Die Nahrung kommt als erstes in den Mund und wird don von den Zähnen
zerkleinert. Mit den Zähnen beißen und zerbeißen wir.
Beißen ist eine sehr aggressive Handlung, ist Ausdruck des Zupacken-Könnens,
des ,Anpacken-Könnens und des Angreifen-Könnens. So wie der Hund
seine Zähne fletscht und dadurch seine aggressive Gefährlichkeit
dokumentiert, reden auch wir davon, daß wir »jemandem die Zähne
zeigen«, und meinen damit unsere Entschlossenheit, uns zur ,Wehr
zu setzen. Schlechte bzw. kranke Zähne sind ein Hinweis darauf, daß
jemand seine Aggressionen schwer äußern bzw. einsetzen kann.
Dieser Zusammenhang wird auch nicht durch den Hinweis entschärft,
daß heutzutage fast alle schlechte Zähne haben, was man bereits
bei kleinen Kindern feststellen könne. Das ist sicherlich richtig,
doch zeigen kollektive Symptome lediglich kollektive Probleme. Aggression
ist in allen sozial hochentwickelten Kulturen unserer Zeit zu einem zentralen
Problem geworden. Man fordert »soziale Anpassung«, was im Klartext
heißt: »Verdränge deine Aggressionen !« All diese
verdrängten Aggressionen unserer lieben und friedlichen, sozial so
gut angepaßten Mitbürger treten als »Krankheiten«
wieder ans Tageslicht und setzen letztlich der sozialen Gemeinschaft in
dieser pervertierten Form genauso zu wie in ihrer Urform. Die Kliniken
sind daher die modernen Schlachtfelder unserer Gesellschaft. Hier kämpfen
die verdrängten Aggressionen gegen ihre Inhaber erbarmungslose Schlachten.
Hier leiden die Menschen unter ihren eigenen Bosheiten, die sie ein Leben
lang nicht wagten, in sich zu entdecken und bewußt zu bearbeiten.
Es sollte uns nicht wundern, wenn wir bei der Mehrzahl der Krankheitsbilder
immer wieder auch der Aggression und der Sexualität begegnen. Beides
sind Problembereiche, die der Mensch unserer Zeit am stärksten verdrängt.
Vielleicht möchte mancher einwenden, daß, sowohl die steigende
Kriminalität und die vielen Gewalttaten als auch die sexuelle Welle
gegen unsere Argumentation sprächen.
Darauf wäre jedoch zu antworten, daß sowohl das Fehlen als
auch der Ausbruch von Aggressionen Symptome dafür
sind, daß Aggressionen verdrängt wurden. Beides sind nur
unterschiedliche Phasen des gleichen Prozesses. Erst wenn
Aggression nicht verdrängt zu werden braucht, und somit von Anfang
an einen Raum zugewiesen erhält, in dem man
Erfahrungen mit dieser Energie sammeln kann, ist es möglich
den aggressiven Persönlichkeitsanteil bewußt zu integrieren.
Eine integrierte Aggression steht dann als Energie und Vitalität der
Gesamtpersönlichkeit zur Verfügung, ohne daß es zur süßlichen
Sanftmut noch zu wilden Aggressionsausbrüchen kommt. Doch ein solcher
Stand muß erst erarbeitet werden. Dafür muß die Möglichkeit
geboten werden, durch Erfahrungen zu reifen. Verdrängte Aggressionen
führen lediglich zur Schattenbildung, mit denen man sich in der pervertierten
Form der Krankheit doch auseinandersetzen muß. Für die Sexualität
wie für alle anderen psychischen Funktionen gilt das eben Gesagte
analog.
Kommen wi zurück auf die Zähne, welche im tierischen und
menschlichen Körper Aggressionen und Durchsetzungsvermögen (sich
durch-beißen) repräsentieren.. Häufig verweist man auf
irgendwelche Naturvölker, deren gesunde Zähne von deren natürlicher
Ernährungsweise kausal abgeleitet werden. Doch finden wir bei diesen
Völkern auch einen gänzlich anderen Umgang mit den Aggressionen.
