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.....begleiteten uns viele noch fünf bis sechs Meilen weit. Dann
tauschten wir unsere letzten Abschiedsgrüße aus und befanden
uns auf dem Rückwege nach Indien. Doch vergingen tatsächlich
Monate, ehe wir wieder auf die südlichen Abhänge der Himalayas
hinunterschauen konnten.
Während wir mit der Hauptgruppe der Karawane vorangingen, wurden
wir gewahr, daß wir uns ohne Anstrengung vorwärtsbewegten. Zuweilen
sahen wir in weiter Ferne, wie eine Vision, einen bestimmten Punkt des
Passes vor uns, kaum war der Punkt deutlich sichtbar geworden, waren wir
auch schon an Ort und Stelle, oft meilenweit der Karawane voraus.
Als die Mittagszeit gekommen war, trafen wir eine Feuerstelle, und
ein Mahl war vorbereitet von drei Dorfbewohnern, die zu diesem Zweck vorausgegangen
waren. Nach dem Mahle kehrten sie in ihr Dorf zurück. Man teilte uns
mit, daß noch andere weiter vorne in gleicher Weise auf uns warteten,
damit die ganze Überschreitung des schneebedeckten Höhenpasses
für uns leichter sei. Auch unser Zeltlager war bereits aufgeschlagen.
Wir trafen alles in dieser Weise vorbereitet, bis wir den Paß überschritten
hatten und in das Tal des Giama-nu-chu-Flusses hinunterkamen (Im
Atlas Gyamo-Ngu-Chu, gelb unterstrichen, der Fluss wird im weiteren Verlauf
zum Salween oder auch Saluen oder jetzt Nu Jiang in der chinesischen Provinz
Chamdo / Qamdo). Dort holten wir die vordersten Dorfbewohner
ein. Sie hatten alle diese Mühen auf sich genommen, damit wir sicher
und wohlbehalten durch das zerklüftete Bergland wandern könnten.
Dann, als der Weg in der Talgegend leichter wurde, verließen sie
uns.
Ich führe diese kurze Beschreibung absichtlich an, um besonders
auf die überall ausgeübte allgemeine Gastfreundschaft dieser
einfachen, gütigen Menschen hinzuweisen. Auf unserem ganzen Wege bis
nach Lhasa trafen wir höchst selten den grausamen, rohen Eingeborenen
von Tibet, der so oft in Reiseberichten erwähnt wird.
Unten im Tal angelangt, folgten wir dem Laufe des Giama-nu-chu, dann
einem Nebenflusse des Stromes aufwärts bis zu dem großen Tonjnor-Jung-Paß,
von dort gingen wir einem Nebenfluß des TsanPu (heute
TsangPo) oder Brahmaputra entlang bis nach Lhasa, wo wir
bewillkommnet wurden.
Als wir die Stadt erblickten, kam es uns vor, als ob wir uns einer
Taos-Niederlassung näherten. Man hätte denken können, eine
solche vor sich zu haben, wenn man sich nach allen Seiten umsah. Der Palast
des Großen Dalai Lama, des Erhabenen Herrschers über ganz Tibet,
tritt hervor als das eine große Juwel der Stadt. Während dieser
Ort die weltliche Hauptstadt von Tibet ist, herrscht als inneres geistiges
Oberhaupt der Lebende Buddha. Man nimmt an, er herrsche geistig von der
geheimnisvollen, verborgenen Stadt oder dem Zentrum, genannt Shamballa,
die Himmlische, aus. Diese geheiligte Stätte besuchen zu dürfen,
war einer unserer innigsten Wünsche. Sie soll tief vergraben liegen
unter dem Sande der Wüste Gobi.
Vermutlich liegt das Dorf mit dem Tau-Kreuz-Tempel im gelb eingekreisten Gebiet, das jedoch ca. 500 x 150 km groß ist: