Formen.
Die Polarität unseres Bewußtseins stellt uns ständig vor zwei Möglichkeiten des Handelns und zwingt uns - wollen wir nicht in der Apathie verweilen -  uns zu entscheiden. Es gibt immer zwei Möglichkeiten - doch wir können zur Zeit nur eine davon verwirklichen. So bleibt mit jeder Handlung immer die gegenpolare Möglichkeit unverwirklicht. Wir müssen wählen und uns entscheiden, ob wir zu Hause bleiben oder weggehen - arbeiten oder nichts tun - Kinder zeugen oder verhüten - das Geld einklagen oder vergessen - den Feind erschießen oder am Leben lassen. Die Qual der Wahl verfolgt uns auf Schritt und Tritt. Wir können der Entscheidung nicht aus dem Weg gehen, denn »Nicht-Handeln« ist bereits die Entscheidung gegen das Handeln, »Nicht-Entscheiden« eine Entscheidung gegen das Entscheiden. Da wir uns entscheiden müssen, so wollen wir uns wenigstens vernünftig oder richtig entscheiden, und dazu brauchen wir Bewertungsmaßstäbe. Hat man erst einmal solche Werte, werden die Entscheidungen recht einfach: Wir zeugen Kinder, weil sie dem Fortbestand der Menschheit dienen - wir erschießen Feinde, weil sie unsere Kinder bedrohen - wir essen viel Gemüse, weil es gesund ist, und geben Hungernden auch etwas zu essen, weil das ethisch ist. Dieses System funktioniert erst einmal recht gut und macht Entscheidungen leicht - man braucht nur immer das zu tun, was gut und richtig ist. Leider wird jedoch unser Wertsystem, nach dem wir unsere Entscheidungen treffen, fortlaufend durch andere Menschen in Frage gestellt, die sich in den einzelnen Fragen gegenteilig entscheiden und dies ebenfalls mit einem Wertsystem rechtfertigen: Da verhütet jemand Kinder, weil es schon viel zu viele Menschen gibt - da will jemand nicht auf die Feinde schießen, weil Feinde auch Menschen sind - da ißt man viel Fleisch, weil Fleisch gesund ist, und läßt Hungernde hungern, weil das zu deren Schicksal gehört. Zwar steht fest, daß die Wertmaßstäbe der anderen schlicht falsch sind - und dennoch bleibt es ärgerlich, daß nicht alle die gleichen Maßstäbe haben, was gut und richtig ist. Und so beginnt ein jeder, nicht nur seine Wertmaßstäbe zu verteidigen, sondern auch möglichst viele Mitmenschen von diesen Werten zu überzeugen. Letztlich müßte man natürlich alle Menschen von den eigenen Werten überzeugen, dann erst hätten wir eine gute, richtige und heile Welt. Leider denken das alle! Und so bleibt der Krieg der richtigen Meinungen im vollen Gange - und alle wollen doch nur das Richtige tun. Aber - was ist richtig? Was ist falsch? - Was ist gut? - Was ist böse? Den Anspruch, dies zu wissen, erheben viele - doch sie sind sich untereinander nicht einig - und so müssen wir uns schon wieder entscheiden, wem wir glauben wollen! Es ist zum Ver-zwei-feln!
Der einzige Schritt, der aus diesem Dilemma herausführt, ist die Ein-sicht, daß es innerhalb der Polarität kein absolutes, d.h. objektives Gut oder Böse, Richtig oder Falsch gibt. Jede Wertung ist immer subjektiv und bedarf eines Bezugsrahmens, der ebenfalls subjektiv ist. Jede Bewertung ist vom Standpunkt und Blickwinkel des Betrachters abhängig und daher auf ihn bezogen immer richtig. Die Welt läßt sich nicht aufteilen in das, was eigentlich sein darf und daher richtig und gut ist, und in das, was eigentlich nicht sein sollte und deshalb bekämpft und ausgerottet werden muß. Dieser Dualismus unversöhnlicher Gegensätze zwischen Richtig-Falsch, Gut-Böse, Gott und Teufel führt aus der Polarität nicht heraus, sondern nur tiefer in sie hinein.
Die Lösung liegt allein in jenem dritten Punkt, von dem aus betrachtet alle Alternativen, alle Möglichkeiten, alle Polaritäten gleich gut und richtig bzw. gleich böse und falsch sind, da sie Teile der Einheit sind und deshalb ihre Existenzberechtigung besitzen, denn ohne sie wäre die Ganzheit nicht ganz. Deshalb haben wir beim Polaritätsgesetz mit soviel Nachdruck darauf hingewiesen, daß der eine Pol von der Existenz des anderen Poles lebt und allein gerade nicht lebensfähig ist. So wie das Einatmen vom Ausatmen lebt, lebt auch das Gute vom Bösen, der Frieden vom Krieg, die Gesundheit von der Krankheit. Dennoch lassen sich die Menschen nicht davon abhalten, immer einen Pol allein haben zu wollen Und den anderen zu bekämpfen. Doch wer irgendeinen Pol dieses Universums bekämpft, bekämpft das All - denn jedes Teil enthält das Ganze (pars pro toto). In diesem Sinne sagte Jesus: »Was du dem Geringsten meiner Brüder tust, das hast du mir getan!«
Der Gedanke an sich ist theoretisch einfach, stößt aber auf einen tief sitzenden Widerstand im Menschen, da die Umsetzung in die Praxis den Weg hart werden läßt. Wenn das Ziel die Einheit ist, welche die Gegensätze in der Ununterschiedenheit umschließt, dann kann der Mensch unmöglich heil oder ganz werden, solange er noch irgend etwas aus seinem Bewußtsein ausschließt oder sich von irgend etwas abgrenzt. Jedes: »Das würde ich niemals tun!« ist die sicherste Art, Vollkommenheit und Erleuchtung zu verhindern. Es gibt in diesem Universum nichts Unberechtigtes, aber vieles, dessen Berechtigung der einzelne Mensch noch nicht sehen kann. Alle Anstrengungen des Menschen dienen in Wirklichkeit nur diesem einen Zweck: die Zusammenhänge besser sehen zu lernen - wir nennen dies: bewußter werden -, nicht aber, die Dinge zu verändern. Es gibt gar nichts zu verändern und zu verbessern - außer der eigenen Sichtweise.