Neben der kollektiven Problematik bleibt der Zustand der Zähne jedoch
auch individuell deutbar. Neben der schon erwähnten Aggression zeigen
uns die Zähne auch unsere Vitalität, unsere Lebenskraft (Aggression
und Vitalität sind nur zwei verschiedene Aspekte ein und derselben
Kraft, jedoch erwecken beide Begriffe unterschiedliche Assoziationen in
uns). Denken wir an den Ausdruck: »Einem geschenkten Gaul schaut
man nicht ins Maul.« Den Hintergrund dieser Redewendung bildet die
Gewohnheit, beim Pferdekauf einem Gaul ins Maul zu schauen, um am Zustand
der Zähne Alter und Vitalität einschätzen zu können.
Auch die psychoanalytische Traumdeutung interpretiert den Zahnausfall in
Träumen als einen Hinweis auf Energie- und Potenzverlust.
Es gibt Menschen, die regelmäßig nachts mit den Zähnen
knirschen, teilweise so vehement, daß man durch kunstvolle Spezialspangen
versuchen muß, sie daran zu hindern, durch ihr Knirschen ihre Zähne
total abzureiben. Die Symbolik liegt offen zutage. Zähneknirschen
ist in unserem Symbolgebrauch ein fester Begriff für ohnmächtige
Aggression. Wer sich seinen Wunsch, zuzubeissen, bei Tage nicht eingestehen
kann, muß des Nachts mit den Zähnen knirschen, so lange, bis
er seine gefährlichen Zähne selbst abgerieben und entschärft
hat...
Wer schlechte Zähne hat, dem fehlt Vitalität und damit auch
die Fähigkeit, zuzupacken und sich durchzubeißen. Er wird daher
an Problemen schwer zu kauen oder auch schwer zu beißen haben. So
beschreibt denn auch die Zahnpastareklame das notwendige Ziel mit den
Worten:
»..... damit Sie wieder kraftvoll zubeißen können!«
Die sogenannten »dritten Zähne« ermöglichen es,
eine Vitalität und Durchsetzungskraft, ,die man nicht mehr besitzt,
nach außen vorzutäuschen. Doch bleibt wie bei jeder Prothese
- dieser Akt eine Täuschung und entspricht etwa dem Trick, seinen
ängstlichen, aber verschmusten Schoßhund am Gartenzaun mit »Warnung
bissiger Hund« anzukündigen. Ein Gebiß ist nur eine »gekaufte
Bissigkeit«.
Das Zahnfleisch ist die Grundlage der Zähne und bettet sie ein..
Analog repräsentiert das Zahnfleisch die Grundlage von Vitalität
und Aggression, Urvertrauen und Selbstsicherheit. Fehlt einem Menschen
diese Portion Urvertrauen und Selbstsicherheit, wird es ihm nie gelingen,
sich aktiv und vital mit Problemen auseinanderzusetzen, wird er nie den
Mut haben, harte Nüsse zu knacken oder sich zur Wehr zu setzen. Das
Vertrauen ist es, das dieser Fähigkeit den nötigen Halt geben
muß, wie auch das Zahnfleisch den Zähnen Halt gibt. Das aber
kann das Zahnfleisch nicht, wenn es selbst so empfindlich und verletzlich
ist, daß es bei jeder Kleinigkeit schon blutet. Blut ist Symbol des
Lebens, und so zeigt uns das blutende Zahnfleisch überdeutlich, wie
dem Urvertrauen und der Selbstsicherheit schon bei der kleinsten Herausforderung
die Lebenskraft entrinnt.
Nachdem die Nahrung von den Zähnen zerkleinert wurde, schlucken
wir den eingespeichelten Speisebrei hinunter. Mit dem Schlucken integrieren
wir, nehmen wir auf -Schlucken ist Einverleiben. Solange wir etwas lediglich
im Mund haben, können wir es noch ausspucken. Haben wir jedoch erst
einmal etwas geschluckt, so ist der Vorgang nur noch schwer umkehrbar.
An großen Brocken haben wir schwer zu schlucken. Ist der Brocken
zu groß, können wir ihn gar nicht mehr schlucken. Manchmal muß
man im Leben etwas schlucken, obwohl man eigentlich nicht will, z.B. eine
Kündigung. Es gibt schlechte Nachrichten, an denen man schwer zu schlucken
hat.
Gerade in solchen Fällen fällt es leichter, etwas zu schlucken,
wenn wir etwas Flüssigkeit hinzugeben, besonders einen guten Schluck.
Alkoholiker sagen in ihrer Sprache von jemandem, der viel trinkt, er schluckt
viel (Schluckspecht). Der alkoholische Schluck soll meistens das Schlucken
einer anderen, schwer schluckbaren Sache erleichtern oder sogar ersetzen.
Man schluckt das Flüssige, weil es etwas anderes im Leben gibt, was
man nicht schlucken kann und nicht schlucken will. So ersetzt der Alkoholiker
durch das Trinken das Essen (viel Trinken führt ja zu Appetitlosigkeit)
- er ersetzt das Schlucken der harten, festen Nahrung durch den weicheren,
einfacheren Schluck, den Schluck aus der Flasche.
Es gibt eine ganze Anzahl von Schluckstörungen, so z.B. ein Kloßgefühl
im Hals oder auch Halsschmerzen wie die Angina, die alle das Gefühl
des Nicht-mehr-schlucken-Könnens vermitteln. In solchen Fällen
sollte sich der Betroffene immer fragen: »Was gibt es zur Zeit in
meinem Leben, was ich nicht schlucken kann oder nicht schlucken will?«
Unter den Schluckstörungen gibt es noch eine recht originelle Variante,
nämlich das »Luftschlucken«, auch »Aerophagie«
genannt, was wörtlich »Luftfressen« heißt. Der Ausdruck
macht deutlich, was hier geschieht. Man will etwas nicht schlucken, nicht
einverleiben, täuscht aber Bereitwilligkeit vor, indem man »Luft
schluckt«. Dieser vertuschte Widerstand gegen das Schlucken äußert
sich dann etwas später als Aufstoßen und rektaler Luftabgang
(vgl. »gegen etwas anstinken«).
Haben wir die Nahrung geschluckt und in uns hineingenommen, so kann
sie sich dennoch als schwer verdaulich herausstellen und einem wie ein
Stein im Magen liegen. Ein Stein ist aber ähnlich wie der Kern ,-
ein Symbol für ein Problem (so gibt es auch den Stein des Anstosses).
Wir wissen alle, wie ein Problem im Magen liegen und den Appetit verderben
kann. Der Appetit ist in höchstem Maße von der psychischen Situation
abhängig. Viele Redewendungen zeigen diese Analogie zwischen den psychischen
und somatischen Abläufen: Das hat mir den ganzen Appetit verschlagen,
oder: Wenn ich daran denke, wird mir ganz übel oder auch: Mir wird
schon schlecht, wenn ich ihn nur sehe. Übelkeit signalisiert Ablehnung
von etwas, was wir nicht haben wollen und das uns deshalb quer im Magen
liegt. Auch wildes Durcheinanderessen kann zu Übelkeit führen.
Das gilt nicht nur auf der physischen Ebene - auch in sein Bewußtsein
kann der Mensch zu viel Unpassendes gleichzeitig hineinstopfen, so
daß es ihm nicht bekommt, weil er es nicht verdauen kann.
Die Übelkeit erfährt ihre Steigerung im Erbrechen der Nahrung.
Man entledigt sich der Dinge und Eindrücke, die man nicht haben, nicht
einverleiben, nicht integrieren will.. Erbrechen ist ein massiver Ausdruck
von Abwehr und Ablehnung. So sagte der jüdische Maler Max Liebermann
angesichts der Zustände in Politik und Kunst nach 1933: »Ick
kann ja nich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!«
Erbrechen ist »Nicht-Akzeptieren«,. Ganz deutlich
wird dieser Zusammenhang auch bei dem bekannten Schwangerschaftserbrechen.
Hierin äußert sich die unbewußte, Abwehr gegen das Kind
bzw. gegen den männlichen Samen, den man sich nicht »einverleiben«
wollte. In der Verlängerung dieses Gedankens kann das Schwangerschaftserbrechen
auch eine Ablehnung der eigenen weiblichen Rolle (Mutterschaft) ausdrücken.
Gut nachvollziehbar ist das Thema »Symptom als Machtäußerung«
auch beim Bettnässen. Steht ein Kind tagsüber so stark unter
Druck (Eltern, Schule), daß es weder loslassen noch seine eigenen
Ansprüche vertreten kann, so löst das nächtliche Bettnässen
gleichzeitig mehrere Probleme auf einmal: Es verwirklicht das Loslassen
als Antwort auf den erlebten Druck und stellt gleichzeitig eine Gelegenheit
dar, die sonst so mächtigen Eltern in die Hilflosigkeit zu verbannen.
Über das Symptom kann das Kind, sicher getarnt, all jenen Druck wieder
zurückgeben, den es tagsüber empfängt. Gleichzeitig sollte
man die Beziehung des Bettnässens zum Weinen nicht übersehen.
Beide dienen der Entladung und Entlastung eines inneren
Drucks durch Loslassen. Man könnte daher Bettnässen
auch als »unteres Weinen« bezeichnen.
Auch bei allen anderen Blasensymptomen sind die bisher besprochenen
Themenbereiche beteiligt. Bei der Blasenentzündung zeigt das Brennen
beim Wasserlassen sehr eindeutig, wie schmerzhaft das Loslassen vom Patienten
erlebt wird. Häufiger Harndrang, bei dem jedoch gar kein Urin oder
nur geringe Mengen ausgeschieden werden, ist Ausdruck für die absolute
Unfähigkeit, trotz des Druckes loszulassen. Es sollte bei all diesen
Symptomen nicht übersehen werden, daß die Stoffe bzw. Themen,
von denen man loslassen sollte, allesamt überlebt sind und nur noch
Ballast darstellen.
Dieses auch als Panaritium bezeichnete Krankheitsbild kann sowohl an
den Finger- wie an den Fußnägeln auftreten. Das Bett des Nagels,
der Raum, aus dem er wächst und sich ernährt, ist eitrig entzündet.
Entzündung in dieser Gegend verkörpert einen Konflikt um die
Heimat der Aggression bzw. Vitalität. Ähnlich wie bei der Zahnfleischentzündung
(Gingivitis) ist das Thema Urvertrauen angesprochen. Die Aggressionswerkzeuge,
Krallen und Zähne, brauchen eine gesunde Grundlage um ihrer Bestimmung
gemäß aggressiv werden zu können. Analog braucht ein Mensch
Urvertrauen, um seine Aggression, seine Vitalität und Energie zum
Ausdruck bringen zu können.
Wenn Kindern Selbstvertrauen und vor allem Vertrauen in die Eltern
fehlt, trauen sie sich nicht, aggressiv zu sein. Was wie ausgesprochen
brave Anhänglichkeit aussieht, ist oft Mangel an Zutrauen. Trauen
sie sich dagegen einiges, was die Eltern gar nicht schätzen, bekunden
sie damit Vertrauen, denn selbst wenn sie ihrer Aggression, bzw. Vitalität
freien Lauf lassen, können sie auf die Eltern rechnen. Ständiges
Am-Rockzipfel-der-Mama-Hängen, verrät dagegen Angst und mangelndes
Vertrauen.
Wenn zum Konflikt im Nagelbett um die Basis der Aggression Fingernägelbeißen
hinzukommt, ist die Situation noch klarer. Das Kind kann sich nicht trauen,
sein Leben in Angriff zu nehmen und die Krallen zu zeigen. Die Lebensenergie
findet nicht genügend Ventile, und so richtet es seine Aggression
gegen sich und kastriert sich die Aggressionswerkzeuge. Statt froh zu sein,
daß sich die Bissigkeit nicht gegen sie richtet, greifen die Eltern
nicht selten zu Strafen. Bei dem Versuch, ihrem Kind die »Unart«
auszutreiben, treiben sie das Aggressionsproblem tiefer in den Schatten.
Es ist gerade die Ehrlichkeit des Symptoms, die Erzieher auf die sprichwörtliche
Palme bringt. Jeder kann nun sehen, wie vitalitätsfeindlich ihr Kind
lebt.
Manche Kinder gehen in solchen Situationen so weit, auch ihre Fußnägel
abzunagen. Was könnte ihren Hunger auf Aggression deutlicher machen'?
Hält sieh das Symptom bis in jugendliche oder sogar erwachsene Zeiten,
zeigt das den weiterbestehenden Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten eigener
Vitalität. Nicht selten legt es sich auch, um später in anderem
Gewande, etwa in allergischer Form, wieder aufzutauchen.
Da die Nägel oft fast bis an die Basis abgeknabbert werden, liegen
die Fingerspitzen ungeschützt da und Entzündungen nahe. Das typische
Panaritium oder Nagelgeschwür betrifft aber an sich intakte Nägel,
die plötzlich eine Tendenz entwickeln, einzuwachsen. Sie bohren sich
ins eigene Fleisch und eröffnen so den Krieg. Die Situation ist meist
nicht so chronisch wie beim Nägelbeißen, sondern entzündet
sich an einem akuten Konflikt. Allerdings gibt es Menschen, die immer wieder
auf diese Ebene der Auseinandersetzung um ihr Urvertrauen zurückgreifen.
Neben dem typischen Geschwür im Nagelbett gibt es andere Arten,
die bis auf die Knochen gehen können. Wenn Knochenhaut, Knochen oder
Sehnen betroffen sind, geht auch die zutage tretende seelische Problematik
entsprechend tiefer. Die Angreifer im physischen Sinn sind zumeist eiterbildende
Staphylokokken oder andere Bakterien im Rahmen einer sogenannten Mischinfektion.
Während man sich von diesen Erregern entzünden läßt,
bekommen die eigentlich erregenden Themen zu wenig Raum. Tatsächlich
könnte ein Mensch, der mit sich selbst im Krieg liegt bzw. dessen
Waffensysteme von innen und unten, sozusagen aus der eigenen Heimat, in
Frage gestellt werden, sich kaum verteidigen, geschweige denn von sich
aus offensiv werden. Schon das gewöhnliche Nagelbettgeschwür
kann bis zur Loslösung des Nagels gehen und damit einen Verlust der
Abwehrbereitschaft andeuten.
Die zeitweilig außer Gefecht gesetzten Krallen legen als Lernaufgabe
nahe, die eigene Vitalität und Aggression wieder auf bewußtere
Ebenen zu heben. Der Krieg um die körperlichen Waffensysteme sollte
auf Ebenen geführt werden, wo Lösungen möglich sind. Die
Waffen des Geistes bieten sich hier vor denen des Körpers an. Aber
selbst bewußtes Krallen und Kratzen ist noch sinnvoller als das Kultivieren
von Nagelgeschwüren.
Fragen
Wo sollte ich meine Krallen zeigen und traue mich nicht?
Wo reiße ich mir unbewußt etwas unter den Nagel?
Inwieweit macht mich meine Angst vor Aggression wehrlos?
Wo bin ich im übertragenen Sinn Opfer meiner Aggression?
Wie könnte ich Vertrauen finden zu meiner Kraft und Vitalität?
Wo lägen sinnvolle Möglichkeiten für meine aggressive
Abwehrbereitschaft?
Wo ließe sich mein Hunger besser stillen?
Sprache ist etwas Fließendes - wir sprechen vom Redefluß
und von einem flüssigen Stil. Beim Stotterer fließt die Sprache
nicht. Er zerstückelt, zerhackt und kastriert sie. Will etwas fließen,
so braucht es dafür Weite - würde man einen Fluß durch
eine Düse zwängen, es entstünden Stau und Druck, und das
Wasser würde bestenfalls aus der Düse spritzen, aber nicht mehr
fließen. Der Stotterer hemmt den Fluß der Sprache durch eine
Enge im Hals. Wir sagten bereits früher, daß Enge und Angst
immer zusammengehören. Beim Stotterer sitzt die Angst im Hals. Der
Hals ist die (an sich schon enge) Verbindung und Durchgangspforte zwischen
Leib und Kopf, zwischen unten und oben.
An dieser Stelle sollten wir uns an all das erinnern, was wir im Kapitel
über die Migräne von der Symbolik des Unten und Oben gesagt haben.
Der Stotterer versucht, den Hals als Durchgangspforte so eng wie möglich
zu machen, um dadurch besonders gut kontrollieren zu können, was von
unten nach oben aufsteigt bzw. dazu analog, was aus dem Unterbewußten
ins Oberbewußtsein aufsteigen will. Es ist das gleiche Verteidigungsprinzip,
das wir bei alten Befestigungsanlagen vorfinden, die nur ganz kleine, gut
kontrollierbare Durchlässe besitzen. Solche gut kontrollierbaren Einlässe
und Eingänge (Grenzen, Saaltüren usw.) lassen immer einen Stau
entstehen und hindern den Fluß. Der Stotterer kontrolliert im Hals,
denn er hat Angst vor dem, was von unten aufsteigt und bewußt werden
will - er würgt es im Hals ab.
Wir kennen den Ausdruck unter der Gürtellinie; damit ist eigentlich
der »anstößige und unsaubere« Sexualbereich gemeint.
Die Gürtellinie dient als Grenze zwischen dem gefährlichen unteren
Bereich und dem erlaubten und sauberen oberen Bereich. Diese Grenze hat
der Stotterer bis auf Halshöhe geschoben, denn er empfindet die gesamte
Leiblichkeit als gefährlich und nur den Kopf als klar und sauber.
Ähnlich wie der Migränepatient verschiebt auch der Stotterer
seine Sexualität in den Kopf, und so krampft man oben wie unten. Man
will nicht loslassen, sich nicht öffnen für die Forderungen und
Triebansprüche des Leiblichen, deren Druck immer stärker und
beängstigender wird, je länger man sie unterdrückt. Das
Symptom des Stotterns wird letztendlich als Ursache für Kontakt- und
Partnerschwierigkeiten herangezogen - und so schließt sich wieder
der Teufelskreis.
Nach dem gleichen Prinzip der Verdrehung wird auch bei stotternden
Kindern die auch immer vorzufindende Hemmung als Folge des Stotterns interpretiert.
Stottern ist jedoch lediglich ein Ausdruck der Hemmung - das Kind ist gehemmt
- das zeigt sich auch im Stottern. Das stotternde Kind hat Angst, etwas
Andrängendes herauszulassen, ihm freien Lauf zu lassen. Es hemmt den
Fluß, um es besser kontrollieren zu können. Ob man dieses Andrängende
Sexualität und Aggression nennen will oder bei einem Kind andere Ausdrücke
bevorzugt, ist gleichgültig. Der Stotterer sagt nicht frei heraus,
was kommt. Sprache ist ein Mittel des Ausdrucks. Wenn man aber dem, was
von innen nach außen drückt, einen Druck entgegensetzt, so zeigt
man Angst vor dem, was da zum Ausdruck drängt. Man ist nicht mehr
offen. Gelingt es einem Stotterer, sich wirklich einmal zu öffnen,
so ergießt sich ein gewaltiger Strom von Sex, Aggression und Sprache.
Wenn alles Unausgesprochene ausgesprochen ist, gibt es keinen Grund mehr
zum Stottern.